Warum es (auch diesmal) keinen Politikwechsel geben wird - Deutschland nach der Wahl – aus Sicht einer solidarischen Moderne
Von Stephan Lessenich, Anke Martiny und Thomas Seibert
Anke Martiny und Thomas Seibert sind Vorstandsmitglieder im Institut Solidarische Moderne (ISM), Stephan Lessenich ist einer der SprecherInnen des ISM-Kuratoriums
Stell Dir vor, es gibt eine linke Mehrheit und keiner will sie. So oder so ähnlich stellt sich die politische Situation in Deutschland nach dem 22. September dar. Rein rechnerisch hat die politische Linke eine Mehrheit der Mandate im Bundestag erreicht, deutlicher noch im hessischen Landtag. Die Wählerinnen und Wähler haben das parteipolitische crossover – die parlamentarische Zusammenarbeit der Parteien links der Mitte – mit ihren Stimmen ermöglicht. Aber haben sie damit auch faktisch für eine Politik des sozialökologischen Umbaus dieser Gesellschaft gestimmt? Werden SPD, Grüne und Die Linke aus dem Wählervotum einen politischen Gestaltungsanspruch ableiten und entsprechende Regierungsmehrheiten bilden? Sind die genannten politischen Parteien überhaupt in der Verfassung, ein linkes Reformprojekt anzugehen? Man muss kein Hellseher sein, um die Prognose zu wagen: zumindest im Bund wohl eher nicht. Nicht zum ersten Mal in den letzten Jahren stehen wir vor einem politischen Umbruch, der möglich ist, aber nicht eintritt.
Seien wir ehrlich: Dass dem so ist, überrascht eigentlich niemanden mehr. Der Bundesregierung unter Angela Merkel ist es erfolgreich gelungen, die Erleichterung und Zufriedenheit gesellschaftlicher Mehrheiten darüber, dass Deutschland einstweilen gut durch die Krise gekommen ist, für sich zu vereinnahmen. Sie hat es verstanden, die massiven sozialen Verwerfungen in Europa, die eine unter deutscher Aufsicht betriebene Austeritätspolitik hervorgerufen hat, im Wahlkampf vergessen zu machen. Zugleich ist es in den letzten Monaten zu keinem Zeitpunkt gelungen, einen politischen Gegenentwurf zur konservativ-liberalen Krisenpolitik zu entwickeln: Eine ausgearbeitete und nachvollziehbare linke Alternative war nicht in Sicht. Der – so gesehen – glückliche Zufall einer numerischen linken Mehrheit im Bund wie auch in Hessen wird sich daher, vermutlich zur Freude der großen bürgerlichen Regierungspartei, auch dieses Mal – wie zuvor schon in einigen Bundesländern – nicht in ein linkes Reformprojekt übersetzen lassen.
Warum das so ist, warum der gesellschaftspolitischen Notwendigkeit eines grundlegenden Richtungswechsels realpolitisch kein linkes Reform- und Regierungsprojekt entspricht, hat das Institut Solidarische Moderne bereits kurz vor der Wahl im Rahmen seiner diesjährigen Summer Factory analysiert. Es lassen sich mindestens fünf Gründe ausmachen, weshalb es - zumindest im Bund - nach wie vor nicht zu Rot-Rot-Grün kommt.
Erstens: Es fehlt, wie gesagt, ein gemeinsames linkes Projekt. Was gesellschaftlich auf der Hand liegt , wird nicht konsequent ausgesprochen, geschweige denn kooperativ angegangen: der anstehende, unausweichlich nötige sozial-ökologische Umbau einer über Jahrzehnte hinweg neoliberalisierten und entdemokratisierten Wachstumsgesellschaft mit dem Ziel einer solidarischen Moderne. Für dieses politische Megaprojekt fehlt nicht nur die ausgearbeitete Programmatik. Es fehlen auch die griffigen Formeln, die positiven Symbole und nicht zuletzt das politische Personal, um die notwendige gesellschaftliche Zustimmung für eine solidarisch-moderne Transformation zu mobilisieren. Die 2013 präsentierte rot-grüne Option ist vor allem eines gewesen: eine notdürftig wiederbelebte Neuauflage jener politischen Konstellation, deren Erstauflage im Bund am Ende linke Reformprojekte unglaubwürdig gemacht hat.
Zweitens: Das von Merkel und den Massenmedien augenscheinlich abgelegte Schweigegelübde über die wahren Nutznießer der deutschen – und damit europäischen Krisenpolitik kann angesichts ihrer existenziellen Bedeutung für hunderte Millionen Menschen in Europa nur als skandalös bezeichnet werden. Doch nicht weniger bedrückend ist die Tatsache, dass es der politischen Linken nicht gelungen ist, eben dieses konspirative Schweigen zu politisieren. Die wohl deprimierendste Erfahrung des nun beendeten Wahlkampfs war dessen nationale Borniertheit. Um keinen falschen Eindruck zu erwecken: Weder ist es ein Skandal, dass es gesellschaftlichen Mehrheiten in Deutschland relativ gut geht, noch sind die relativ gut gestellten Wählerinnen und Wähler dafür zu verurteilen, dass sie ein Interesse daran haben, dass dies auch in Zukunft so bleiben möge – und daher jene wählen, die ihnen die größte Gewähr dafür zu bieten scheinen. Skandalös ist vielmehr, wenn die politisch Verantwortlichen verschweigen, dass die relative Krisenresistenz der deutschen Wirtschaft und die damit gegebenen Möglichkeiten der Wohlstandssicherung in Deutschland auf Kosten und zu Lasten anderer europäischen Gesellschaften und ihrer Bürger und Bürgerinnen gehen. Und vollkommen inakzeptabel ist es, wenn auch linke Parteien meinen, für die Interessen anderer, für die Idee und eine Politik der internationalen – europäischen wie globalen – Solidarität lasse sich im entpolitisierten Deutschland politisch niemand mehr begeistern.
Drittens: Auch wenn manche im parlamentarischen Politikbetrieb es nicht glauben oder ungern hören mögen – Parteien und Parteipolitik alleine reichen nicht, um einen radikalen gesellschaftlichen Wandel anzustoßen. Sicherlich braucht dieser Wandel auch parteipolitische Aktivität. Doch eine gesellschaftspolitische Transformation können Parteien nicht allein inszenieren, sie muss vielmehr von breiten gesellschaftlichen Koalitionen getragen werden: von Akteursnetzwerken in Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbänden, NGOs und Bewegungsszene, Kultur und Wissenschaft. Die Wählerschaft für einen gesellschaftlichen Wandel wird sich nicht nur aus der „Mitte“ rekrutieren – zumal dann nicht, wenn man diese politisch verunsichert, beziehungsweise ihre soziale Verunsicherung politisch verstärkt. Sie wird sich vielmehr auch aus den breiter gewordenen und breiter werdenden „Rändern“ der Gesellschaft speisen müssen. Kurz: ohne Einbettung in eine außerparlamentarische Koalition kein Rot-Rot-Grün. Zudem bedarf es zur Realisierung dieser Option aber einer Öffentlichkeit, die sich auf der Höhe der gesellschaftlichen Herausforderungen und der eigentlich anstehenden politischen Auseinandersetzungen befindet. Eine mediale Öffentlichkeit, die sich häufig damit begnügt, tatsächlichen oder vermeintlichen Wahlkampfmanövern nachzuspüren und parteipolitische Marketingstrategien zu evaluieren, ist der sichtbare Ausdruck einer in vielen gesellschaftlichen Bereichen fortschreitenden Entdemokratisierung. Nicht nur die Politisierung des Wahlkampfs, sondern überhaupt die Repolitisierung der Politik ist daher einer der vorrangigen Schritte zur gesellschaftlichen Transformation.
Viertens: Wie wichtig die Einbettung eines Reformprojekts in eine in die Zukunft weisende außerparlamentarische Reformkoalition ist, lässt sich auch historisch belegen. Bekanntlich konnten sich weder die sozial-liberale Wende unter Willy Brandt noch die erste rot-grüne Koalition in Hessen auf die „Mitte“ stützen, sondern nutzten ihren bloß numerischen Vorsprung primär im Vertrauen auf avancierte gesellschaftliche Milieus. Im Zurückbleiben der Mitte hinter dem politisch Möglichen kommt zum Ausdruck, dass die bestehenden Verhältnisse auf Machtökonomien beruhen, die aller Parteipolitik voraus liegen und ihren Grund im Alltagsleben haben: zuerst und zuletzt in der Nötigung, daseigene Überleben eben unter den bestehenden Verhältnissen sichern zu müssen. Doch so prekär eine Politik links der Mitte auch sein wird und so unstrittig auch ist, dass ein Reformprojekt nur durchgesetzt werden kann, wenn es auch die Unterstützung der Mitte gewinnt: begonnen und eingeleitet wird ein Politikwechsel immer von den Rändern. Auch hier ist die Repolitisierung der Politik ein unumgänglich erster Schritt, der außerhalb der Parteien, aber eben in ihnen selbst gewagt werden muss.
Fünftens: Eine breite mediale Front stemmt sich gegen ein linkes Projekt. „Die Linke“ ist als Partei im öffentlichen Diskurs weitgehend marginalisiert, die Möglichkeit einer rot-rot-grünen Alternative wird stets aufs Neue – und immer wieder erfolgreich – dämonisiert. Der massenmediale Kampf geht immer weiter. In der postdemokratischen Mediendemokratie ist gegen Halsketten und Handgesten eben kein Habermas gewachsen. Zugestanden: Die Parteien bewegen sich auf ebenso glattem wie dünnem Eis. Sie haben allesamt durch ihre politischen Drehungen um sich selbst und die Achsen ihres Eigeninteresses dem Parteiensystem und der politischen Glaubwürdigkeit des Parlamentarismus geschadet. Doch kommt gerade nach dieser Wahl niemand mehr um die Einsicht herum, dass es eine sozialökologische Transformation nur mit der Partei „Die Linke“ und nur eingebettet in eine eigenständige inner- und außerparlamentarische Reformkoalition geben kann.
Das Institut Solidarische Moderne (ISM) ist die Plattform, auf der seit seiner Gründung im Jahr 2010 rund 1.500 Mitglieder – darunter zahlreiche MdEP, MdB und MdL, zudem diverse ProfessorInnen, VertreterInnen der linken politischen Stiftungen, JournalistInnen und namhafte RepräsentantInnen unterschiedlicher Organisationen wie Pro Asyl, Transparency International oder ver.di – im geschützten Raum solidarischer Kommunikation ein linkes gesellschaftspolitisches Projekt jenseits parteipolitischer Zugehörigkeiten und Abhängigkeiten erarbeiten. Sie geben Anstöße für eine gesellschaftliche Reformpolitik, betreiben Vertrauensbildung zwischen den AkteurInnen der politischen Linken und erproben die Etablierung eines neuen Politikstils. Die neuen politischen Machtverhältnisse bedeuten für uns als Mitglieder des ISM, neue Themen zu setzen, neue Personen zu integrieren, neue Strukturen aufzubauen und neue Methoden der Vertrauensbildung zu nutzen. Eines bedeuten sie sicher nicht: das langfristig angelegte Projekt einer solidarischen Moderne zugunsten kurzfristiger Regierungsoptionen zu opfern. Wir wollen den sozial-ökologischen Umbau in Deutschland – und ein solidarisches Deutschland in einem redemokratisierten Europa. In diesem Sinne gilt für uns: nach der Wahl ist vor der Wahl.
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