Die Rezession in Europa geht ihren Gang und fordert ihre Opfer. Dennoch legt die Euro-Finanzkrise seit einem halben Jahr Pause ein. Pause heißt: Italien und Spanien erhalten am Finanzmarkt wieder Kredit und zwar zu Zinsen, die gerade noch tragbar sind. Verantwortlich dafür sind Mario Draghi, der Präsident der Europäischen Zentralbank, und Wolfgang Schäuble, der deutsche Bundesminister der Finanzen. Draghi hat im Sommer glaubhaft versichert, im Notfall unbegrenzt Staatsanleihen dieser Länder zu kaufen. Die »Drohung« genügte, um die internationalen Finanzspekulanten zum Kauf dieser Anleihen zu motivieren. Schäuble hat Griechenland (und seinen Gläubigern) mit der Aussicht auf mehr Geld aus Deutschland den Staatsbankrott und den Austritt aus der Euro-Zone erspart. Man tut beiden, Draghi und Schäuble nicht Unrecht, wenn man darauf verweist, daß sie diesen Politikschwenk nicht hätten vollziehen können, wenn die deutsche Kanzlerin, Frau Angela Merkel (ihrerseits im Auftrag der deutschen Kapitalistenklasse) ihnen dies nicht ausdrücklich gestattet hätte.
Ist die Euro-Finanzkrise damit erledigt? Nein. Selbst Draghi, Schäuble und Merkel wissen, daß ihre Worte nur Hilfsmaßnahmen waren. An der Tatsache der falschen Konstruktion des Euro, dem verheerenden Wettbewerb völlig ungleicher EU-Länder um die Gunst des Kapitals, an der Überdimensioniertheit und Fragilität des Finanzsektors, an der immer ungleicher werdenden Verteilung und an der weltweiten Wirtschaftskrise ändern ihre Hilfsmaßnahmen zunächst nichts.
»Fragilität« des Finanzsektors – man kann es auch anders ausdrücken: Es ist die Anfälligkeit der Banken zu kollabieren. Sie ist immer noch da und dürfte angesichts der fortschreitenden Rezession nicht geringer werden. Dagegen haben die Regierungen der Euro-Zone im vergangenen Jahr den Plan einer »Bankenunion« entwickelt. Damit verfolgen sie zum ersten Mal in dieser Krise einen politischen Ansatz, der einen Ausgleich zwischen den Ländern verfolgt. Auf perverse Art soll dabei eine gewisse Solidarität zwischen den Ländern hergestellt werden. Das widerspricht diametral dem Konstruktionsprinzip der EU allgemein und der Währungsunion im besonderen, die auf dem Wettbewerb zwischen Ländern fußen. Statt dessen soll das Problem, das in einem Land auftaucht, von einer gemeinsamen Institution und aus gemeinsam erbrachten Finanzmitteln gelöst werden. Ein weiterer Vorteil dieses Plans besteht darin, daß er sich nicht auf die Staatshaushalte konzentriert und deren Defizite, sondern daß er auf die eigentlich schwache Stelle des wackligen Staatsfinanzkomplexes, nämlich die Banken, zielt.
So schön das klingt, so bleibt es doch pervers. Denn die neue Solidarität zwischen den Euro-Ländern bezieht sich ausgerechnet auf die Banken. Es ist ein Bankenrettungsplan, der den Zweck hat, das Finanzvermögen auch in den ökonomisch schwachen Ländern zu retten. Wenn man konstatiert, daß die aktuelle Weltwirtschaftslage immer noch dadurch charakterisiert ist, daß das Geldvermögen im Vergleich zum produktiv eingesetzten Realkapital viel zu umfangreich und damit der Teil des Profits, der in den Finanzsektor fließt, zu hoch ist, dann muß man die Installation eines Mechanismus zwischen den Euro-Staaten, der diesen Tribut an das Finanzkapital absichert, als üble, ja verheerende Entwicklung begreifen. Die Profiteure sehen das freilich und wenig überraschend anders.
Die freundliche Stimmung an den Finanzmärkten hat neben Draghis und Schäubles Eingreifen auch mit diesem Plan der Bankenunion zu tun. Nicht sicher ist allerdings, ob der Plan auch Realität wird. Wäre das der Fall, dann entfiele auch ein Sondervorteil, den deutsche Kapitalisten gegenüber ihren Konkurrenten im Euro-Ausland genießen. Der Vorteil besteht im günstigen Zugang zu Kapital, das heißt, deutsche Kapitalisten erhalten Kredit zu niedrigeren Zinsen als andere. Diesen Vorteil zugunsten des Zusammenhalts der Währungsunion auch nur teilweise aufzugeben, wäre ein untypisches Verhalten der deutschen Kapitalistenklasse und ihrer Regierung.
Bemerkenswert an den damaligen national getrennten Rettungsaktionen ist immerhin, daß sie gegen das Ziel der EU verstießen, einen einheitlichen Kapitalmarkt in Europa zu schaffen. Man hatte angenommen, daß allein die Tatsache, daß die Europäische Zentralbank allen Banken mit Sitz im Euro-Gebiet Kredit zum überall gleichen Leitzins gewährt, schon für eine Annäherung der Finanzierungsbedingungen der Banken sorgen würde. Bis zum Ausbruch der Finanzkrise 2007 war das auch der Fall. Danach setzte Mißtrauen ein. Die Banken verließen sich für ihre kurzfristige Finanzierung immer mehr auf die EZB, die ihnen kurzfristigen Kredit in praktisch jeder gewünschten Höhe gewährte. Die langfristige Finanzierung wurde jedoch immer unsicherer und differenzierte sich nach nationalen Standorten. Die Schönwetterveranstaltung sinkender und sich angleichender Zinssätze war beendet. Die nationalen Rettungsaktionen zugunsten jeweils nationaler Banken im Herbst 2008 bedeutete eine Renationalisierung in der Euro-Zone. Die 2012 erklärte Absicht der Regierungen, eine Bankenunion schaffen zu wollen, heißt also, sofern sie diesen Beschluß wirklich ernst meinen, daß sie die 2008 national vorgenommenen Notoperationen nun für einen Fehler halten.
Man kann also schlußfolgern, daß die deutsche Seite dem Beschluß zur Bankenunion nur deshalb zustimmte, weil sie die Überlebenschancen der Währungsunion andernfalls als sehr gering einschätzte. Ein kurzer Rückblick weist das aus: Im Herbst 2011 stand die »freiwillige« Umschuldung der griechischen Staatsschulden bevor. Mit dem von außen erzwungenen Rücktritt der Regierung Papandreou und bevorstehenden Neuwahlen wurde die politische Lage in Griechenland aus der Sicht der bestimmenden Euro-Regierungen immer unübersichtlicher. So gelobten die Euro-Lenker, ihre jeweils heimischen Banken gegenüber einer Staatspleite plus Euro-Austritt Griechenlands wetterfest zu machen. Die Bundesregierung reaktivierte das alte Bankenrettungsprogramm von 2008 und reservierte für diesen Zweck wie damals 480 Milliarden Euro. Ohne nennenswerten Widerstand verabschiedete das Parlament Anfang 2012 diesen Rettungsfonds, dessen Belastung für den Bundeshaushalt potentiell deutlich höher ist als die Anteile des Bundes für die europäischen Rettungsfonds EFSF und ESM. Die wenigsten anderen Euro-Länder konnten es sich nicht leisten, so zu handeln, zumal jene nicht, deren Banken aktuell in Schwierigkeiten waren.
Im Zuge der langsamen Wiedereintrübung der Weltkonjunktur und im Gefolge der mit Brüssel abgesprochenen Austeritätspolitik der Regierung Rajoy begannen zugleich einige spanische Banken, sichtbar zu wackeln. Spanien hat besonders viele und besonders große Banken, vor allem dank des bis zum Ausbruch der Finanzkrise ausufernden Immobilienbooms. Die Verschuldung des spanischen Staates war zwar zu Beginn der Krise geringer als die Deutschlands. Eine umfassende Rettung der spanischen Banken aber hätte seine Finanzen überfordert. Und eine umfassende Zwischenfinanzierung des spanischen Staates und der spanischen Banken wie bei den bisherigen Notoperationen in den Fällen Griechenland, Portugal und Irland über die offiziellen Rettungsschirme EFSF oder ESM wäre an die Grenzen dieser Fonds gestoßen. Außerdem hätte es den Schuldenstand des spanischen Staates dramatisch erhöht und es dem Land noch schwerer gemacht, am Kapitalmarkt zu tragbaren Zinsen an frisches Geld zu kommen. In Erwartung dessen stiegen die Risikoprämien für spanische (und italienische) Anleihen steil an.
Zur Vorbedingung für die Installation der Bankenrettung wurde in der entscheidenden Gipfelkonferenz der EU am 28./29. Juni 2012 in Brüssel auf Drängen der deutschen Regierung eine wirksame europäische Bankenaufsicht erhoben. Auch dies war ein Eingeständnis vorangegangener Fehlentscheidungen. Erst Anfang 2011 war mit großem Pomp die European Banking Authority (EBA) in London installiert worden. Sie war Resultat der deklarierten Bemühungen der EU, nach dem Desaster der Finanzkrise die gesamte, bisher nur national organisierte Aufsicht über den Finanzsektor zu reformieren und überhaupt eine effektive Aufsicht auf europäischer Ebene zu schaffen. Entgegen den Behauptungen der Regierenden und der Parlamentarier in Europa wurde keine wirkliche Finanz- und Bankenaufsicht geschaffen sondern nur eine Reihe von Koordinierungsgremien.
Eine wirkliche Bankenaufsicht hätte die Macht, bei Gefahr im Verzug eine Bank zu schließen, ihre Geschäftsführer zu entlassen oder ihre Handlungsmöglichkeiten einzuschränken. Tut sie es nicht, ist der Staat, in dessen Namen sie agiert, praktisch gezwungen, die Bank zu stützen, damit das Finanzsystem nicht zusammenbricht. Der Mechanismus wurde zu Genüge in der Finanzkrise durchexerziert. Diese Durchgriffsrechte, Entscheidungskompetenzen und Initiativrechte hat die 2011 geschaffene und immer noch agierende EBA nicht. Vielmehr ist sie ein Gremium, das die Koordination der nationalen Aufsichtsbehörden übernehmen und in Streitfällen zu einer Entscheidung beitragen soll. Den über die Grenzen hinweg tätigen Banken stand und steht auch nach Gründung der EBA und seiner Schwesteraufsichtsbehörden für Versicherungen und Wertpapierhändler keine transnationale Aufsicht auf EU- oder Euro-Ebene gegenüber.
Die Bankenaufsicht in der Hand der EZB wäre die Komplettierung dessen, was Jacques Attali, der ehemalige Berater des französischen Präsidenten François Mitterrand, als »technokratischen Staatsstreich« (FAZ, 21.1.2013) bezeichnet hat. Attali stellt dabei darauf ab, daß die EZB-Gremien darüber entscheiden, welches Land zu welchen Konditionen weiteren Kredit erhält und welche Wirtschafts- und Verteilungspolitik es dafür betreiben muß. Die Entscheidung darüber, welche Bank unter welchen Konditionen überlebt, welche hochgepäppelt wird und welche abgewickelt werden soll, all das soll künftig, wenn die Gipfelbeschlüsse Wirklichkeit werden, ebenfalls von diesem verfassungs- und vertragsgemäß niemandem verantwortlichen Expertengremium gefällt werden. Die »Bankenunion« wäre also die Krönung eines solchen Staatsstreiches. Die Regierungen übergeben dabei die letzten Teile ihrer Macht, Wirtschaftspolitik zu betreiben, an einen kleinen Trupp von Technokraten, die keinen Zweifel daran lassen, daß sie diese Macht planvoll im Sinne des zu beaufsichtigenden Finanz- und Spekulationskapitals ausüben werden.
Eine kleine – vielleicht optimistisch stimmende – Schlußbemerkung: Noch ist die euro-weite Bankenunterstützungsmaschine nicht Realität. Auf dem Weg dahin müssen noch viele kontroverse Entscheidungen getroffen werden. Vor allem aber: Der Sondervorteil niedriger Zinsen, den deutsche Unternehmen derzeit genießen, wäre dahin. Schwer vorstellbar, daß eine deutsche Regierung dem zustimmt.