Viel zu bescheiden
UNBEKANNTES TERRAIN - Die Gewerkschaften müssen in den neuen Tarifrunden über sich hinauswachsen, wollen sie die allgemeine Lohnsenkung stoppen
Ans Eingemachte ist es schon lange gegangen. Seit mehr als 15 Jahren sinkt das allgemeine Lohnniveau in der BRD, begleitet vom Abbau der Transfereinkommen und sozialstaatlichen Leistungen. Begründet wurde dieser erbärmliche Trend mit den Sachzwängen eines alternativlosen Weltkapitalismus. Eigentlich nur ein Beweis dafür, dass diese Form des abstrakten Reichtums immer wieder konkrete Armut produziert. Aber für solche Grundsatzfragen hatten die Gewerkschaften leider kein Sensorium - sie mutierten zu bloßen Mitverwaltern der sozialen Krise. Von der in Deutschland traditionell fehlenden Widerstandskultur ganz zu schweigen. Der Stolz auf die wenigsten Streiktage in der westlichen Welt wurde zum Bumerang, denn der noch amtierende Exportweltmeister geriet ans untere Ende der europäischen Einkommensskala. Es folgte die Abstimmung mit den Füßen: dramatischer Mitgliederschwund bei den Einheitsgewerkschaften, mehr deutsche Gastarbeiter in den benachbarten EU-Ländern, das Aufkommen kampflustiger kleiner Berufsorganisationen.
Im Zeichen des vielbeschworenen Aufschwungs soll 2008 die Trendwende eingeleitet werden. Der Druck aus der Mitgliedschaft ist so groß, dass die Gewerkschaften für die gerade beginnenden Tarifrunden mit sieben bis neun Prozent die höchsten Forderungen seit Jahren anmelden. Sogar die Regierungs-SPD, die wegen stattfindender Wahlkämpfe angeblich ihr soziales Herz wiederentdeckt hat, drängt auf "ordentliche Lohnerhöhungen". Die bejubelte neue Prosperität soll endlich "unten" ankommen, bröckelt aber schon wieder. Die pazifische Defizitkonjunktur, von der die europäische Exportindustrie bisher mitgenommen wurde, steht auf tönernen Füßen. Die von der US-Hypothekenkrise ausgehende weltweite Schieflage von Finanzinstitutionen droht den Konjunkturfrühling zu verhageln, während als Kehrseite der Finanzblasen-Ökonomie das Inflationspotenzial steigt und die Notenbanken lähmt.
Statt eines Aufschwungs nach Wirtschaftswundermuster könnte die Stagflation der siebziger Jahre mit einiger Wucht wiederkehren und damit die fast schon vergessene Debatte über eine angebliche Lohn-Preis-Spirale. Bevor die Tarifrunden überhaupt begonnen haben, warnen der EU-Notenbankpräsident Jean-Claude Trichet und sämtliche "Wirtschaftsweisen" bereits vor zu hohen Lohnabschlüssen, von denen die Teuerung zusätzlich angetrieben würde. Die Gewerkschaften müssten sich also ziemlich warm anziehen, wollen sie den Lohnsenkungs-Trend wirklich stoppen. Eingeschworen auf die alte Kompromisspolitik erwartet das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung 2008 eine klägliche Reallohnsteigerung von gerade einmal 0,7 Prozent. Wahrscheinlich werden "maßvolle" Abschlüsse vollständig von der Inflation aufgefressen. Lohnt es sich, dafür symbolische Warnstreiks zu inszenieren und mit Trillerpfeifen auf die Straße zu gehen?
Das gewerkschaftliche Dilemma besteht nicht nur in der Unsicherheit der Weltkonjunktur. Die neue Massenarmut ist bekanntlich auch Resultat einer strukturellen Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse. Mit dem allgemein abgesenkten Einkommensniveau hat zugleich eine gewaltige Lohnspreizung stattgefunden, die von den Gewerkschaften durch Akzeptanz von Niedriglöhnen bei ausgelagerter Produktion mitgetragen wurde. Ganz nach dem geltenden Motto: Jede "Arbeit" ist besser als keine. Auch der teilweise Rückgang der Arbeitslosenrate beruht vorrangig auf einer Ausweitung der unterbezahlten Zeitarbeit, wie sie von der Arbeitsverwaltung forciert wurde. Nahezu der gesamte Dienstleistungssektor ist bereits prekarisiert; die Nadelstich-Streiks von ver.di im Einzelhandel wurden zuletzt nicht einmal bemerkt.
Die fatale Konsequenz: Soweit ein "Schluck aus der Pulle" genehmigt wird, soll er sich laut Handelsblatt auf die "echten Boombranchen" wie den Maschinenbau beschränken. Eine Widerstandslinie könnte nur dann gezogen werden, wenn die Gewerkschaften über ihren Schatten springen und zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte ihre Forderungen nicht mehr mit der falschen Objektivität konjunktureller Rahmenbedingungen begründen. Wer seine ganze Legitimation an den wackligen Aufschwung bindet, hat schon verloren. Die sozialen Lebensbedürfnisse von der ökonomistischen Sachzwang-Logik zu entkoppeln, das wäre freilich ein Schritt in unbekanntes Terrain. Praktisch könnte das heißen, die Forderung nach einem ausreichend hohen gesetzlichen Mindestlohn den Wahlkampf-Rhetorikern aus der Hand zu nehmen und mit den Tarifkämpfen zu verbinden; also die Schwelle zum politischen Massenstreik zu überschreiten. Das erst wäre das wirkliche Ende der Bescheidenheit.