Die Früchte der Reform
DOKUMENT DER WOCHE*Schröder und die Agenda 2010
Die Rede, die die Bundesrepublik verändern sollte, dauerte 90 Minuten. Als Kanzler Gerhard Schröder mit der Vorstellung seiner Agenda 2010 fertig war, gab es 90 Sekunden Beifall. Das war wenig für eine Regierungserklärung im Bundestag. Einigen Abgeordneten dämmerte an jenem 14. März 2003 bereits, was da kommen würde.
Fünf Jahre später - das rot-grüne Agenda-Bündnis ist von der großen Koalition der Agenda-Erben abgelöst - dominiert Schulterklopfen die Szene in den Regierungsparteien. SPD-Chef Kurt Beck spricht rückblickend von einem "Auftakt zu einem großen wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Erfolg", wohl wissend, dass es in seiner Partei auch Kritiker der Agenda 2010 gibt.
Der Freitag dokumentiert Auszüge aus Schröders damaliger Agenda-Rede und hat in neuen Studien und aktuellen Umfragen nachgeschaut, was aus den Ankündigungen geworden ist.
Schröder im März 2003
Ich möchte Ihnen heute Punkt für Punkt darlegen, welche Maßnahmen nach Überzeugung der Bundesregierung vorrangig ergriffen und umgesetzt werden müssen - für Konjunktur und Haushalt, für Arbeit und Wirtschaft, für die soziale Absicherung im Alter und bei Krankheit. Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen. Alle Kräfte der Gesellschaft werden ihren Beitrag leisten müssen: Unternehmer und Arbeitnehmer, freiberuflich Tätige und auch Rentner. (...) Ich denke, es ist selbstverständlich, dass das politische Personal von Einschnitten nicht verschont bleiben kann.
Die Realität im März 2008
Zwischen 1996 und 2006 sind die realen, also um den Preisanstieg bereinigten Bruttolöhne und -gehälter von 802 Milliarden Euro auf 790 Milliarden Euro gesunken. Die realen Gewinne und Vermögenseinkommen stiegen im selben Zeitraum von 460 Milliarden auf 557 Milliarden Euro an. Die Lohnquote, der Anteil der Arbeitnehmereinkommen am Volkseinkommen, ist hingegen zurückgegangen. Lag sie 1993 noch bei 72,9 Prozent, waren es im vergangenen Jahr nur noch 64,6 Prozent. Im selben Zeitraum stieg der Anteil der Gewinne und Vermögenseinkommen von 27 auf über 35 Prozent.
Die Erträge von Aktiengesellschaften und GmbHs werden in der Bundesrepublik im Durchschnitt mit knapp 39 Prozent Steuern belastet - jedenfalls in der Theorie. Die tatsächliche Abgabenlast ist weitaus geringer als der Steuertarif: Für Gewinne und Kapitaleinkommen errechnete die EU für 2004 eine faktische Steuerbelastung von 17,7 Prozent. Einer Studie des Steuerexperten Lorenz Jarass zufolge sank die tatsächliche Steuerbelastung bis 2005 auf 16 Prozent, im Jahr 2000 waren es noch 24 Prozent.
In diesem Jahr werden die Renten um 1,1 Prozent steigen - auf den ersten Blick ein deutlicher Sprung gegenüber 2007, als das Plus 0,54 Prozent betrug. In den Jahren davor hatte es drei Nullrunden in Folge gegeben. Aber auch diesmal bleibt die Erhöhung hinter der Preissteigerung zurück, was unterm Strich zu einem Minus bei den Rentner führt.
Die Bezüge der Bundestagsabgeordneten waren seit dem Antrittsjahr der rot-grünen Regierung bis 2003 um knapp 700 Euro gestiegen. Nach der Agenda-Rede gab es zunächst keine Erhöhungen, bis man sich für Anfang 2008 einen Aufschlag von 330 Euro auf 7.339 Euro verordnete. Zu Beginn des kommenden Jahres werden die Diäten erneut angehoben, dann um 329 Euro.
Schröder im März 2003
Wir wollen das Ziel nicht aufgeben, dass jeder, der arbeiten kann und will, dazu auch die Möglichkeit bekommt. Wir haben die Arbeitsmärkte deshalb für neue Formen der Beschäftigung und der Selbstständigkeit geöffnet. Wir haben das Programm "Kapital für Arbeit" aufgelegt. Wir haben die Bedingungen für die Vermittlung der Arbeitslosen durchgreifend verbessert. Wir haben Rechte und Pflichten der Arbeitsuchenden in ein neues Gleichgewicht gebracht. Wir sind dabei, die Bundesanstalt für Arbeit so umzubauen, dass sie ihrer eigentlichen Aufgabe nachkommen kann, nämlich Arbeitslose in Arbeit zu vermitteln und sie nicht bloß zu verwalten. (...) Diese Rahmenbedingungen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit werden wir weiter deutlich verbessern.
Die Realität im März 2008
1998 hat es bundesweit rund 4,28 Millionen registrierte Erwerbslose gegeben. Die Zahl sank zwischenzeitlich unter die Vier-Millionen-Marke, war bis 2003 aber wieder auf über 4,37 Millionen gestiegen. Ende vergangenen Jahres waren in der Nürnberger Statistik etwa 3,4 Millionen Erwerbslose aufgeführt, eine Quote von 8,1 Prozent - wobei diese im Osten (13,4) zu Jahresende doppelt so hoch lag wie im Westen (6,7).
Rund 3,2 Millionen Bezieher von Arbeitslosengeld tauchen derzeit nicht in der Statistik auf, darunter etwa 225.000 Erwerbslose, die der bisherigen 58er Regelung unterliegen. Im Bereich des ALG II waren Ende 2007 etwa 5,3 Millionen "erwerbsfähige Hilfesuchende" registriert, mehr als die Hälfte von ihnen - 2,85 Millionen - sind jedoch nicht als erwerbslos aufgeführt. Dazu zählen Aufstocker, ältere Erwerbslose, Menschen in Bildungsmaßnahmen sowie Hilfebedürftige, die noch zur Schule gehen oder Angehörige pflegen.
Seit 2003 ist die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse beinahe gleich geblieben: im Juni 2003 waren 26,8 Millionen, im Juni 2007 etwa 26,9 Millionen. Das leichte Plus nach einer kleinen Talfahrt, die 2005 ihren Tiefpunkt erreichte (26,1 Millionen), ist vor allem dem Anstieg der Leiharbeit zu verdanken, bei der Beschäftigte in der Regel 20 bis 40 Prozent unter Branchen-Tariflohn verdienen. Seit 1996 hat sich die Zahl der Leiharbeiter mehr als vervierfacht: von rund 180.000 auf etwa 800.000 Ende 2007.
Mehr als sieben Millionen Menschen erhalten Niedriglöhne. Etwa drei Millionen davon verdienen so wenig, dass sie zumindest zeitweise Anspruch auf ALG II hätten - aber nur etwa 1,3 Millionen Menschen machen davon Gebrauch. Eine halbe Millionen der so genannten Aufstocker arbeitet Vollzeit. Fünf Millionen Menschen arbeiten ausschließlich in Minijobs.
Schröder im März 2003
Wir müssen auch über das System unserer Hilfen nachdenken und uns fragen: Sind die sozialen Hilfen wirklich Hilfen für die, die sie brauchen? Ich akzeptiere nicht, dass Menschen, die arbeiten wollen und können, zum Sozialamt gehen müssen, während andere, die dem Arbeitsmarkt womöglich gar nicht zur Verfügung stehen, Arbeitslosenhilfe beziehen. Ich akzeptiere auch nicht, dass Menschen, die gleichermaßen bereit sind zu arbeiten, Hilfen in unterschiedlicher Höhe bekommen. Ich denke, das kann keine erfolgreiche Integration sein. Wir brauchen deshalb Zuständigkeiten und Leistungen aus einer Hand. Damit steigern wir die Chancen derer, die arbeiten können und wollen. Das ist der Grund, warum wir die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenlegen werden, und zwar einheitlich auf einer Höhe - auch das gilt es auszusprechen -, die in der Regel dem Niveau der Sozialhilfe entsprechen wird.
Die Realität im März 2008
Kern der Agenda-Politik war das Hartz-IV-Gesetz von 2005, mit dem das Arbeitslosengeld II eingeführt wurde. Nach einer Ost-West-Angleichung und einer "Erhöhung" um zwei Euro liegt der Regelsatz derzeit bei 347 Euro. Nach Ansicht von Experten müssten 420 Euro pro Person gezahlt werden, um den nötigsten Bedarf zu sichern. Eine allein erziehende Mutter mit fünfjährigem Kind erhält heute 680 Euro, hinzu kommen "angemessene" Kosten für Unterkunft und Heizung.
Ein Erwachsener hat nach dem Regelsatz im Monat unter anderem 34,70 Euro für Kleidung und Schuhwerk zur Verfügung, 24,29 Euro für Möbel und Haushaltsgeräte und 38,17 Euro für Kultur und Freizeit. Für Bildung sieht der Regelsatz keine Ausgaben vor. Für Nahrung und Genussmittel müssen ALG-II-Empfänger mit 128,39 Euro auskommen. Um Zweifel an solchen "Hungersätzen" zu zerstreuen, hat Berlins SPD-Finanzsenator Thilo Sarrazin einen Hartz-Speiseplan vorgestellt, der mit seinen Menü-Varianten (eine halbe Gurke, 130 Gramm Leberkäse, 200 Gramm Kartoffelsalat) den Speise-Regelsatz von 4,25 Euro pro Tag noch unterbietet.
Der Regelsatz wird aus der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) des Statistischen Bundesamtes abgeleitet. Das derzeitige soziokulturelle Existenzminimum wurde nach Zahlen von 1998 berechnet. Eine deutliche Anhebung nach der nächsten, für 2010 avisierten Auswertung der EVS ist kaum zu erwarten - die Bezugsgruppe, das ärmste Fünftel, hat heute womöglich weniger zur Verfügung, als zur letzten EVS im Jahr 2003.
Schröder im März 2003
Niemandem aber wird künftig gestattet sein, sich zulasten der Gemeinschaft zurückzulehnen. Wer zumutbare Arbeit ablehnt - wir werden die Zumutbarkeitskriterien verändern -, der wird mit Sanktionen rechnen müssen.
Die Realität im März 2008
Erwerbslose müssen schon bei kleinsten Verfehlungen mit Strafen rechnen. Bei einer einfachen Pflichtverletzung (etwa Ablehnung von Arbeit oder Abbruch einer Maßnahme) können bis zu 30 Prozent der Leistung gekürzt werden, bei einfachen Meldeversäumnissen (etwa Termin in der Arbeitsagentur verpasst) um zehn Prozent. Unter 25-Jährige müssen sogar damit rechnen, dass ihnen im Falle einer wiederholten Pflichtverletzung das komplette ALG II gestrichen wird.
Im Bereich von Hartz IV stieg die Zahl der verhängten Sanktionen zwischen Oktober 2006 und September 2007 um 66 Prozent, unter Beziehern von Arbeitslosengeld I um 21 Prozent. Die gesamte Zahl der Strafen kann die Bundesregierung nicht angeben, da zur Verfügung stehende Daten nur einen Teil der betroffenen Erwerbslosen erfassen (in diesem Fall etwa 86 Prozent). Im Oktober 2006 waren demnach 84.565 erwerbsfähige Hilfebedürftige von Sanktionen betroffen, im September 2007 bereits 123.137 Hilfebedürftige.
Die Gesamtzahl der Sperrzeiten, also jener Wochen, in denen Erwerbslose kein ALG II erhalten, lag 2006 bei 526.911 Wochen und stieg innerhalb eines Jahres auf 639.222 Wochen in 2007. Ein großer Teil der Sanktionen erwies sich später als rechtswidrig. Von den 45.415 Widerspruchsverfahren im Jahr 2006 waren im Bereich von Hartz IV etwa 35 Prozent erfolgreich, im Bereich des Arbeitslosengeldes I sogar 41 Prozent.
Schröder im März 2003
Ich habe beschrieben, was wir leisten müssen, um unsere Schwierigkeiten zu überwinden - Schritt für Schritt, gar keine Frage, aber wir müssen das anpacken - und Deutschlands Stärke neu zu entwickeln. Unser Land hat - daran kann doch kein Zweifel bestehen - große Potenziale. Potenziale, die wir durch eine gemeinschaftliche Anstrengung wecken können und wecken müssen. Wir verlangen der Gesellschaft heute etwas ab, aber wir tun es, damit den Menschen neue Chancen eingeräumt werden, Chancen, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und Höchstleistungen zu erbringen.
Die Realität im März 2008
Von Aufstiegschancen ist fünf Jahre nach der Agenda-Rede kaum die Rede - im Gegenteil: Die Mittelschicht bröckelt. Nach Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, das die Verteilung um ein "mittleres Einkommen" von 16.000 Euro pro Person im Jahr zugrunde legt, wuchs die armutsgefährdete Schicht (weniger als 70 Prozent des mittleren Einkommens) von 2000 bis 2006 um etwa ein Viertel auf 25,4 Prozent der Gesamtbevölkerung. Die Menschen bleiben auch länger arm: 66 Prozent der armutsgefährdeten Deutschen waren noch nach vier Jahren ganz unten. Vor einiger Zeit lag diese Beharrungsquote erst bei etwa 54 Prozent.
Eine OECD-Studie hat gezeigt, dass sich die Steuer- und Abgabenlast in Deutschland zuletzt "weiter auf Gering- und Durchschnittsverdiener konzentriert" habe. Trotz geringerer Steuersätze nehme für diese die tatsächliche Belastung kaum ab. Dahinter steckt ein Effekt, die kalte Progression: Lohnsteigerungen haben höhere Steuerbelastungen zur Folge, dies frisst in Verbindung mit steigenden Preisen die Lohnzuwächse wieder auf.
Schröder im März 2003
Es gibt gelegentlich Maßnahmen, die ergriffen werden müssen und die keine Begeisterung auslösen, übrigens auch bei mir nicht. Trotzdem müssen sie sein. Deswegen werden wir sie auch umsetzen.
Die Realität im März 2008
2,7 Millionen Kinder leben heute in der Bundesrepublik in Armut, vor der Agenda 2010 waren es nur halb so viel - das ist nur ein Ergebnis der Reformen, von dem das subjektive Gerechtigkeitsempfinden der Deutschen beeinflusst wird. Im Februar 2003 war noch eine knappe Mehrheit (52 Prozent) für die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, im April 2003 - kurz nach Schröders Rede - fanden nur noch 41 Prozent, dass ein solcher Schritt in die richtige Richtung gehe. Insgesamt glauben heute nur noch drei von zehn Bundesbürgern, in Deutschland gehe es alles in allem eher gerecht zu. Zwei Drittel sehen einen Mangel an sozialer Ausgewogenheit. Die empfundene Gerechtigkeitslücke ist im Osten noch größer - hier fanden einer aktuellen Umfrage zufolge 77 Prozent, es gehe in Deutschland eher ungerecht zu.
Schröder im März 2003
Wir Deutsche können stolz sein auf die Kraft unserer Wirtschaft, auf die Leistungen unserer Menschen, auf die Stärke unserer Nation wie auch auf die sozialen Traditionen unseres Landes. Wir haben alles, um eine gute Zukunft für unsere Kinder zu schaffen. Wenn alle mitmachen und alle zusammenstehen, dann werden wir dieses Ziel erreichen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Quellen: Statistisches Bundesamt, OECD, Bundesregierung, Verdi-Bundesverwaltung Abteilung Wirtschaftspolitik, DGB, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Infratest dimap