Arbeitgeber haben zu viel Spielraum
Frist zur Aufnahme von Branchen ins Entsendegesetz läuft heute ab / Thorsten Schulten im Gespräch über Sinn und Grenzen des Branchen-Mindestlohns
Thorsten Schulten leitet beim Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans Böckler Stiftung das Referat Arbeits- und Tarifpolitik in Europa. Über Branchenmindestlöhne, den Sinn des Arbeitnehmerentsendegesetzes und zukünftige Entwicklungen in der Debatte um verbindliche Lohnuntergrenzen sprach mit ihm Ina Beyer.
ND: Statt der erhofften zehn haben sich bislang nur vier Branchen
zur Aufnahme in das Arbeitnehmer-entsendegesetz gemeldet. Wie sinnvoll
ist die Einführung weiterer Mindestlöhne über diesen Weg dann überhaupt?
Schulten: Das Grundproblem am Arbeitnehmerentsendegesetz besteht darin,
dass Mindestlöhne nur über einen von Gewerkschaften und
Arbeitgeberverbänden gemeinsam ausgehandelten Tarifvertrag festgelegt
werden können. In einigen Branchen befürworten die Arbeitgeber aus
wettbewerbs- und ordnungspolitischen Gründen verbindliche
Lohnuntergrenzen – in der Regel hatten sie in der Vergangenheit daran
aber kein Interesse. Es verwundert daher nicht, dass sich so wenige
Branchen gemeldet haben.
Ist das von der SPD vorangetriebene Projekt also eine Schlappe?
Soweit würde ich in meiner Einschätzung nicht gehen. Der
Branchenmindestlohn ist ein Kompromiss, weil sich die große Koalition
nicht auf eine flächendeckende Regelung einigen konnte. Das Konzept
wird jedoch nur in wenigen Branchen aufgehen.
Bei der Sicherung von Mindesteinkommen darf man sich nicht von den Veto-Positionen der Arbeitgeber abhängig machen. Diese könnten vereinbarte Verträge zudem im Nachhinein auch kündigen, wodurch die Löhne wieder sinken könnten. Perspektivisch führt daher kein Weg vorbei an einem allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn.
Also eine allgemeine Auffanglinie für alle und Branchenregelungen, wo sich die Tarifparteien einig werden?
In manchen Branchen, etwa auf dem Bau oder bei den Briefträgern, liegen
die Lohnuntergrenzen deutlich über dem Niveau von 7,50 Euro. Für sie
macht ein branchenspezifischer Mindestlohn durchaus Sinn.
Unter der rot-grünen Bundesregierung gab es bereits einen konkreten Gesetzentwurf, um das Entsendegesetz für alle interessierten Branchen zu öffnen. Dahinter fällt die Neuauflage der großen Koalition zurück. Es ist im Grunde unnötig kompliziert, für jede Branche ein gesondertes Aufnahmeverfahren durchzuführen. Diese Praxis wird übrigens in kaum einem anderen europäischen Land angewandt. In der Regel gelten die Entsendegesetze allgemein für alle Branchen.
Warum ist es so schwierig, in Deutschland einen Mindestlohn einzuführen?
20 von 27 EU-Staaten haben gesetzliche Mindestlöhne über alle Branchen
hinweg. Zu denen, die bisher keine gesetzliche Regelung haben, gehören
beispielsweise die skandinavischen Länder, in denen die
tarifvertragliche Mindestlohnsicherung stark ausgeprägt ist – die
Tarifbindung beträgt dort über 90 Prozent. In den alten Bundesländern
liegt sie gerade noch bei 65 Prozent, in Ostdeutschland sogar nur noch
bei 54 Prozent.
Hier stellt sich also ein Problem, das die skandinavischen Länder nicht haben. Traditionell greift das Prinzip der Tarifautonomie, nach der die Löhne möglichst ohne Einmischung des Staates reguliert werden sollen. Seit Mitte der 1990er Jahren funktioniert dieses Konzept aber gerade in vielen klassischen Niedriglohnbereichen, zum Beispiel im Dienstleistungssektor, nicht mehr.
Als Hauptargument gegen den Mindestlohn wird der millionenfache Wegfall von Stellen gern als Schreckensbild an die Wand gemalt. Solche Behauptungen führender Wirtschaftsinstitute sind jedoch kaum empirisch fundiert und basieren lediglich auf Modellannahmen. Leider haben diese Institute auf Teile der politischen Klasse immer noch einen starken Einfluss.
Wie wird die Diskussion um Mindestlöhne in Zukunft weitergehen?
Der Branchenmindestlohn ist kein sicheres Instrument, um Niedriglöhne
zu vermeiden. Selbst die Mehrheit der CDU-Wähler begrüßt einen
allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn. Die internationalen Erfahrungen
sprechen dafür – die These, Mindestlöhne vernichteten Arbeitsplätze,
hat sich da, wo sie eingeführt wurden, nicht bewahrheitet. Insofern
wird auch die CDU über kurz oder lang an den Punkt kommen, dem
flächendeckenden Mindestlohn zuzustimmen. Ob das noch in dieser
Wahlperiode sein wird? Da bin ich skeptisch.