PRESSEINFORMATION

Memorandum 2008

27.04.2008 / Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik

Konjunkturelle Entwicklung:

Verdrängte Risiken

Das schnelle Ende der wirtschaftlichen Belebung ist nicht etwa Folge der amerikani­schen Hypothekenkrise, sondern hausgemacht: Ohne steigende Binnennachfrage konnte der von Ersatzinvestitionen und Exporten getragene Aufschwung nicht anhal­ten.

Euphorische Einschätzungen zum jüngsten Aufschwung wurden von der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik zu keiner Zeit geteilt. Es war nicht das erste Mal, dass auf­grund unzulänglicher Beachtung der tieferen, langfristigen Ursachen der deutschen Wachstumsschwäche und der Massenarbeitslosigkeit kurzsichtiger Zweckoptimismus und Fehleinschätzungen zu falschen Prognosen führten. Insofern verwundert es nicht, dass hohe Wachstumsprognosen wieder zurückgenommen wurden und die Konjunktur sich als sehr fragil erweist. Die Ursache hierfür liegt aber keineswegs in der amerikanischen Hypo­thekenkrise, sondern in der anhaltenden Schwäche der deutschen Binnenwirtschaft. Zur Überwindung der damit verbundenen gesamtwirtschaftlichen und schärfer werdenden so­zialen Probleme bedarf es vor allem deutlich steigender Löhne und Gehälter sowie einer grundlegenden Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik.

Finanzpolitisch ist neben einer umfassenden Ausweitung der öffentlichen Investitionen eine Rückkehr zu einem gerechten Steuersystem vordringlich.

Arbeitsmarkt:

Mit Arbeitszeitverkürzung gegen prekäre Beschäftigung und Armut

Der Rückgang der Arbeitslosigkeit ist keine Folge der Agenda 2010, sondern im We­sentlichen konjunkturell bedingt. Die Agenda 2010 ist dagegen Ursache einer zu­nehmenden Prekarisierung. Vollbeschäftigung ist nur durch steigende Binnennach­frage und Umverteilung der Arbeitszeit zu erreichen. Statt Arbeitsverkürzung auf Null für viele hilft gleichmäßige Arbeitszeitverkürzung für alle.

Die Bundesregierung und Teile von Wissenschaft und Medien versuchen, die derzeitige Arbeitsmarktentwicklung als Erfolg der Arbeitsmarktreformen darzustellen. Tatsächlich geht die Arbeitslosigkeit lediglich konjunkturell bedingt zurück. Die Arbeitsmarktreformen zeitigen keine Erfolge, haben dafür aber massive Folgewirkungen. Sie tragen maßgeblich zu einer Prekarisierung großer Teile der Beschäftigten und der Arbeitslosen bei. Vor allem Kinder sind die Opfer dieser Entwicklung. Nachhaltige Arbeitsmarkterfolge – gar „Vollbe-schäftigung“ wie in jüngster Zeit diskutiert – sind nicht durch Arbeitsmarktreformen und auch nicht ausschließlich durch Wirtschaftswachstum zu erzielen. Dazu ist eine Verkür­zung der Arbeitszeit notwendig. Fast in der ganzen Geschichte der Bundesrepublik fiel das Wirtschaftswachstum niedriger als der Produktivitätsfortschritt aus, mit der unmittelbaren Folge eines sinkenden Arbeitsvolumens. Dies muss durch Arbeitszeitverkürzung aufge­fangen werden.

Ostdeutschland:

Grundprobleme bleiben ungelöst

Die ostdeutsche Wirtschaftsschwäche besteht fort. Hoffnungen auf einen durch den Marktautomatik ausgelösten Angleichungsprozess erweisen sich einmal mehr als falsch. Nicht Abbau, sondern Ausbau der aktiven Wirtschaftspolitik ist gefordert.

Von dem Aufschwung in Deutschland in den Jahren 2006 und 2007 profitierten auch die neuen Bundesländer. Es gab Fortschritte bei der Herausbildung einiger innovativer Zent­ren, der Steigerung des Exports und der Reduzierung der Haushaltsdefizite. Die grundle­genden strukturellen Schwächen der ostdeutschen Wirtschaft bestehen jedoch fort. Sie verursachen die bekannten Wettbewerbsnachteile, die einen Aufholprozess behindern. Sie reichen von einer viel zu geringen Unternehmensdichte und der Dominanz der Klein- und Kleinstbetriebe in der Unternehmenslandschaft über Eigenkapitalschwäche, geringe For­schungsintensität und einen unterproportionalen Anteil von Arbeiten mit hoher Wertschöp­fungsintensität bis hin zur doppelt so hohen Arbeitslosigkeit. Diese Probleme werden durch keine „Marktautomatik“ gelöst. Um hier etwas zu ändern, ist eine andere Wirt­schaftspolitik gegenüber und in Ostdeutschland notwendig, die gleichzeitig auch als Chan­ce für die gesamte Bundesrepublik erkannt werden muss.

Föderalismuskommission II:

Entwicklungshemmende Schuldenbremse

Die propagiert Schuldenbremse entspringt einer falschen einzelwirtschaftlichen Logik. Gesamtwirtschaftlich gesehen ist sie irrational und unhaltbar. Der Staat muss einen Teil der gesamtwirtschaftlichen Ersparnis über öffentliche Kreditaufnahme nachfragen und durch investive Ausgaben in den nationalen Wirtschaftskreislauf einspeisen.

In der Finanzpolitik droht, unterstützt durch die vorherrschende Finanzwissenschaft, ein fundamentaler Paradigmenwechsel. Es geht um den Ausstieg aus dem gesamtwirtschaft­lich rational begründbaren Einsatz der öffentlichen Kreditaufnahme zur Finanzierung von Staatshaushalten.

Von der Tragweite her lassen sich zwei Richtungen unterscheiden: 1. Das Verbot der staatlichen Neuverschuldung bis hin zur Forderung nach Bildung von Haushaltsüber­schüssen; 2. eine massive Begrenzung der öffentlichen Kreditaufnahme durch strenge Verschuldungsregeln.

Die Position ökonomisch zu enger Schuldenregeln vertreten der „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ sowie die Bundesregierung in ei­nem im Januar 2008 vorgelegten Positionspapier. Dieser Paradigmenwechsel wurde durch die eigentlich auf andere Aufgaben konzentrierte „Kommission zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen (Föderalismuskommission II) vorangetrieben. Von dem ursprünglichen Ziel, Vorschläge zur Neuordnung des föderalen Finanzsystems zu unterbreiten, werden am Ende nur extrem restriktive Verschuldungsregeln übrig bleiben. Statt eine grundsätzliche Lösung anzustreben, werden die Hilfen für Bundesländer mit not­leidenden Haushalten (wie das Saarland und Bremen) wahrscheinlich nur noch eine Teil­entlastung von den Gesamtschulden bewirken. Diese Teilentschuldung wird jedoch an die Bedingung einer künftig restriktiv wirkenden Schuldendisziplin geknüpft.

Gegenüber dem überwiegend irrationalen Schreckensszenario jeglicher Staatsverschul­dung betont die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik die gesamtwirtschaftlichen Möglichkeiten und Gründe der Finanzierung öffentlicher Aufgaben durch öffentliche Kre­ditaufnahme.

Europäische Union:

Neuer Vertrag für alte Politik

Die anhaltende Armut in der EU ist hausgemacht. Die ungebrochene Marktöffnungs­und Deregulierungswut der EU ist hierfür verantwortlich. Darüber hinaus wird auf diese Weise die Massenarbeitslosigkeit in Europa gefördert und nicht bekämpft.

Die Entwicklung der Europäischen Union ist im Jahre 2007 durch vier problematische Pro­zesse geprägt worden: Politisch stand die Formulierung und Verabschiedung eines neuen „Reformvertrages“ im Zentrum; wirtschaftlich hat die Krise der amerikanischen Hypothe­kenbanken auch die europäischen Finanzmärkte erreicht; gleichzeitig hat sich der Kon­junkturaufschwung verlangsamt und droht in einen Abschwung überzugehen. Sozial hat die Ungleichheit weiter zugenommen. Wirtschaftspolitisch hat die Europäische Kommissi­on ihre Linie der makroökonomischen Enthaltsamkeit beibehalten und eine neue Runde der Liberalisierung und Deregulierung der Dienstleistungs-, Arbeits- und Finanzmärkte eingeleitet. Diese und weitere Entwicklungen der EU sind von der Euro-Memorandum­Gruppe in ihrem Memorandum 2007 ausführlich analysiert worden; es trägt den Titel: „Vollbeschäftigung mit guter Arbeit, ein starker öffentlicher Sektor und internationale Zu­sammenarbeit. Demokratische Alternativen zu Armut und Unsicherheit in Europa“ (www.memo-europe.uni-bremen.de). In Anlehnung an dieses Memorandum wird vor allem die Verabschiedung des Vertrages von Lissabon und die ungebrochene Marktöffnungs­und Deregulierungswut der Kommission kritisiert und in diesem Zusammenhang die auch im Aufschwung anhaltende Armut in der EU thematisiert.

Gesundheitswesen:

Konkurrenz und Spaltung nehmen zu

Die Fokussierung auf Beitragsstabilität vernachlässigt wichtige Kriterien für ange-messene, humane, notwendige und ausreichende Gesundheitsdienstleistungen. Mit der herrschenden Politik wird die Ungleichheit bei den Gesundheits- und Lebens­chancen weiter forciert.

Lebenserwartung und Gesundheit sind in hohem Maße von der Qualität der gesellschaftli­chen Beziehungen und Verteilungsverhältnisse abhängig. Studien aus vielen Ländern bes­tätigen, dass Sterblichkeit und Morbidität nicht nur unterschiedlich zwischen Arm und Reich verteilt sind, sondern graduell zunehmen, je weiter abwärts es auf der sozialen Lei­ter geht.

Fast alle Aspekte der Gesundheitspolitik werden besonders seit der ersten Hälfte der 1990er Jahre dem Ziel der Beitragssatzstabilität der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) untergeordnet. Mit dieser einseitigen Zielstellung werden wichtige Kriterien für die Güte von Gesundheitsleistungen wie „angemessen“, „human“, „notwendig“ und „ausrei-chend“ zugunsten monetärer Ziele vernachlässig. Unter den gegebenen Bedingungen ei­ner weiterhin unterlassenen Beschäftigungspolitik und dem Druck auf die Lohneinkommen und Beitragseinnahmen steht das so genannte Kostenproblem, das tatsächlich ein Ein­nahmeproblem ist, zyklisch und zwangsläufig immer wieder auf der politischen Tagesord­nung. So ist damit zu rechnen, dass die soziale Ungleichheit bei den Gesundheits- und Lebenschancen in der deutschen Gesellschaft sich verstärkt.

In den letzten Jahrzehnten haben epidemiologische Studien in fast unüberschaubarer Zahl gezeigt, wie sensibel die menschliche Gesundheit auf sozialökonomische Veränderungen reagiert – positiv wie negativ.

Bildungswesen:

Zersplittert und unterfinanziert

Das Bildungswesen ist nach wie vor massiv unterfinanziert. Eine immer wieder pro­pagierte Gute Bildung für alle, die sich gegen die ungerechten Bildungschancen richtet, erfordert dagegen eine deutliche Ausweitung der Bildungsfinanzierung min­destens auf das skandinavische Niveau.

Das Thema Bildungsfinanzierung bleibt unkonkret bzw. ziellos, wenn Vorschläge für eine bessere Finanzierung des deutschen Bildungssystems nicht mit grundlegenden Vorstel­lungen für dessen inhaltlich-strukturelle Reform einhergehen. Im Memorandum 2006 wur­den bereits die beiden gängigsten Bildungsbegriffe und deren alltägliche Verwendung in der Bildungspolitik kritisiert. Weder das Humboldtsche Ideal (der sozioökonomische Kon­text wird vernachlässigt) noch die Humankapitaltheorie (der humanistisch-demokratisch­gesellschaftliche Kontext wird vernachlässigt) beschreiben angemessen die Rolle der Bil­dung in einer modernen und demokratischen Gesellschaft. Als Grundlage einer „Guten Bildung für Alle“ sehen wir folgenden Bildungsbegriff: „Unserem Verständnis nach ist Bil­dung eine vollständige individuelle Entfaltung der Menschen, infolge deren die Individuen befähigt werden, gesellschaftlichen und kulturellen Reichtum produzieren und sich aneig­nen zu können“ (Memorandum 2006, S. 106). Dieses grundsätzliche Verständnis von Bil­dung reflektiert die relationale Beziehung von Mensch und Gesellschaft in seinen ver­schiedenen Dimensionen (Demokratie, Ökonomie, persönliche Entwicklung). Ein wichtiger Teilaspekt ist hierbei die politische Bildung, die aber nicht als Erziehungsprogramm für größere Akzeptanz bei der Umsetzung neoliberaler Reformpolitik verstanden werden darf. Vielmehr ist mindestens dem „Beutelsbacher Kompromiss“ zu folgen, der einen Erhalt der „Kontroversität“ der politischen Bildung beinhaltet. Denn Wirtschaftsliberalismus prägt im­mer stärker das kulturelle Kapital (Bourdieu), das sich in all seinen Erscheinungsformen (verinnerlicht im Habitus, vergegenständlicht z.B. in Schulbüchern oder institutionalisiert z.B. durch Manager, die zu Hochschulräten ernannt oder Preise verliehen bekommen) zunehmend gegen Kritik immunisiert und sich zur herrschenden Meinung verfestigt. Bil­dung muss dagegen Empathiefähigkeit, Solidarität, demokratische Grundeinstellungen und politische Urteilsfähigkeit fördern, nicht zuletzt als Mittel gegen eine zunehmende bzw. auf hohem Niveau stagnierende „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ (Heitmeyer), die durch die wirtschaftsliberal-ökonomistische Kolonialisierung des Denkens und Han­delns maßgeblich beeinflusst wird. Wir brauchen Bildung sowohl zur Sicherung der öko­nomischen Grundlagen als auch als Grundlage für demokratisches und soziales Engage­ment.