Zauber des Abschwungs
Politik und Wissenschaft machen die Finanzkrise für den ökonomischen Niedergang verantwortlich. Das Finanzkapital nutzt die Konjunkturflaute unterdessen für eine weitere Verschiebung der Machtverhältnisse zu seinen Gunsten
In der Diagnose der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland herrscht gegenwärtig eine seltene partei- und strömungsübergreifende Einmütigkeit: Der Höhepunkt des Aufschwungs ist vorbei, 2008 wird schlechter. Alle früheren Wachstumsprognosen sind kräftig nach unten korrigiert worden. Eine fast ebenso breite Übereinstimmung besteht darüber, daß dieser Abschwung im wesentlichen mit der weltweiten Finanzkrise zu tun hat. Besonders klar äußert sich die Bundesregierung: Eine insgesamt kerngesunde Wirtschaft wird unglücklicherweise durch die Turbulenzen auf den Finanzmärkten nach unten gedrückt. In dieser Sicht sind Verdienst und Schuld praktisch verteilt. Die Gesundheit der Wirtschaft und die Dynamik der Konjunktur sind das Verdienst deutscher Reformpolitik, während die Probleme bekanntlich aus den USA über die Welt gekommen sind. Auch weniger regierungstreue Analysen gehen davon aus, daß die aus den Fugen geratenen Finanzmärkte wesentlich mitverantwortlich für den Abschwung sind und diesen auf jeden Fall verschärfen und vertiefen werden. In vielen Publikationen – vom Internationalen Währungsfonds über das Handelsblatt bis zu linken Journalen – erscheinen apokalyptische Szenarien, in denen die Finanzkrise »Hunderte Milliarden Dollar an Werten vernichtet«, zur »Kernschmelze« des Finanzsystems ausufert und die Weltwirtschaft in einen bodenlosen Abwärtsstrudel zu stürzen droht. Der Marktfundamentalismus hat sich in einer breiten Öffentlichkeit gründlich blamiert. Ultraliberale Banker gestehen irritiert, daß die Selbstregulierungskräfte des Marktes auf geradezu groteske Weise versagt haben. Systemkritiker sehen in der Krise den spektakulären Beleg für die Irrationalität und menschenverachtende Destruktivität des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus (FMK).
Im folgenden will ich drei Probleme auseinanderhalten und zunächst getrennt diskutieren: den Konjunkturabschwung, die Finanzkrise und den Finanzmarktkapitalismus. Ich will dreierlei zeigen: Erstens hat der aktuelle Abschwung kaum etwas mit der Finanzkrise zu tun. Zweitens zeigen sich bisher nur geringe Rückwirkungen der Finanzkrise auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in Deutschland, und es ist nicht wahrscheinlich, daß sich dies ändert. Drittens liegt die Destruktivität und Menschenfeindlichkeit des FMK nicht in erster Linie in den gelegentlichen Spekulationskrisen. Sie liegt vielmehr in einer massiven Verschiebung gesellschaftlicher Machtverhältnisse, die tief in die Produktionsverhältnisse und Arbeitswelt der Menschen eingreift und die Herrschaft der Oberschicht festigt.
Der Abschwung ist hausgemacht
Der wirtschaftliche Abschwung des Jahres 2008 hat nichts mit der weltweiten Finanzkrise zu tun. Er wäre auch ohne diese gekommen und entspricht dem zyklischen Muster kapitalistischer Wirtschaftsentwicklung. Nach der Beinahe-Rezession in den Jahren 2000 bis 2002 gab es ab 2003 einen schwachen Aufschwung, der im wesentlichen von den Investitionen und den Ausfuhren getragen war und jetzt zu Ende geht. Die Investitionen waren vor allem deshalb stark angestiegen, weil die Unternehmen in regelmäßigen Abständen ihre alten Fabriken und Produktionsanlagen erneuern müssen, um mit der Konkurrenz mithalten zu können und im Geschäft zu bleiben. Diese Ersatzinvestitionen finden statt, auch wenn die Gesamtnachfrage insgesamt schwach ist. Allerdings geht diese Welle irgendwann zu Ende. Wenn es dann keine größeren Absatzaussichten gibt, brechen die Investitionen insgesamt ein. Auch wenn die Exporte weiter wachsen, wird dann die Gesamtnachfrage zurückgehen.
In Deutschland schlägt jetzt die jahrelange Umverteilung von unten nach oben voll auf die Gesamtkonjunktur durch. Der Anteil der Löhne und Gehälter am Volkseinkommen, die Lohnquote, war in der BRD schon seit Mitte der 70er Jahre mit wenigen Unterbrechungen kontinuierlich zurückgegangen. In den Jahren 2000 bis 2007 ist sie förmlich abgestürzt, von 72,2 auf 64,6 Prozent (siehe Grafik 1). Die Entwicklung der Löhne und Gehälter bestimmt aber wesentlich den privaten Verbrauch, auf den über die Hälfte der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage entfällt. Die Schwäche der Binnennachfrage hatte schon den Aufschwung nach der letzten Krise gebremst. Jetzt wird sie den Abschwung verschärfen. Dieser könnte zwar zumindest gemildert werden, wenn die Bundesregierung sich entschließen würde, antizyklische Konjunkturpolitik zu betreiben und die gesamtwirtschaftliche Nachfragelücke wenigstens teilweise durch ein öffentliches Investitionsprogramm zu schließen. Davon kann angesichts der auf Haushaltsausgleich fixierten Position der Politik allerdings nicht die Rede sein. Vielmehr steht zu befürchten, daß öffentliche Sparbesessenheit dem Abwärtstrend einen zusätzlichen Schub geben wird. Ob es am Ende zu einer massiven Rezession mit drastisch steigender Arbeitslosigkeit kommt, läßt sich gegenwärtig nicht sagen. Immerhin gibt es einen Lichtblick: Die Gewerkschaften haben in den letzten Monaten in einigen Bereichen – öffentlicher Dienst, Chemie, Stahl – Einkommenssteigerungen durchgesetzt, die stabilisierend auf die Konsumausgaben der Menschen wirken. Bezogen auf die Gesamtwirtschaft ist dies zwar noch wenig, aber es kann und sollte als ermutigende Aufforderung an die kommenden Tarifrunden wirken.
Finanzkrise ohne großen Einfluß
Was ist bisher geschehen? Es hat eine riesige Spekulationsblase gegeben, die vom Markt für zweitklassige Hypotheken in den USA ausgegangen ist, sich in die großen Finanzzentren der Welt – insbesondere Europa, weniger Japan – ausgebreitet hat und auf andere Finanztitel – Aktien, Anleihen samt deren Derivate – übergegriffen hat. Die Hauptbeteiligten hierbei waren die Großbanken, in Deutschland blamablerweise auch öffentliche Banken, institutionelle Investoren, Private-Equity-Gesellschaften und Hedgefonds sowie die Reichen und Superreichen in aller Welt. Die Triebkräfte der Spekulation waren die unersättliche Gier dieser Reichen sowie die Konkurrenz der privaten Finanzinvestoren. Wie bei allen bisherigen Spekulationswellen gab es auch bei der jüngsten neue Geheimwaffen und »garantierte Profitbringer«. Im Spekulationsboom der späten 90er Jahre waren das die High-Tech-Unternehmen der New Economy, in dem gegenwärtigen sind es zwei »Finanzinnovationen«: Kredithandel und sogenannte strukturierte Produkte. Durch den Verkauf von Kreditpaketen haben Banken die Risiken der von ihnen vergebenen Darlehen verkauft und in der Folge alle Hemmungen bei der weiteren Kreditvergabe fallengelassen.
»Strukturierte Produkte« sind Finanzanlagen, die den Geldbesitzern auf ihre individuellen Profile und Bedürfnisse genau zugeschnitten verkauft werden, im übrigen aber so kompliziert sind, daß niemand sie versteht. Ihr letztlich einziger Zweck ist der Gewinn für die Verkäufer. Diese Geschäftsmodelle liefen eine Weile gut und lockten Nachahmer. Den Rest tat der Herdentrieb. Jetzt wollten alle Kreditpakete haben, von deren Inhalt sie keine Ahnung hatten. Sie kauften »strukturierte Produkte« auf Kredit, einfach weil andere sie kauften und die Preise stiegen. Das Kartenhaus der Euphorie wuchs höher und höher. Dann platzte die Spekulationsblase, und das Kartenhaus brach zusammen. Die Spekulanten hatten sich verspekuliert. Bei Banken und Finanzinvestoren, die jahrelang mit Gewinnraten von über 20 Prozent geprahlt und viele Milliarden Dollar bzw. Euro verdient hatten, brachen die Gewinne plötzlich auf nur noch dreistellige Millionenbeträge ein, Abschreibungen wurden fällig, Katzenjammer setzte ein, gelegentlich sogar mit selbstkritischen Untertönen. Die Panik der Spekulanten, die sich verzockt haben, ist verständlich. Sie sollte aber nicht zu gesellschaftlicher Untergangshysterie hochgeschaukelt werden.
Gefahren der Spekulationskrise
Die Frage ist, welche Gefahren gehen von der weltweiten Spekulationskrise für die deutsche Wirtschaft, die Konjunktur, die Beschäftigung und die Einkommen der Nichtspekulanten aus? Fünf Kanäle der Ausbreitung sind hier zu diskutieren:
1. Entlassungen in der Finanzbranche: Die sind angekündigt, und es wird sie geben. Allerdings dürfte die Finanzkrise nicht die Ursache, sondern nur eine bequeme Ausrede hierfür sein. Es ist daran zu erinnern, daß die großen Umstrukturierungs- und Personalabbauprogramme etwa von Deutscher Bank und Allianz nicht in der Krise, sondern in den Jahren des Booms davor stattgefunden haben. Hedgefonds und Private-Equity-Häuser arbeiten ohnehin immer nur mit wenigen Dutzend hochbezahlter Personen. Gesamtwirtschaftlich sind sie nicht von Bedeutung.
2. Kredite werden knapp: Der Markt für Kredite für fremdfinanzierte Übernahmen – deren Zweck ist allein die Renditesteigerung der Geldbesitzer – ist in der Tat weitgehend zusammengebrochen. Das ist gut so, weil es weitere Spekulationsrunden verhindert. Unternehmenskredite zur Investitionsfinanzierung stehen dagegen nach Aussagen von Bundesbank und Bundesregierung nach wie vor reichlich zur Verfügung. Wenn sich dies ändern sollte, gibt es genügend politische Möglichkeiten, über die öffentlichen Sparkassen und Landesbanken gegenzusteuern und die Kreditversorgung aufrechtzuerhalten.
3. Der Verbrauch bricht aufgrund des »Vermögenseffektes« ein: Besitzer von Aktien, deren Kurs gesunken ist, schränken wegen dieser »Verarmung« die Ausgaben für ihren Lebensunterhalt ein. Eine solche Reaktion ist in den USA teilweise zu beobachten. Für Deutschland ist sie aber vor allem deshalb extrem unwahrscheinlich, weil es sehr viel weniger Aktienbesitzer gibt, weniger als ein Zehntel der Bevölkerung gegenüber rund der Hälfte in den USA.
4. Die Sanierung der Finanzbranche belastet die öffentlichen Haushalte: Für die von der Krise betroffenen Landesbanken ist dies bereits der Fall. Der Chef der Deutschen Bank hat staatliche Unterstützung angefordert. Dies ist von der Bundesregierung allerdings bislang abgelehnt worden. Eine großflächige Sanierung des privaten Finanzsektors durch öffentliche Subventionen würde die Gefahr einer neuen Sparrunde an anderer Stelle mit sich bringen, also weiteren Sozialabbau mit gravierenden Folgen für die Menschen und den Konsum. Dies dürfte jedoch bis auf weiteres politisch nicht durchsetzbar sein.
5. Die deutschen Ausfuhren leiden unter der Krise in den USA und der Abwertung des Dollar gegenüber dem Euro: Hiervon können in der Tat Gefahren ausgehen. Sie sollten aber nicht überschätzt werden. Zum einen ist es nicht sicher, ob es tatsächlich zu einer tiefen Rezession in den USA kommt. Zum anderen hat der deutsche Export sich auch früher in Schwächephasen der Weltwirtschaft und der Abnehmerländer behauptet.
Die Kanäle eins bis vier sind also für die deutsche Konjunktur weitgehend irrelevant, und die traditionelle – zu einem erheblichen Teil auf nichtpreislichen Faktoren (etwa die Qualität der Güter) beruhende – Stärke des deutschen Exportes macht einen gesamtwirtschaftlich relevanten Einbruch unwahrscheinlich. Insgesamt sind die Gefahren also nicht besonders groß, daß die aktuelle weltweite Finanzkrise sowie eine dadurch produzierte Rezession in den USA die deutsche Wirtschaft insgesamt massiv trifft und ebenfalls in eine tiefe Rezession stürzt.
Neue Machtverhältnisse
Trotz dieser beruhigenden Aussichten ist keine Entwarnung angebracht. Die Krise sollte vielmehr Anlaß für eine nüchterne Analyse ihrer Hintergründe sein. Der hypnotisierte Blick auf die aktuellen Turbulenzen läuft leicht Gefahr, die Wirklichkeit des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus (FMK) aus dem Auge zu verlieren, der sich seit drei Jahrzehnten als neues Entwicklungsmuster auch in Deutschland schleichend etabliert. Dieses Regime produziert zwar auch Finanzkrisen, aber das ist nicht sein Hauptkennzeichen. Viel wichtiger sind seine tiefen Eingriffe und Umgestaltungen in den Unternehmen, der Produktions- und der Arbeitswelt, seine Angriffe auf den demokratischen Sozialstaat und dessen Transformation in eine neoliberale Gesellschaft.
Die ökonomische Grundlage des FMK ist die enorme Anhäufung von Finanzvermögen in den Händen einer Minderheit der Gesellschaft, die ihren Reichtum immer weiter zu vermehren sucht. Diese Anhäufung ihrerseits ist vor allem Ergebnis einer langen Umverteilung von Einkommen und Vermögen von unten nach oben in allen Zentren des Kapitalismus. Sie hat Mitte der 70er Jahre als Bestandteil einer globalen Gegenreform gegen die sozialen und demokratischen Fortschritte der Nachkriegszeit begonnen. Das weltweite Finanzvermögen ist zwischen 1980 und 2006 fast dreimal so schnell gewachsen wie das weltweite Sozialprodukt, um den Faktor 13,9 gegenüber dem Faktor 4,8 (siehe Grafik 2). Diese ungleichmäßige Entwicklung hat auch die Funktionsmechanismen des Kapitalismus verändert und neue Leitfiguren hervorgebracht. Im traditionellen Industrie- und Monopolkapitalismus waren die Unternehmer und Manager die entscheidenden Figuren, und die Finanzierung der reichlich vorhandenen Investitionsgelegenheiten stellten den Engpaß der Entwicklung dar. Heute haben sich die Verhältnisse umgekehrt: Finanzmittel sind reichlich vorhanden – eben die akkumulierten, verwertungsuchenden Vermögen –, aber die Investitions- und Verwertungsgelegenheiten werden knapp. Unter diesen Umständen wird der Finanzinvestor zur neuen Leitfigur des Kapitalismus: als privater Dienstleister, der neue Renditequellen für die Vermögen der Reichen erschließt. Finanzinvestoren konkurrieren untereinander um diese Vermögen, aus deren Vermehrung sie ihre Einkommen beziehen. Das wichtigste Mittel dieses Konkurrenzkampfes ist das Versprechen auf Höchstrenditen. Ein Versuch, diese Versprechen einzulösen und im Geschäft zu bleiben, ist die Finanzspekulation in immer abenteuerlicheren Bahnen. Das geht eine Weile gut, und dann geht es schief, die Blase platzt. Damit ist das strategische Arsenal der Finanzinvestoren aber nicht erschöpft.
Eine weitere und langfristig wirksamere Strategie ist die Durchsetzung neuer Standards für schnellere und höhere Gewinne in den Betrieben und Unternehmen. Die Umsetzung dieser Strategie erfolgt durch massiven Druck der Finanzinvestoren auf das Management der Unternehmen, in denen sie Kapital anlegen: Löhne müssen gesenkt, Arbeitszeiten verlängert, unbezahlte Überstunden geleistet werden, Sozialleistungen werden gekappt, langfristige Entwicklungsausgaben gestrichen. Wenn auf diese Weise die Ansprüche auf höhere Renditen erst einmal bei einigen strategischen Unternehmen durchgesetzt sind, sorgt die Konkurrenz dafür, daß sie zu allgemeinen Standards für die gesamte Branche werden und sich auch in Unternehmen festsetzen, in denen keine Finanzinvestoren sind. Es ist deren zweifelhaftes Verdienst, eine Pionierrolle bei der Verschlechterung der Bezahlung und Arbeitsbedingungen in einer immer größeren Zahl von Betrieben und Unternehmen in Deutschland zu spielen. Sie sind wesentlich verantwortlich für eine Neuausrichtung der Unternehmenskultur und der Unternehmenssteuerung (corporate governance), die sich immer mehr auf die Maximierung des Wertes des Unternehmens für die Aktionäre (shareholder value) konzentriert. Soziale Verantwortung, Arbeitsschutz, Mitbestimmung etc. sind in diesem Zusammenhang lästiger Sozialklimbim, der möglichst abzuschaffen ist.
Hier setzt eine weitere Strategie der Finanzinvestoren an: der Druck auf Regierungen und Parlamente, die steuerlichen, sozialpolitischen, arbeitsrechtlichen etc. Rahmenbedingungen so zu gestalten, daß der »Finanzplatz Deutschland« attraktiv wird und Finanzinvestoren sich hier wohlfühlen: Steuerbefreiung oder -senkung für Finanzinvestoren, Senkung der »Arbeitgeber«beiträge zur Sozialversicherung, Lockerung des Kündigungsschutzes und vieles mehr.
Das wesentliche Merkmal des gegenwärtigen finanzmarktgetriebenen Kapitalismus ist nicht das, was nicht funktioniert, die Spekulation, die zur Finanzkrise geführt hat. Viel wichtiger ist das, was bislang funktioniert hat: die dramatische Verschiebung der Macht- und Kräfteverhältnisse zugunsten des Kapitals, sowohl in den Unternehmen als auch in Politik und Gesellschaft. Die Folgen dieser Machtverschiebungen sind eine zunehmende Polarisierung der sozialen Verhältnisse, mehr Ungleichheit, mehr Unsicherheit und Prekarität in den Arbeits- und Lebensverhältnissen der Mehrheit, mehr Reichtum, Macht und Arroganz der Oberschicht.
Über diese strategische Dynamik des FMK ergibt sich eine sehr viel stärkere Wirkung auf Konjunktur, Wachstum und Beschäftigung in Deutschland als über die aktuelle Finanzkrise. Der massive Druck in den Unternehmen hat den Fall der Lohnquote beschleunigt, und die neoliberale Ausrichtung der Wirtschaftspolitik hat antizyklische Wirtschaftspolitik zum Tabu gemacht. Umverteilung von unten nach oben und die Verhinderung demokratischer Wirtschaftssteuerung – beides hat dazu beigetragen, das Wirtschaftswachstum zu bremsen und die konjunkturellen Abschwünge markanter ausfallen zu lassen als die Aufschwünge.
Was tun?
Als politische Schlußfolgerungen aus diesen Überlegungen bieten sich – stichwortartig – folgende vier Handlungsebenen an:
Erstens ist kurzfristig eine energische antizyklische Konjunkturpolitik – am besten in Form eines umfangreichen öffentlichen Investitionsprogramms – zur Milderung des Abschwungs erforderlich.
Zweitens sollte in Reaktion auf die Finanzkrise das Spekulationspotential der Banken und Finanzinstitutionen drastisch vermindert werden. Hierzu liegen zahlreiche Vorschläge auf dem Tisch: von mehr Transparenz über höhere Risikovorsorge bis zur Beschränkung des freien Kapitalverkehrs.
Drittens sollten Beschäftigte und Unternehmen wirksam vor Ausplünderung und perspektivloser Kurzfriststeuerung durch Finanzinvestoren geschützt werden. Hierfür ist vor allem eine Ausweitung der Mitbestimmung in Betrieben und Unternehmen erforderlich: Veränderungen des Aktien- und Gesellschaftsrechts sollten den Einfluß von Finanzinvestoren beschränken.
Um die Dynamik des FMK zu brechen, bedarf es viertens einer Wirtschaftspolitik, die durch kräftige Umverteilung von oben nach unten die massive Vermögenspolarisierung in der Gesellschaft rückgängig macht und damit den Druck aus den Finanzmärkten nimmt, der zu immer abenteuerlicheren und immer brutaleren Methoden der Renditesteigerung geführt hat. Der Finanzsektor muß seine dominierende Rolle verlieren und auf seine sinnvolle wirtschaftliche Rolle als Infrastruktur zurückgeschnitten werden: zur Gewährleistung eines effizienten Geld- und Zahlungssystems sowie einer für Produktion und Investitionen ausreichenden Kreditversorgung. Aufgrund der Erfahrungen mit der chaotischen, ausbeuterischen und demokratiefeindlichen Dynamik des FMK liegt es nahe, daß diese Rückbindung nicht nur mehr demokratische Steuerung und Kontrolle des Sektors insgesamt, sondern überdies die Übernahme der großen Schlüsselkonzerne in öffentliches Regie erforderlich macht – die freilich anders gehandhabt werden müßte, als dies bei den Landesbanken der Fall war.
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* Jörg Huffschmid ist Professor für Politische Ökonomie und Wirtschaftspolitik. Er leitete bis 2005 das »Institut für Europäische Wirtschaft, Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik« der Universität Bremen und ist Gründungsmitglied der »Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik«