Kein Zwang zum Sozialabbau
Verbände legen Grundsatzpapier für neues Staatsverständnis vor
Deutschland braucht einen neuen gesellschaftlichen Grundkonsens für die Stärkung des Sozialstaats. Das fordern der Sozialverband Deutschland und die Volkssolidarität. Am Mittwoch legten sie hierzu in Berlin ein Grundsatzpapier vor. Die analytische Grundlage lieferte der Kölner Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge.
»Der Sozialstaat ist kein Ballast, sondern eine unverzichtbare Voraussetzung für den wirtschaftlichen Erfolg der Bundesrepublik und von enormer Bedeutung für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft«, betonte gestern der Präsident des Sozialverbands Deutschland (SoVD), Adolf Bauer. In ihrem neuen Grundsatzpapier »Sozialabbau stoppen. Sozialstaat stärken« fordern SoVD und Volkssolidarität deshalb von der Politik einen Kurswechsel: Die zunehmende Privatisierung sozialer Risiken ist ein Irrweg und muss ein Ende haben, sagte Bauer und wehrte sich gegen neoliberale »Stimmungsmache«, dass Deutschland sich das angeblich nicht leisten könne. Die Sicherungssysteme dürften nicht länger schlechtgeredet werden.
Kernthese der Verbände ist: Mehr Verteilungsgerechtigkeit kann die zunehmende Armut in der Bundesrepublik senken. Die jüngsten Zahlen seien alarmierend. Und nicht nur in Ostdeutschland, so VS-Präsident Gunar Winkler, beobachte man, dass »die Armut immer mehr zu einer Ohnmacht staatlichen Handelns führt«. Spärliche Steuereinnahmen und steigende Leistungen zur Grundsicherung erzeugen eine »Armutsschere in den Regionen«, sagte Winkler. »Die Folge ist eine Schwindsucht sozialer Infrastruktur.« Immer öfter fehle das Geld für ausreichende Kinderbetreuung, Suchtberatung, Familienhilfen, Jugendclubs und Begegnungsstätten für Senioren.
Die Lösungsvorschläge liegen lange auf dem Tisch, etwa die Weiterentwicklung der Krankenversicherung zur Bürgerversicherung und die der Renten- zu einer Erwerbstätigenversicherung. Die Gutverdiener dürften sich nicht länger aus den Sicherungssystemen ausklinken und sich privat versichern. Zudem sollten die Rentenkürzungsfaktoren (Riester- und Nachholfaktor), gestrichen werden, weil die Kaufkraft der Rentner, aber auch das Durchschnittseinkommen gesunken seien – auch durch die Belastungen der Gesundheitsreform.
Es ist eine gesellschaftspolitische Richtungsentscheidung, ob der Abbau des Sozialstaats fortgesetzt oder an die sich wandelnde Arbeitswelt mit Arbeitslosigkeit und prekären Jobs sowie an veränderte Familienverhältnisse angepasst wird, stellte der Kölner Politikprofessor Butterwegge klar, der im Auftrag der Verbände mit Carolin Reißlandt die Grundlage des Grundsatzpapiers erarbeitete. Die Kernfrage laute: Wollen wir in einer Hochleistungs- und Konkurrenzgesellschaft leben oder in einer, die sich weiter als solidarisch versteht? Butterwegge kritisierte, dass die öffentliche Stimmung, wie sie die Sendung mit Anne Will jüngst beförderte, eher dahin gehe, Arme des Sozialbetrugs zu verdächtigen als Armut zu bekämpfen. Die US-Amerikanisierung der Gesellschaft gefährdete nicht nur den sozialen Frieden in Deutschland, sondern auch die Demokratie. Das bedeute ja nicht nur, alle vier Jahre zur Wahl zu gehen. Bisher war es Konsens, dass auch der Einzelne die Entwicklung der Gesellschaft mitbestimmen könne. Wie aber solle eine Alleinerziehende, die nicht weiß, wie sie die Klassenfahrt finanzieren soll, daran teilnehmen. Der Politikwissenschaft kritisierte gegenüber ND auch die Familienpolitik der Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) – viel jenen zu geben, die schon viel haben. Das Elterngeld werden zu Lasten der Bezieherinnen von ALG oder Hartz IV sowie der Studenten finanziert. Und das von ihr favorisierte gestaffelte Kindergeld sei nur darauf aus, die Geburtenrate zu steigern. Auch sonst sei der Sozialstaat nicht auf Alleinerziehende eingestellt: Sie profitierten weder vom Ehegattensplitting noch dem Vorteil der beitragsfreien Mitversicherung unter Ehepartnern. Butterwegge forderte eine solidarische Bürgerversicherung, eingebaut in eine soziale Grundsicherung, die den Namen verdient. Und natürlich müsse die Beitragsbemessungsgrenze bei der Krankenversicherung fallen. Warum soll man mit der Solidarität aufhören, wo sie anfängt, Spaß zu machen, punktete Butterwegge.