Verschwindsüchtig

KRISE, WELCHE KRISE? Plötzlich ist die Konjunktur auf Abwegen

09.08.2008 / Von Robert Kurz, Freitag 32/2008


Krise, welche Krise? So tönte noch vor kurzem der Entwarnungs- und Beruhigungspopulismus bis in die Linke hinein. Der Aufschwung der überaus flexiblen kapitalistischen Weltökonomie sollte diesmal endlich ein nachhaltiger sein und wurde bereits auf Jahre hinaus hochgerechnet. Die seit Sommer 2007 schwelende Finanzkrise schien den Erfolgsmeldungen wenig anhaben zu können. Und wenn schon, vielleicht würde es in den USA eine kleine Konjunkturflaute geben, der Euro-Raum hingegen kaum betroffen sein. Und wenn, so könnten die Schwellenländer dank ihrer Wachstumsdynamik leicht als Lokomotive einspringen. Dieser mediale Diskurs zeichnete sich besonders durch Ahnungslosigkeit aus. Jetzt hagelt es binnen einer einzigen Woche nur so von negativen Quartalszahlen und düsteren Prognosen.

Das Gros der Dax-Konzerne gibt drastische Gewinnwarnungen heraus, darunter Daimler und BMW. Nach dem Abschwung im Bankensektor mit immensen Abschreibungen trifft es nun fast alle "konjunktursensiblen" Industriebranchen. Die angeblich randvollen Auftragsbücher reichen noch bis zum Herbst; für die Zeit danach fehlen die Nachfolgeaufträge bereits. "Grottenschlecht" sei die Aussicht für den Winter, so das Münchner IFO-Institut; mit einem Abbau von Arbeitsplätzen in der Industrie und im Dienstleistungssektor müsse auf breiter Front gerechnet werden. Das noch im Frühjahr erhoffte Anziehen des Binnenkonsums aufgrund zusätzlicher Arbeitsplätze ist ausgeblieben. Woher sollte es auch kommen angesichts von Billiglohn, Leiharbeit und befristeten Verträgen? Der Sommerschlussverkauf war der miserabelste seit Jahren. Und die bisherigen Tarifabschlüsse der großen Gewerkschaften, die vor lauter Mäßigung kaum laufen können, decken bestenfalls die Inflationsrate ab.

Der scheinbar endlose Exportboom, der die Schwäche der Binnennachfrage überkompensiert hatte, wird zum Auslaufmodell, weil die Weltkonjunktur einzubrechen beginnt. Dabei steht die Rezession in den USA erst noch bevor. Zwar gab es dort schon im letzten Quartal 2007 erstmals seit langem ein Minuswachstum, doch wurde im Frühjahr der Konsum noch einmal mit 100 Milliarden Dollar aus Steuergutschriften gesponsert. Dieses Strohfeuer dürfte im zweiten Halbjahr erloschen sein. Die Folgen der Immobilienkrise schlagen voll auf die Realwirtschaft durch. Der Job-Abbau - selbst im gebeutelten Bankensektor - hat gerade erst begonnen; trotzdem ist die US-Arbeitslosenquote bereits deutlich gestiegen. Und die nächste Welle der Finanzkrise kündigt sich an: Nach Angaben des renommierten Ökonomen Nouriel Roubini wird das Kreditkartengeschäft in den USA weitgehend zusammenbrechen und einen Abschreibungsbedarf von ein bis zwei Billionen Dollar hinterlassen; weit mehr als das Platzen der Immobilienblase.

"Amerika steuert auf die schwerste Wirtschaftskrise seit der großen Depression zu", schrieb das Handelsblatt Anfang der Woche. Aber Europa muss nicht erst auf den Einbruch jenseits des Atlantik warten. Es gerät in seinen eigenen Abwärtssog. Die Immobilienblasen in Großbritannien und Spanien sind inzwischen ebenfalls geplatzt, der von Hypothekenkrediten befeuerte Konsum wird in beiden Ländern wie in den USA abgewürgt. Auch Italien und Frankreich legen den Rückwärtsgang ein, Gleiches gilt in Osteuropa für die "baltischen Tiger" Estland, Lettland und Litauen. Den "keltischen Tiger" Irland erwartet bis Jahresende ein eben solches Schicksal. Der Negativtrend verschärft sich, da fast überall weitere Verschuldungen kaum möglich sind. Nach einer neuen Studie der Deutschen Bank wird das Kreditangebot an Unternehmen und private Haushalte in den USA und im Euro-Raum als Spätfolge der Finanzkrise bis 2010 um mindestens 15 Prozent sinken.

Bei alledem handelt es sich nicht um eine klassische zyklische Bewegung, denn seit fast 30 Jahren hat die Konjunktur der Realökonomie ihre eigene Tragfähigkeit verloren. Das Auf und Ab der Weltwirtschaft wurde zunehmend von verselbstständigten Finanzmärkten gesteuert. Ursache war nicht die "Gier" von Spekulanten, sondern die Unfähigkeit des Kapitals, unter den Bedingungen der dritten industriellen Revolution menschliche Arbeit als Substanz der realen Wertschöpfung im erforderlichen Ausmaß zu mobilisieren. Tatsächlich konnte die "neoliberale Revolution" die in den siebziger Jahren zu Tage getretene strukturelle Wachstumsschwäche nicht überwinden. Stattdessen wurde der Weltmarkt inklusive der asiatischen Exportwalze von ausufernder Verschuldung und Finanzblasen getragen. Die Kehrseite waren Massenarbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung und Billiglohn. Jetzt hat das "finanzgetriebene" Wachstum ausgesorgt.