Hier schlägt das Herz
EINZELKAMPF - Barbara E. gegen die Kaiser´s Tengelmann AG
Da hinten die Blöcke, das ist Ahrensfelde. Da drüben liegt Marzahn. Und dort Lichtenberg. Wir stehen in Berlin-Hohenschönhausen, auf Barbaras Balkon, hoch oben im elften Stock, der Blick geht weit. Die Wohnung muss sie aufgeben, sie ist zu teuer. Bis Ende August will die Agentur für Arbeit Vorschläge sehen, wohin sie umziehen wird. Keine Kaution darf anfallen und eine Miete unter 360 Euro muss es sein, das sind die Bedingungen. Barbara, von ihren Freunden Emmely genannt, ist arbeitslos. Sie hat als Kassiererin gearbeitet. 31 Jahre lang. Die Kaiser´s Tengelmann AG, ihr Arbeitgeber - Jahresumsatz 2,51 Milliarden Euro, Werbeslogan: "Hier schlägt das Herz!" - hat ihr jetzt fristlos gekündigt. Wegen des Verdachts der Untreue. Sie habe zu Unrecht zwei Pfandbons eingelöst, heißt es. Der Wert der beiden Zettel beläuft sich auf insgesamt 1,30 Euro. Emmely bestreitet den Vorwurf. Sie klagt auf Wiedereinstellung. Der Fall hat schon ein paar Wellen geschlagen, auch in dieser Zeitung (Freitag 26/08) wurde darüber berichtet. Er beschäftigt zurzeit das Berliner Arbeitsgericht.
Emmely streikt weiter
Emmely ist keine, die man schnell klein kriegt. Sie hat eine solide Ausbildung vorzuweisen und eine lange, stetige Arbeitsbiografie. Sie ist ein Kind der DDR. Ihren Gerechtigkeitssinn hat sie da her. Und sie ist, ganz selbstverständlich, eine emanzipierte Frau. Sie stammt aus Neubrandenburg, lernte dort "Fachverkäuferin für Waren des täglichen Bedarfs", wie der Beruf damals hieß.
Als 19-Jährige kam sie im Zuge einer FDJ-Initiative nach Berlin. Das war 1977. Seitdem lebt und arbeitet sie hier. Sie hat drei Töchter erzogen. Der Vater der Kinder, mit dem sie zwölf Jahre zusammen lebte, war ihr dabei keine große Hilfe. Suff und Streit und andere Frauen. Jetzt sind die Mädchen aus dem Haus, haben selbst schon Kinder. Von dem Mann hat Emmely sich längst getrennt. Im Mai ist sie fünfzig geworden. Ihre Töchter haben ihr eine große Fotocollage geschenkt. Darauf sieht man Emmely herumalbern und lachen. Sie ist kein Kind von Traurigkeit. Sie will hundert werden, sagt sie, aber bitte immer gesund. Schon deshalb will sie sich nicht demütigen lassen. Das macht nämlich alt und krank und hässlich. Sie ist nicht auf den Mund gefallen. Sie weiß, was sie will. Wenn sie streitet, kann sie ganz gut austeilen. "Was ich denke, muss ich doch sagen! Und was ich für richtig halte, das muss ich durchziehen. Oder? Was soll ich hinterm Rücken reden oder rumeiern?"
Deshalb hat sie sich auch an den Verdi-Streiks beteiligt, Ende des vergangenen und Anfang dieses Jahres. Von den 36 Mitarbeitern ihres Supermarkts sind zehn in der Gewerkschaft organisiert. Acht haben gestreikt. Zunächst. Sie zogen mit Pfeifen und Transparenten über den Alex, standen am Brandenburger Tor. Dann erschien die Kaiser´s-Distriktmanagerin in der Filiale und führte Einzelgespräche mit den Kolleginnen. Was das denn soll. Man sei doch ein Team. Die Frau, selbst einmal Kassiererin, hat Karriere gemacht in den letzten Jahren und die Lektionen der Obrigkeit gut gelernt. Sie drohe Emmely übrigens nicht, betonte sie mehrfach. Jeder weiß, was solch eine Verneinung bedeutet. Emmelys Kolleginnen jedenfalls verstanden den Wink. Sie streikten noch ein bisschen "heimlich" weiter, nämlich an ihren Urlaubs- und freien Tagen. Dann ließen sie´s lieber. Emmely nicht. Sah sie ja gar nicht ein. Sie streikte. Als Einzige. Das sei ihr gutes Recht, dachte sie, die Gewerkschaft hatte ja dazu aufgerufen.
Falsch gedacht. Zunächst verschlechterte sich das Arbeitsklima rapide. Solidarität scheint bei Kaiser´s gerade nicht in Mode zu sein. Der Filialleiter und die Kassen-Erste sprachen nicht mehr mit Emmely. Wenn sie Aufträge erhielt, geschah es über Dritte. Die Schichten lagen plötzlich alle in den Spätstunden und an Samstagen, ihren Urlaub sollte sie verschieben. Natürlich regte sie das auf. Also regte sie sich auf. Schaltete den Betriebsrat ein. Davon wurde das Klima nicht besser. Schließlich brach das Unwetter los.
Emmely wird gründlich gefilzt
Das Einkaufcenter im Berliner Plattenbau-Bezirk Hohenschönhausen, in dem Emmely arbeitete, heißt Treffpunkt Storchenhof. Das klingt nett. Es erinnert an Zeiten, als hier ein Dorf war. Das ist lange her, die Störche nisten längst anderswo. Das Shoppingcenter wurde vor gut zehn Jahren gebaut, wenige Meter neben eine alte DDR-Kaufhalle. Darin hatte Kaiser´s seit der Wende Geld verdient, und auch Emmely hat darin gearbeitet. Nun zog die Filiale um ins neue Haus. Darin gibt es allerlei Geschäfte, Ärzte, Anwälte. Kaiser´s betreibt den größten und schicksten Laden. Der alte Lebensmittelladen nebenan hat ausgedient. Leer ließ Kaiser´s ihn zurück und niemand kümmert sich seither darum. Das Gebäude verfällt, wird von Grün umwachsen. - Der Treffpunkt Storchenhof will eine seriöse Adresse sein. Man ist stolz auf die saubere Fassade und ignoriert tapfer den Verfall vor der Tür. Dabei ist der längst drinnen angekommen.
Am 25. Januar 2008, eine Stunde vor Schichtende, wird Emmely gebeten, ihre Kasse abzuschließen. Sie muss alle Taschen leeren, wird gründlich gefilzt, muss ihren Spind vorzeigen. Dann eröffnet man ihr, es gäbe zwei Pfandbons, die man einem Einkauf zuordne, den sie hier in der Filiale vor ein paar Tagen getätigt habe. Und diese beiden Bons seien nicht, wie es für Angestellte Vorschrift ist, zweifach abgezeichnet. Sie habe betrogen. Man stellt sie vor die Wahl, ob sie selbst kündigen wolle, jetzt gleich, oder ob man sie fristlos entlasse. Natürlich kündigt Emmely nicht. Wieso auch? 13 Jahre saß sie für das Unternehmen an der Kasse. Da hätte sie sonst was anstellen können. Hat sie aber nicht, auch jetzt nicht. Sie ist sich keiner Schuld bewusst.
Der Vorgang ist geradezu grotesk, aber leider muss man ihn penibel auseinanderklamüsern, es hängt Emmelys berufliche und finanzielle Zukunft dran. Es geht, wie gesagt, um einen Streitwert von 1,30 Euro. Es besteht der Vorwurf, Emmely habe sich an fremdem Pfand "bereichert". Sie nimmt nicht etwa den Inhalt ihrer Kasse und haut damit ab. Sie klaut nicht ein paar Flaschen Champagner. Sie fälscht auch nicht die fehlende zweite Unterschrift auf den Bons, um mit ihrer Gaunerei durchzukommen. Nein, sie ist so blöd und setzt um 1,30 Euro ihre Zukunft aufs Spiel. Und auch die Kassiererin, die die Bons von ihr entgegennimmt, merkt nichts. Das soll man glauben? - Kaiser´s denkt so. Und hat einen Kündigungsgrund.
Denn das Arbeitsrecht steht auf Unternehmerseite. Es reicht allein der Verdacht der Untreue, eine unbequeme Angestellte fristlos zu feuern. Auch in einem Bagatellfall. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat wiederholt so entschieden. Das berühmt-berüchtigte "Bienenstichurteil" von 1984 befand, dass die Verkäuferin eines Bäckerladens zu Recht fristlos entlassen wurde, weil sie "widerrechtlich" ein Stück Bienenstich gegessen hatte. Es folgten ähnliche Urteile: Entwendung dreier Kiwi-Früchte, Verdacht (!) der Entwendung eines Lippenstifts, Mitnahme eines Liters Sahne im Wert von 4,80 DM... - "Nur weil diese Rechtsprechung seit 25 Jahren praktiziert wird", sagt Emmelys Anwalt Benedikt Hopmann, "ist sie nicht weniger ein Skandal."
Hopmann erteilt Betriebsräten juristische Beratung und führt Individualprozesse wie den von Emmely. An der Wand in seinem Büro hängt ein Bild von Karl Marx und der Schiller-Spruch: Verbunden sind auch die Schwachen mächtig. "Arbeitsrecht ist reines Interessenrecht", sagt er. Wessen Interessen er meint, ist klar.
Emmely ist eine Kämpferin
Wieso man die Bons überhaupt ihrem Einkauf zugeordnet habe, frage ich Emmely. Sie weiß es nicht. Sie ist überzeugt, es muss sich um eine Verwechslung handeln. Man kann die Zettel nämlich leicht verwechseln. Sie hat es ausprobiert. Hat Flaschen abgegeben in verschiedenen Filialen, zu verschiedenen Zeiten, an verschiedenen Tagen. Manche Zahlen sind auf allen Bons die gleichen. - Während sie mir das gerade erklärt, ruft Anwalt Hopmann an. Auch der hat´s noch nicht ganz verstanden. Emmely erklärt ihm, wie es genau lang läuft mit den Flaschen bei Kaiser´s.
Emmely, wie gesagt, ist eine Kämpferin. Zur Not auch eine Einzelkämpferin. Ihre ehemaligen Kolleginnen kennen sie nicht mehr, sagt sie. Man sieht weg, wenn man sich begegnet. Das erzählt viel über das Klima in unserem Land unter Hartz IV. Das System greift. Es erzieht Duckmäuser, Mitläufer und Denunzianten, nach dem alten Rezept: teile und herrsche. Vielleicht war es ein Fehler, dass Emmely allein weiter gestreikt hat.
Doch die Hoffnung stirbt zuletzt. Und Emmely steht auch nicht ganz allein. Es haben sich Gewerkschafter zu einem Unterstützerkomitee zusammengefunden. Sie rufen auf zur "Solidarität mit Emmely". Ende Juli standen sie am Treffpunkt Storchenhof. Zwei kleine Lautsprecherboxen waren aufgestellt, einer hielt ein selbst gemaltes Plakat hoch. Handzettel wurden verteilt und ein paar Worte gesprochen. Aber die Passanten nahmen wenig Notiz. Eine einzige Kassiererin aus der Kaiser´s-Filiale traute sich aus ihrem Geschäft heraus. In sicherem Abstand, um nicht mit dem Ereignis in Verbindung gebracht zu werden, stand sie vor dem Laden und hörte zu.
Emmely ist entschlossen. "Ich zieh das durch. Egal, wie weit ich dafür gehen muss." Einen Vergleich lehnt sie ab. "Da würde ich ja im Nachhinein doch noch zugeben, dass ich was gemauschelt hab." Man kann nur hoffen, dass sie auf ihrem vielleicht langen Weg erfolgreich sein wird. Denn so viel ist klar: Nur mit der richtigen Überzeugung lässt sich kein Prozess gewinnen. Beim ersten Gerichtstermin redeten ihr Anwalt und der Richter konsequent aneinander vorbei. Anwalt Hopmann argumentierte politisch. Immer wieder stellte er den Zusammenhang zwischen Streik und Entlassung her. Der Richter jedoch ließ sich auf Kaiser´s Argumente ein und wollte keinesfalls die übliche Rechtsauffassung infrage gestellt sehen. Am 21. August wird es eine Beweisaufnahme geben. Da wird es noch einmal ausführlich um die Pfandbons gehen. Emmelys Kolleginnen werden aussagen. Wahrscheinlich gegen sie. Der Richter hat bereits angedeutet, er wolle sein Urteil auf die Zeugenaussagen stützen. "Es ist für meine Mandantin schwer zu verstehen", sagt Hopmann, "dass sie, obwohl ihr Unrecht geschieht, trotzdem den Prozess verlieren kann."
Bis zu dem Termin verbringt Emmely ihre Zeit im Grünen, am Zeuthener See. In Schmöckwitz, am südlichsten Zipfel Berlins, gibt es einen Dauerzeltplatz. Keine Campingwagen stehen dort, sondern große Zelte, wie zwischen die Bäume gewachsen. Von April bis Oktober kommt Emmely her, so oft sie kann, seit 1980 schon. Ihre Mädchen haben hier gespielt, haben hier schwimmen gelernt, sie hat ein Boot da liegen, sie liebt den See. "Waren Sie im Urlaub, fragten mich die Kunden früher oft, wenn ich an der Kasse saß. So entspannt und erholt sah ich aus. Ich bin ein fröhlicher Mensch", sagt Emmely, "gesellig und meistens gut drauf. Ich arbeite gern. Eigentlich."
Die Beweisaufnahme findet am 21. August, 9Uhr, vor dem Berliner Arbeitsgericht, Magdeburger Platz 1, Zimmer 113, statt.
Weitere Informationen: http://www.labournet.de/branchen/dienstleistung/eh/kaisers.html