BUCHTIPP: Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert.

Kritik und Erklärung

28.08.2008 / Von Werner Berthold, Neues Deutschland

Georg G. Iggers: Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. 175 S., br., 12,95 EUR.
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Globale Geschichte und Geschichte der Globalisierung

Die Globalisierung hat den weltkundigen deutsch-amerikanischen Historiker Georg G. Iggers zu einem ausführlichen Nachwort (faktisch ein eigenes Kapitel) zur Neuausgabe seiner »Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert« veranlasst. Indem er auf die »Bedeutung« eingeht, die den »folgenschweren« Ereignissen Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts für die Geschichtsschreibung zukommt, korrigiert er die Meinung Fukuyamas, nach dem Ende des Kalten Krieges käme der Weltfrieden. »Die Auflösung der Sowjetunion ... machte auch den Weg für eine gründliche ökonomische Durchdringung der Welt durch das Finanzkapital frei.«

Für die Historiographie macht Iggers u. a. folgende Trends aus: eine kulturelle und linguistische Wende, Feministische und Gender-Geschichte, Weltgeschichte und Geschichte der Globalisierung sowie ein neues Verständnis der Verbindung von Geschichte und Sozialwissenschaften. Iggers unterscheidet zwischen globaler Geschichte und Geschichte der Globalisierung. Die globale bzw. Weltgeschichte untersucht die Evolution von der Menschwerdung bis zur Gegenwart im Ganzen oder in bestimmten Perioden, einschließlich der kapitalistischen Entwicklung seit dem 15./16. Jahrhundert bis zur Globalisierung. Die Historiographie der Globalisierung sei hingegen vornehmlich unter ökonomischen und kommerziellen sowie auch politischen, militärischen, kulturellen und anderen Aspekten auf die weltumfassende kapitalistische Entwicklung seit dem 19. Jahrhundert konzentriert, die von Europa sowie bald auch von den USA ausging und mit wachsenden Kolonisierungen sowie der Wiedereinführung der Sklaverei und der Ausrottung ganzer Ethnien verbunden war.

Iggers richtet den Blick auf Tendenzen in globalisierungshistorischen Veröffentlichungen, die seit den 90er Jahren sprunghaft angestiegen sind. Er kritisiert, dass »ihr Schwerpunkt vorrangig auf dem internationalen Netzwerk von Gütern, Dienstleistungen und Finanzen und den damit verbundenen globalen Produktions- und Konsumtionsmustern« liegt und würdigt jene Autoren, die auf die »Negativaspekte dieses Vorgangs« hinweisen. Mit der Globalisierung müsse auch der außereuropäische Widerstand von oft gewalttätiger Natur analysiert werden. Einzubeziehen seien auch die weit zurückreichenden Traditionen der Geschichtsschreibung in Regionen wie Ostasien oder der muslimischen Welt sowie die dortige veränderte Rezeption oder Ablehnung westlicher Ideen, einschließlich des Marxismus.

Nach Ansicht Iggers, der schon in den Jahren des Kalten Krieges in den USA Lehrveranstaltungen zu Schriften von Marx durchgeführt und kollegiale Verbindungen zu marxistischen Historikern der DDR unterhalten hatte, ist heute vom marxistischen Gedankengut nicht der »Anspruch auf eine Erklärung der Gesellschaft und der Geschichte« erhalten geblieben, sondern »seine Kritik an der Rolle des Kapitalismus als inländisch wie international wirksame Kraft zur Aufrechterhaltung und Ausweitung sozialer Ungerechtigkeit in Teilen der Welt, die gerade erst der Kontrolle der Kolonialmächte entkommen waren«. Es fragt sich jedoch, ob diese Kritik ohne Erklärung – mit oder ohne Anspruch – möglich ist. Jürgen Osterhammel und N. P. Petersen meinen jedenfalls in ihrem Bestseller »Geschichte der Globalisierung«: »Eine der nach wie vor packendsten Schilderungen des globalen Kapitalismus findet sich im 1848 von Marx und Engels verfassten ›Kommunisti-schen Manifest‹.« Iggers selbst stellt fest, dass sich die feministische und Gender-Geschichte zwar von der marxistischen Geschichtstheorie distanziert, »doch zugleich, meist ohne es einzugestehen, die marxistische Ideologie teilweise« fortführt.

Der deutsch-amerikanische Historiker, der mit Q. E. Wang ausführliche Thesen »Towards a Global History« (2007) vorgelegt hat, warnt vor Eurozentrismus und fordert einen internationalen und interkulturellen Ansatz für die Geschichte der Globalisierung. Er kritisiert, dass sich in der um die DDR vergrößerten Bundesrepublik Deutschland nur rund fünf Prozent der Historiker mit außerdeutscher Geschichte befassen. Mit der neoliberalistischen Globalisierung, die ganz auf den Markt als steuernden Faktor setzt und den Staat hierin als überflüssig ansieht, hat jedoch der demokratische National- und Nationalitätenstaat für die Mehrheit der Bürger keineswegs an Bedeutung verloren, im Gegensatz gewonnen. So kann der Trend zur globalen Geschichte nicht bedeuten, dass Untersuchungen der Geschichte und der Geschichtswissenschaft einzelner Nationen und Staaten überflüssig geworden wären. Wie jede Synopsis ist auch die Globalgeschichte vielmehr auf solche Studien angewiesen. Jede Nation erlebt die Globalisierung im Rahmen ihrer Geschichte. Und gegen den Verlust an sozialer und existenzieller Sicherheit sowie an demokratischer Einflussnahme erschien bislang der demokratische National- wie Nationalitätenstaat als die sicherste Barriere. Diese Funktion dürfte er erst verlieren, wenn die »konkrete Utopie« einer demokratisch legitimierten und kontrollierten Weltorganisation mit Machtmonopol den neoliberalistischen »Raubtierkapitalismus« zu domestizieren vermag.