Der Kaiser Kapitalismus ist nackt

Luc Jochimsen, langjährige Journalistin und Publizistin, über die Gefahr einer Wirtschaftskrise, die Auswirkungen der Finanzkrise auf die Gesellschaft und die Rolle der Medien

20.10.2008 / Wortlaut, www.linksfraktion.de


Die Regierungen stecken weltweit Billionen Euro und Dollar in ihre Rettungspakete für Bankrotteure und Spekulanten. Schröders Hartz-Gesetze haben seinerzeit genauso zu Massenprotesten geführt wie die Kriegspolitik Bushs. Warum gehen die Menschen jetzt nicht auf die Straße?

Die Masse geht nicht auf die Straße, weil sie direkt durch die Finanzkrise nicht betroffen ist. Wer so gut wie nix hat, der kann kaum etwas verlieren und wegnehmen kann man ihm auch nichts mehr. Wenn allerdings auf die Finanzkrise eine Wirtschaftskrise folgt und der Staat die Sozialausgaben kürzen würde, dann trifft es auch die Vielen, die wenig Geld haben. Sie werden sich wehren – bei Wahlen und durch öffentlichen Protest.

DIE LINKE warnt seit längerem vor dem, was über die Republik hereingebrochen ist und sie in Atem hält – und wird dafür als populistisch und demagogisch diffamiert. Wird die Gesellschaft am Ende der aktuellen Finanzkrise noch Kraft haben, um sich ihrer geistigen und moralischen Krise zu stellen?

Die Gesellschaft muss diese Kraft aufbringen. Die Zeichen stehen nicht schlecht. Diese Krise hat Wahrheit ans Licht gebracht. Und im Lichte dieser Wahrheit sieht unsere Wirklichkeit auf einmal ganz anders aus, als bisher von der Mehrheit der Politiker immer behauptet. DIE LINKE wurde populistisch und demagogisch genannt. Nun zeigt sich aber: Sie hatte und hat Recht. Wer jetzt nicht sieht, dass der Kaiser Kapitalismus nackt ist, muss blind sein.

Peter Sodann meint, mit den Maßnahmen des Kapitalismus könne man die Welt nicht zu ihrem Besten verändern. Bildung und Kultur seien hierfür die einzige Lösung.

Der ungezähmte, nicht kontrollierte Kapitalismus ist das Problem. Er schafft eine Gier-Gesellschaft ohne Grenzen. Da wird alles maßlos - der Ehrgeiz, die Gewinnsucht, die Machtlust, die Rücksichtslosigkeit. Das führt zu einem Kulturverlust ohnegleichen. Da hat Sodann recht: Den müssen wir rückgängig machen, und das wird schwer sein, weil Unkultur sich weit verbreitet hat.

Institutionelle Kultur und Bildung stehen in der Regel weit oben auf Sparlisten. Wie sollen sie an den Anfang einer Lösungskette gerückt werden, ohne sie der üblichen Finanzdiskussion zu unterwerfen?

Da könnte die Krise zur Chance werden. Wenn jetzt klar ist, dass umgedacht werden muss - vom Primat der Wirtschaft zur Politik, vom Egoismus zum Gemeinwohl, vom Gewinn als obersten Wert zu den Fragen »Wie wollen wir leben?« und »Wie gerecht sollte eine Gesellschaft sein?«, dann kommen wir ganz schnell zur Grundfrage: Wie viel Kultur und Bildung brauchen wir alle, um eine andere Gesellschaft zu ermöglichen? Jetzt ist es möglich, neue Prioritäten in Bezug auf Kultur und Bildung zu setzen. DIE LINKE muss sie setzen!

Tragen die Medien Mitverantwortung dafür, dass in der öffentlichen Wahrnehmung nicht wesentlich früher die Alarmglocken geläutet haben: Vorsicht, das Ding fährt gegen den Baum?

Es waren die Medien, Fernsehen und Radio – öffentlich-rechtlich wie privat -, die Illustrierten, die Zeitungen, die den blendenden Glanz der neo-liberalen Gesellschaft verbreitet haben. Brot und Spiele. Unterhaltung ist alles, und alles andere ist out. Hauptsache Spannung und Entspannung. Dass die Welt mehr enthält und eine Demokratie mehr von uns allen verlangt, haben sie bewusst ausgeblendet. Bei den kommerziellen Medien gehört das zum Geschäft, bei den öffentlich-rechtlichen ist das ein Skandal. Marcel Reich-Ranicki hat dazu alles gesagt.

Wie bewerten Sie als Journalistin die Rolle, die die Medien in der öffentlichen Debatte über Schlussfolgerungen aus dieser Krise und ihre Ursachen spielen?

Sie tun erstaunt und ahnungslos – von Selbstkritik oder Schlussfolgerungen keine Spur.

linksfraktion.de, 20. Oktober 2008