Die Rückkehr des Staates
Anfang 2007 trat in der EU unter dem Namen „Basel II“ eine Bankenreform in Kraft, die allseits dafür gepriesen wurde, dass sie die direkte staatliche Bankenaufsicht zurückdrängt, die Banken in mehr „Eigenverantwortung“ entlässt und auf die „Marktdisziplin“ statt rechtlicher Vorschriften als Sicherheit gegen Fehlentwicklungen vertraut. Banken ist es seitdem erlaubt, die Risiken der von ihnen vergebenen Kredite weitgehend durch „interne Risikomodelle“ selbst festzulegen und entsprechendes Eigenkapital als Reserve für den Fall des Kreditausfalls zurückzulegen. Diese Teilprivatisierung der Bankenaufsicht hat die Hemmschwelle der Banken gesenkt und ihre Kreditvergabe an Finanzinvestoren und Spekulanten aller Art massiv beflügelt. Gleichzeitig haben sie sich zunehmend selbst in spekulative Geschäfte eingelassen. Das Ergebnis ist zurzeit zu besichtigen. Die Spekulanten haben sich verzockt, die Banken geraten in Schwierigkeiten, der Crash ist da.
In dieser Not ist der Staat wieder willkommen. Die Unverfrorenheit, mit der die Verursacher der Krise jetzt staatliche Subventionen zur „Rettung des Finanzsystems“ fordern, ist ebenso atemberaubend wie die staatliche Bereitschaft, diese Forderung zu erfüllen. Dafür stehen plötzlich wie aus dem Hut gezauberte Bürgschaften bereit – allein mit Blick auf die Hypo Real Estate handelt es sich um 50 Mrd. Euro, von den seitdem erfolgten staatlichen Garantien in zehnfacher Höhe ganz zu schweigen. Und dies, nachdem den Bürgerinnen und Bürgern jahrelang gepredigt wurde, dass angeblich kein Geld vorhanden ist, wenn es um Renten, Bildung und Beschäftigungsprogramme geht.
Der Knüppel, mit dem diese dreiste Forderung gegenüber der Öffentlichkeit durchgeboxt wird, ist die Behauptung, ohne diese Subventionen bräche das gesamte Finanzsystem zusammen, zum Schaden der gesamten Wirtschaft und der „kleinen Leute“. Diese erpresserische Geiselnahme der ganzen Gesellschaft im Interesse der privaten Banken soll Furcht, ein Gefühl der Alternativlosigkeit und daraus resultierend Folgsamkeit erzeugen – gegenüber der Regierung ist dies auch weitgehend gelungen.
In Wirklichkeit handelt es sich jedoch um einen Bluff von Abenteurern, die ihre Felle davonschwimmen sehen. Ein Zusammenbruch des Finanzsystems steht auch im schlimmsten Fall nicht an. Denn erstens verstieße er gegen das existenzielle Interesse der Banken, die ihrerseits über die Mittel verfügen, das System auf eigene Kosten zu stabilisieren. Sollten sie dies aber tatsächlich in einem Anfall selbstzerstörerischen Abenteurertums verweigern, hat zweitens der Staat genügend Möglichkeiten, die Funktionsfähigkeit des Finanzsektors zu gewährleisten. Er muss nur bereit sein und diese Bereitschaft unmissverständlich kommunizieren, die führenden Privatbanken notfalls unverzüglich zu verstaatlichen und unter staatliche Regie zu nehmen, um aus dieser Position heraus zusammen mit der Notenbank die drei zentralen Funktionen des Finanzsystems zu gewährleisten: den reibungslosen Ablauf des Zahlungsverkehrs, die Kreditversorgung der Wirtschaft und die Sicherheit der Bankeinlagen. Je entschiedener der Staat seine Entschlossenheit demonstriert, sich nicht zum Spielball der Finanzmärkte machen zu lassen, umso eher kehrt das Vertrauen der Kunden und – paradoxerweise – auch der Banken in die Verlässlichkeit des Systems zurück. Aus einer solchen Position der demonstrierten Stärke heraus kann dann – mit angedrohter oder tatsächlicher Verstaatlichung – die notwendige kurz- und mittelfristige Neuordnung des Finanzsektors angegangen werden.
Die notwendige Neuordnung des Finanzsektors
Kurzfristig geht es zunächst darum, diejenigen Praktiken abzustellen, die in den letzten beiden Jahren am meisten Schaden angerichtet und das Gesamtsystem akut destabilisiert haben.
Erstens sollten die Verbriefung von und der Handel mit Kreditpaketen grundsätzlich verboten werden. Es handelt sich bei diesen Praktiken um eine Umgehung der Eigenkapitalvorschriften für Banken und um eine unüberschaubare Steigerung der Risiken im Finanzsektor. Ausnahmen von diesem Verbot bedürfen der ausdrücklichen Genehmigung und der dauernden Überwachung durch die Aufsichtsbehörden.
Zweitens sollte die Kreditvergabe an Finanzinvestoren zur Finanzierung von Beteiligungen oder Übernahmen entweder verboten oder durch den Zwang zu einer sehr hohen Eigenkapitalunterlegung so verteuert werden, dass diese Kredite weder für Banken noch für Finanzinvestoren attraktiv sind. In der Vergangenheit hatten die mit einem großen Kredithebel ausgeführten Transaktionen zu dramatischen spekulativen Exzessen geführt. Finanzinvestoren aller Art sollten ihre Investitionen ausschließlich mit dem Kapital finanzieren, das ihnen die Geldbesitzer zur Verfügung stellen.
Drittens sollten die falschen Gehaltsanreize – wie Aktienoptionen – beseitigt werden, die Unternehmensführungen dazu verleiten, ihr Interesse und ihre Politik vorwiegend auf die schnelle Steigerung von Aktienkursen statt auf eine langfristige strategische Entwicklung und Stärkung ihrer Unternehmen zu richten.
Viertens hat die weitgehend unbeaufsichtigte Tätigkeit von Hedgefonds maßgeblich zu den Turbulenzen auf den Finanzmärkten und zur Krise beigetragen; sie sollte daher nicht weiter zugelassen werden.
Neben diesen Sofortmaßnahmen sind jedoch weitere Lehren aus der Finanzkrise zu ziehen. Eine gründliche Neuordnung des Finanzsektors steht an, die sowohl den Banken- und Kreditsektor als auch den Kapitalmarkt und Wertpapiersektor betrifft. Die Trennung beider Bereiche ist erforderlich, weil ihr unkontrolliertes Zusammenspiel maßgeblich zu den spekulativen Überhitzungen geführt hat.
Mit Blick auf die Banken kommt es entscheidend darauf an, sie auf ihre beiden wesentlichen Funktionen zurückzuführen, nämlich die Wirtschaft mit Kredit zu versorgen und das Vermögen der Haushalte und Unternehmen zu verwalten. Das Geschäftsmodell der Universalbank, in der Kredit- und Wertpapiergeschäft in einem Institut vereinigt sind, hat sich allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz nicht bewährt. Nachdem der US-Kongress die im Jahr 1933 mit dem Glass-Steagall-Gesetz verfügte Trennung von Kredit- und Wertpapiergeschäft 1999 zurückgenommen hatte, erhielt die kreditfinanzierte Spekulation neuen Schub. Der Handel mit Wertpapieren und insbesondere der Eigenhandel mit Wertpapieren und Derivaten sollten nicht zum Geschäftsmodell von privaten wie öffentlichen Banken gehören.
Ein europäisches „Basel-III-Paket“ sollte überdies die durch Basel II fehlgeleiteten Bestimmungen zur Absicherung gegen Kreditrisiken in dreifacher Hinsicht korrigieren. Zum einen sollte der Umfang dieser Absicherung grundsätzlich durch die staatliche Bankenaufsicht vorgegeben werden und nicht den internen Modellen der Banken oder privaten Ratingagenturen überlassen bleiben. Sie sollte zum anderen auch nicht auf das individuelle Schuldnerrisiko, sondern auf Gruppen von Schuldnern abstellen. Die in einer solchen Regelung enthaltene Quersubventionierung – die stärkeren Unternehmen zahlen zu viel, die schwächeren zu wenig für die Risikoabsicherung – widerspricht zwar der einzelwirtschaftlichen Logik individueller Risikozurechnung. Sie dient durch ihre ausgleichende und antizyklische Wirkung jedoch der Systemstabilisierung – für die allein politische Aufsicht und Überwachung zuständig und verantwortlich sind. Auch Verkehrsregeln werden schließlich nicht von den Autofahrern erlassen, und sie gelten für alle in gleichem Maße, selbst wenn dadurch der gute Fahrer vielleicht zu stark und der schlechte zu wenig reglementiert wird. Drittens erscheint im Licht der jüngsten Ereignisse auch der Standardsatz von acht Prozent Eigenkapital zu niedrig. Er sollte auf 20 Prozent erhöht werden, mit Aufschlägen für Kredite an besonders riskante Gruppen (wie Finanzinvestoren) oder Abschläge für Kredite an besonders solide Gruppen (wie Staaten).
Entschleunigung der Kapitalmärkte
Die wichtigste Orientierung bei der notwendigen Neuordnung der Kapitalmärkte sollte ihre Entschleunigung sein. Umfang und Geschwindigkeit des Wertpapierhandels haben Dimensionen angenommen, die mit gesamtökonomischer Rationalität nichts mehr zu tun haben. Der weitaus überwiegende Teil des Handels mit Aktien und Anleihen ist Sekundärhandel, das heißt Handel mit bereits ausgegebenen Wertpapieren, die ihre Finanzierungsfunktion bereits hinter sich haben. Zwar ist ein derartiger Handel erforderlich, um die Märkte liquide zu halten, das heißt zu gewährleisten, dass Verkaufswillige jederzeit auf Kaufwillige treffen. Der Umfang und die Geschwindigkeit des Handels haben diese Notwendigkeit jedoch weit überschritten und sind zunehmend spekulationsgetrieben – und sie haben nicht verhindert, dass die Märkte in der Krise austrocknen.
Der Handel mit Wertpapieren sollte in der Regel nicht mit Krediten finanziert werden, so dass auch keine Kreditabsicherung erforderlich ist. Spürbare Steuern auf Finanztransaktionen würden die schnelle Spekulation unattraktiv machen. Ein Lehre aus der Krise ist auch, dass die sehr große Zahl und die Komplexität der Zertifikate, der „strukturierten Produkte“ und der „Finanzinnovationen“ für die Käufer und den größten Teil der Verkäufer unverständlich sind und ausschließlich die Funktion besitzen, letztere mit zusätzlichen Gewinnen zu versorgen. Die auf den Kapitalmärkten angebotenen Anlagemöglichkeiten sollten daher radikal verringert und so standardisiert werden, dass sie für alle verständlich sind. Ähnliches gilt auch für Derivate. Der ökonomisch sinnvolle Zweck der Absicherung gegen Preis- und Wechselkursschwankungen bedarf keiner komplexen Konstruktionen und kann durch einfache Futures oder Forwards erfüllt werden. Was darüber hinausgeht, ist funktionslose Spekulation und sollte in geordneten Finanzmärkten keinen Platz haben.
In diesem Zusammenhang gibt es besonderen Handlungsbedarf für die Neuordnung der Ratingagenturen, die aus Opportunismus gegenüber ihren Auftraggebern reihenweise irreführende Signale in die Märkte gesandt und damit zur Schwere des Zusammenbruchs beigetragen haben. Sie sollten wie Notare einer öffentlichen Zulassung, Überwachung und Gebührenordnung unterliegen und als Ratingagenturen keine Unternehmensberatung durchführen dürfen. Ihre Bezahlung kann aus einem Pool erfolgen, den die Institute finanzieren, die Bewertungen in Auftrag geben. Zusätzlich zu den bestehenden privaten sollten öffentliche Ratingagenturen eingerichtet werden. Sie könnten sich aus den Beschäftigten der nationalen Notenbaken rekrutieren, die seit Gründung der Währungsunion weniger zu tun haben.
Im Ergebnis einer solchen gründlichen Neuordnung würden der Geschäftsumfang und die Rentabilität des Finanzsektors und seiner beiden Säulen, Banken und Wertpapierhandel, vermutlich deutlich zurückgehen. Dies ist angesichts des jeder realen Wirtschaftsentwicklung weit vorauseilenden Wachstums und der exzessiven Profite des Sektors nicht nur unvermeidlich, sondern überaus wünschenswert. Die hierdurch drohenden Arbeitsplatzverluste können vermieden werden, wenn die Banken ihre Kundenbetreuung angemessen ausbauen und verbessern.
Wünschenswert wäre es, wenn die Regierungen der großen Finanzzentren sich auf derartige Reformen im globalen Konsens verständigen würden. Dies ist jedoch nicht zu erwarten, da die politisch Verantwortlichen, gerade – aber keineswegs nur – in den Vereinigten Staaten, hierzu trotz der anhaltenden Krise kaum bereit sein dürften.
Immer neue Profitquellen, immer riskantere Strategien
Der zweitbeste Weg ist daher eine europäische Initiative zur Neuordnung zumindest der europäischen Finanzmärkte, von der dann auch Anreizwirkungen auf andere Weltregionen ausgehen können. Hierbei könnten große Länder wie Deutschland und Frankreich durchaus eine eigenständige Initiative ergreifen und eine selbstständige Vorreiterrolle spielen, also einige Maßnahmen schon einmal im Alleingang umsetzen.
Um eine europäische Reform nach außen abzusichern und vor spekulativen Attacken und Kapitalab- oder -zuflüssen zu schützen, muss die EU allerdings das Dogma der unbeschränkten Kapitalverkehrsfreiheit fallen lassen. Das ist weniger revolutionär, als es in neoliberalen Ohren klingt. Im EU-Vertrag ist eine Reihe von politischen und ökonomischen Ausnahmen vom Gebot der Kapitalverkehrsfreiheit vorgesehen. Zu diesen gehören die dort in Artikel 59 genannten „außergewöhnlichen Umstände“, in denen „Kapitalbewegungen nach oder aus dritten Ländern [...] das Funktionieren der Wirtschafts- und Währungsunion schwerwiegend stören oder zu stören drohen“. In einem solchen Falle kann die EU die notwendigen Schutzmaßnahmen zumindest für sechs Monate ergreifen, „wenn dies unbedingt erforderlich ist.“
Bei aller Wünschbarkeit und notwendigen politischen Konzentration auf die skizzierten Sofortmaßnahmen und weiter gehenden Reformen zur Stabilisierung und Neuordnung der Finanzmärkte sollten die Grenzen einer solchen Politik allerdings nicht außer Acht bleiben. Sie sind darin begründet, dass die Triebkräfte für den finanzmarktgetriebenen Kapitalismus weder in der unersättlichen Gier und Spekulationssucht der Menschen noch in der exzessiven Kreditvergabe der Banken liegen. Sie liegen vielmehr zum einen in der jahrzehntelangen Umverteilung von Einkommen und Vermögen von unten nach oben. Diese hat an der Spitze der Gesellschaft eine ständig wachsende Ansammlung von Finanzvermögen geschaffen, das nicht in den reproduktiven Kreislauf zurückgeschleust wird, weil es unten an Kaufkraft fehlt.
Diese Ansammlung wird zum anderen zusätzlich durch die Privatisierung der Rentensysteme vorangetrieben: Rentenversicherungsbeiträge, die im solidarischen Umlagesystem direkt an Rentnerinnen und Rentner ausgezahlt wurden, wandern in der Folge der Umstellung auf kapitalgedeckte Systeme langfristig in private Pensionsfonds auf den Kapitalmärkten.
Diese beiden Megatrends schaffen den Druck, der Finanzinvestoren dazu treibt, immer neue Profitquellen für die Geldbesitzer zu suchen und dabei auch zu immer riskanteren Strategien Zuflucht zu nehmen. Um diesen Druck zu vermindern und damit der Neuordnung des Finanzsektors ein langfristig stabiles Fundament zu geben, ist eine Umkehr der beiden Megatrends erforderlich, das heißt eine deutlich gleichmäßigere und gerechtere Einkommens- und Vermögensverteilung und ein Ausbau der solidarischen Finanzierung der Alterssicherung durchzusetzen. Beides geht allerdings weit über Finanzmarktpolitik hinaus. Es handelt sich um wesentliche Pfeiler einer demokratischen Makro-, Verteilungs- und Sozialpolitik, in deren Rahmen die neu geordneten Finanzmärkte dann ihre wichtige und nützliche Rolle spielen können.