Dierk Hirschel ist Chefökonom des Deutschen GewerkschaftsbundsAls Grund für die Finanzkrise wird häufig ein Überangebot von Kapital an den Finanzmärkten genannt. Wie kam es dazu?
Die
200 Billionen US-Dollar schwere Kapitalschwemme resultiert in erster
Linie aus der Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten
nach oben. Wir haben das Problem einer massiven Einkommens- und
Vermögenskonzentration, die politisch gefördert wurde. Die Verschiebung
der Machtverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt zugunsten der Unternehmen
hat die Gewinne explodieren und die Sparquote steigen lassen. Die
andere Seite der Medaille ist die Unterkonsumtion der mittleren und
unteren Einkommen.
Also führt steigender Reichtum zu weniger Wachstum?
Nicht
notwendigerweise. Die Besserverdiener sparen aber ein Viertel ihres
Einkommens. Sie entscheiden dann, ob sie das Geld in die Realwirtschaft
investieren, konsumieren oder auf den Finanzmärkten anlegen. In den
vergangenen Jahren waren Finanzanlagen rentabler, und das Geld floß
dorthin. Die Investitionsquote ist heute deshalb niedriger als in den
achtziger Jahren. So wurden zeitweise nur 25 Prozent der
Unternehmensgewinne reinvestiert. Doch damit nicht genug: Große
Industriebetriebe sind heute vielfach Banken mit angeschlossener
Produktionsabteilung. Porsche hat 2007 mit Finanzgeschäften 3,6
Milliarden Euro erlöst. Das war mehr als mit dem Verkauf von
Automobilen. So leben wir realwirtschaftlich – im Hinblick auf Wachstum
und Beschäftigung - unter unseren Verhältnissen.
Welchen Anteil hat die Realwirtschaft an der Finanzkrise?
Die deutsche Realwirtschaft war der Trittbrettfahrer der
Weltwirtschaft. Die US-Amerikaner spielten jahrzehntelang den globalen
Konjunkturmotor. Sie finanzierten ihren Konsum auf Pump mit billigem
Geld der Zentralbank. Wir lieferten immer mehr Waren ins Ausland und
stützten uns auf den Export, der Binnenmarkt wurde vernachlässigt. Nur
China hat verstanden, daß die USA als internationale
Konjunkturlokomotive zukünftig ausfallen. Die Chinesen haben deswegen
ein gigantisches Konjunkturprogramm von rund 600 Milliarden US-Dollar
aufgelegt. Auch Deutschland müßte seinen Binnenmarkt entwickeln und von
der krankhaften Exportabhängigkeit wegkommen. Denn eine schlechte
Binnennachfrage leitete das Geld der Vermögenden auf die Finanzmärkte
um. Die Banken setzen vermehrt auf Spekulation, da sie im Inland
aufgrund der Wirtschaftsschwäche nur noch wenig Geld verdienen konnten.
Was halten Sie von Befürchtungen, wir würden in eine ähnlich
verheerende Wirtschaftskrise wie nach dem großen Crash von 1929
schlittern?
Die drohenden sozialen Verwerfungen sind nicht vergleichbar. Trotz
Sozialabbau sorgen Steuern, Transferzahlungen und soziale Sicherung
dafür, daß nach Verteilung heute »nur« 16 Prozent unter die
Armutsgrenze fallen. Ohne Sozialstaat wären es 40 Prozent. Auch in der
Krise ist der Sozialstaat weiterhin wirkungsmächtig, obwohl seine
Wirksamkeit in den letzten Jahren geschliffen wurde. Das war in der
Weimarer Republik anders. Und wirtschaftspolitisch haben wir aus den
damaligen Fehlern gelernt. Zumindest in den Mutterländern des
Kapitalismus, in Großbritannien und den USA, werden wir ein
wirtschaftspolitisches Gegensteuern erleben.
Der neugewählte US-Präsident Barack Obama hat sich in seiner
Siegesrede auf Franklin D. Roosevelt und dessen »New Deal« berufen.
Würde ein solcher »New Deal« die Neoliberalen in Deutschland in die
Defensive drängen?
Was die USA betrifft, bin ich aufgrund der schlechten Erfahrungen mit
der Clinton-Regierung zunächst skeptisch. Die hohen Erwartungen wurden
damals enttäuscht. Wir müssen abwarten, ob die bisherigen Machtblöcke
ihre Politik weiter verfolgen. Die Wall Street ist geschwächt, das
Geschäftsmodell Investmentbank beerdigt. Aber der US-Geldfilz existiert
weiter. Und wie wird die Ölindustrie auf den angekündigten ökologischen
Umbau reagieren? Erst wenn diese Fragen geklärt sind, wissen wir, ob es
in den USA eine fortschrittliche Politik geben wird. Positiv in
Deutschland ist, daß wir erstmals seit 35 Jahren wieder über
Konjunktursteuerung sprechen. Das Konjunkturprogramm der
Bundesregierung ist tatsächlich aber rein angebotsorientiert und wird
nur einen kosmetischen Effekt auf Wachstum und Beschäftigung haben. Wir
brauchen aber mehr öffentliche Investitionen. Darüber hinaus müssen die
Zinsen weiter sinken und die Löhne steigen.