Durch Nichtstun in die Rezession
Wer hätte das für möglich gehalten: In Talkshows und Zeitungen werden jetzt wieder Argumente hörbar, die noch vor kurzem nur abfällig als „links“, gleichbedeutend mit absurd, bezeichnet worden wären. Die Finanzmarktkrise hat teilweise eine Rhetorik gezeitigt, die noch vor wenigen Wochen als sozialistische Wahnvorstellung diffamiert worden wäre.
Doch mehr noch: Laut einer aktuellen Forsa-Umfrage plädiert inzwischen eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung für die Teilverstaatlichung von Konzernen. 77 Prozent der Bürger sind dafür, dass der Staat Anteile an Strom- und Gasversorgern übernimmt, 64 Prozent dafür, Banken und Versicherungen teilweise zu verstaatlichen und 60 Prozent plädieren für Post und Bahn in öffentlicher Hand. Schon deshalb sollte sich die Deutsche Bundesbahn ihre bisher ja nur aufgeschobene Privatisierung noch einmal gut überlegen – selbst wenn die schönen Manager-Boni dann endgültig und ersatzlos entfielen.
Auch wenn derzeit noch kein neues, taugliches Paradigma zur wirksamen Regulierung der außer Rand und Band geratenen Finanzmärkte erkennbar ist: Selbst die vor wenigen Wochen noch beinharten Verfechter der reinen Lehre vom deregulierten Markt fordern inzwischen streng kontrollierte Spielregeln. Gegenüber diesem angeblichen Gesinnungswandel ist jedoch Skepsis angesagt. Es besteht die Gefahr, dass nach einer Sozialisierung der gigantischen Verluste (durch Übernahme der faulen Kredite in den Staatshaushalt) erneut zur Tagesordnung übergegangen wird. Entsprechende Hinweise gibt der offenherzige Kommunikator Ackermann von der Deutschen Bank, wenn er jetzt fordert, die Regulierungen nicht zu verschärfen. In den USA scheint dies bereits der Fall zu sein – siehe die Ausschüttung enormer Dividenden durch viele derjenigen Banken, deren Überleben soeben erst mit einem staatlichen Rettungspaket gewährleistet wurde. Dabei handelt es sich um nicht anderes als einen Fall direkter Umverteilung von Steuergeldern an Bank-Aktionäre.
Bereits heute steht deshalb fest: Wenn nicht die eigentlichen Ursachen abgestellt werden, ist die nächste Megakrise gewiss. Entscheidend ist die Frage nach den Quellen, aus denen das Geldkapital stammt, auf das sich heute die Herrschaft der Finanzmärkte gründet.
Die neoliberale Internationale
In den letzten Jahren hat ein gigantischer Mittelzufluss in die Kapitalsammelstellen von Investmentbanken, Hedge- und Private-Equity-Fonds mit dem Ziel stattgefunden, schnell hohe Profitraten zu erzielen. Dies ist die bittere Folge einer tiefgreifenden Umverteilung der Einkommen zugunsten der Kapitalgewinne und zulasten der Masseneinkommen. Die unzureichende Kaufkraft belastet wiederum massiv die Binnenwirtschaft – mit drastischen Folgen für die Konjunktur.
Es war die neoliberale Internationale, forciert durch die Reaganomics und den Thatcherismus, die den Kapitalzufluss auf die Finanzmärkte vorangetrieben hat. In der Bundesrepublik hat auch die rot-grüne Regierungspolitik mit ihrer neoliberalen Agenda 2010 diese Umverteilung forciert. So ist der Anteil der Arbeitseinkommen am Bruttoinlandsprodukt seit 2000 von 72,2 auf 64,6 Prozent (2007) zurückgegangen. (Darin schlägt sich auch der rapide Bedeutungsgewinn des Niedriglohnsektors nieder – der allerdings in der kommenden Rezession wieder als erster „abgebaut“ werden dürfte, schon wegen einbrechender Aufträge.) Im Widerspruch zur offiziellen Rechtfertigung ist der Gewinnvorsprung von der Unternehmenswirtschaft nicht nur in die Finanzierung von Sachinvestitionen gelenkt worden, sondern zusammen mit dem Großteil der Dividenden vor allem auf den Finanzmärkten gelandet. Aber auch die damals als Finanzinnovationen hochgelobten, neuartigen „Produkte“ – etwa Zertifikate und Leerkäufe, die sich jetzt als wesentlicher Auslöser der Krise erweisen – sind erst von den rot-grünen „Modernisierern“ in Deutschland zugelassen worden.
Kollektives Versagen
Derzeit beschränken sich die Analysen über die Finanzmarktkrise vor allem auf die Banken. Die Realwirtschaft wird dagegen eher als Opfer von deren Missmanagement beschrieben. Dabei sind die großen Unternehmen allemal Mitverursacher der Krise. Auch sie hatten in den letzten Jahren gigantische Gewinnzuwächse zu verzeichnen. Anstatt jedoch die Beschäftigten an den Ergebnissen ihrer Wertschöpfung angemessen zu beteiligen, speisten die Produktionsunternehmen die aus dem Ruder laufenden Finanzmärkte mit ihren Liquiditätsüberschüssen. Diese Umverteilungspolitik ist, wie sich heute zeigt – und ein Ende ist bis auf weiteres nicht absehbar –, nicht „nur“ ungerecht, sondern auch gesamtwirtschaftlich dumm. Denn die Binnenwirtschaft wurde durch einen seit Jahren nahezu stagnierenden Konsum der Privathaushalte geschwächt – mit verheerenden Folgen für die Konjunktur.
Verschärft wurde diese direkt in die Rezession führende Unternehmenspolitik durch die Finanzpolitik des Bundes, die sich auf die im Abschwung zerstörerisch wirkende Nullverschuldung ab 2011 monoman fixiert hat. Über Jahre produzierte der Staat auf diese Weise Nachfrageverluste in Milliardenhöhe, statt eine tatsächlich am Wachstumspotential ausgerichtete Ausgaben- und Steuerpolitik zu betreiben.
Die erforderliche Antwort auf die 2009 drastisch schrumpfenden Exportzuwächse und die Finanzmarktkrise liegt auf der Hand: Die Binnenwirtschaft muss eine Führungsrolle im Kampf gegen die ansonsten sich beschleunigende Rezession übernehmen. Die beiden wichtigsten Maßnahmen sind eine expansive Lohnpolitik, die überschüssige Gewinne endlich an die Beschäftigten rückverteilt – zum Nutzen der Binnenwirtschaft (insofern bewegen sich die soeben erzielten Abschlüsse in der Metallindustrie an der unteren Grenze des Erforderlichen), sowie eine gegen die Abschwungdynamik expansiv eingesetzte Finanzpolitik – samt wirksamem öffentlichem Zukunftsinvestitionsprogramm, das die Konjunktur durch die Realisierung zukunftswichtiger öffentlicher Investitionen stärkt.
Doch eine echte Umkehr ist bis heute nicht absehbar. Das zeigt das am 5. November von der Bundesregierung beschlossene dünne „Konjunkturpaket“, das seinen Namen kaum verdient. Es ist derart ungenügend, dass selbst der seinerseits jahrelang neoliberal ausgerichtete Sachverständigenrat deutliche Worte fand. Die fünf sogenannten „Wirtschaftsweisen“ bezeichneten das Paket in ihrem Jahresgutachten am 11. November als großenteils sinnloses „Sammelsurium von unzusammenhängenden Einzelmaßnahmen“. Es werde den gewaltigen Herausforderungen der kommenden Monate in keiner Weise gerecht. Zahlreiche Programmpunkte seien lediglich „Ausdruck eines zum Teil industriepolitisch motivierten Aktionismus“, der das angestrebte Ziel, die nachhaltige Ankurbelung der Wirtschaft, zwingend verfehlen müsse. Konsequenterweise postulieren sie mehr als eine Verdopplung der Ausgaben. Während Finanzminister Peer Steinbrück in den kommenden beiden Jahren zusammen 12 bis 13 Mrd. Euro in die Hand nehmen will, fordern sie Ausgaben von rund 12,5 bis 25 Mrd. Euro – pro Jahr! Das Eingeständnis, dass mit öffentlicher Kreditaufnahme der Konjunkturimpuls finanziert werden muss, gleicht einem revolutionären Paradigmenwechsel. Allerdings ist die Gefahr groß, dass bald wieder zur Staatsschuldendisiziplinierung übergegangen wird.
Expansiv gegen die Rezession
Tatsächlich reduziert die Bundesregierung die ihr mögliche Politik bisher in sträflicher Weise – neben dem völlig ungenügenden Konjunkturpaketchen auf das (leider) unvermeidbare Notprogramm für Banken sowie die Debatte um streng kontrollierte Spielregeln auf den Finanzmärkten. Die Finanzpolitik muss aber endlich auch ihre gesamtwirtschaftliche Verantwortung wahrnehmen. Der Sachverständigenrat geht bereits heute davon aus, dass die Konjunktur im kommenden Jahr nur noch um 0,2 Prozent wachsen wird. Die Prognose darf als sehr optimistisch bezeichnet werden. Immerhin ist die Fahrt in Richtung Rezession, das heißt Rückgang der absoluten Produktion, inzwischen unbestritten. Wenn jetzt nichts weiter geschieht, werden die Steuerausfälle gigantisch steigen. Am Ende nimmt durch Nichtstun die Staatsverschuldung weiter sinnlos zu. Der Sachverständigenrat hat deshalb völlig recht: Nur mit einer wachstumsstärkenden nachfrageorientierten Politik lassen sich die öffentlichen Haushalte über zukünftige Mehreinnahmen an Steuern nachhaltig sanieren.
Anstatt, wie von interessierter Seite, insbesondere der FDP, eifrig gefordert, die Einkommensteuern zu senken (was zudem nur den Besserverdienenden, aber kaum der Binnennachfrage zugute käme), sollte die Bundesregierung umgehend ein auf mehrere Jahre angelegtes Zukunftsinvestitionsprogramm umsetzen – mit einem Einstiegsvolumen von 30 Mrd. Euro für das kommende Jahr. Dabei geht es um weit mehr als das so oft – insbesondere vom Bundesfinanzminister behauptete – kurzlebige Strohfeuer, nämlich um die dringend erforderliche Finanzierung öffentlicher Investitionen in Schulen, um den Ausbau der Infrastruktur zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, um Forschung und Lehre an den Hochschulen, den ökologischen Umbau sowie den Ausbau des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs. Insbesondere Letzteres wird völlig zu Recht auch vom Sachverständigenrat gefordert. Wobei stets zu befürchten bleibt, dass auch der Sachverständigenrat in die alten Dogmen zurückfällt, sobald die ersten Krisenphänomene überwunden sind.
Was verheerende Folgen hätte: Der Blick auf die Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1932 belegt die Dringlichkeit einer langfristig angelegten, expansiv steuernden Finanzpolitik. Reichskanzler Heinrich Brüning verschärfte in Deutschland mit seiner fiskalischen Schrumpfpolitik per Notverordnungen die Krise und bereitete ökonomisch den Boden für den Aufstieg des Hitlerfaschismus. Dagegen durchbrach Franklin D. Roosevelt in den USA mit seiner unorthodoxen New-Deal-Politik ab 1933 erfolgreich die ökonomische Abwärtsspirale.
Auch heute ließe sich mit einem „New Deal“ Vertrauen in die Wirtschaft und in eine positive Jobentwicklung herstellen. Ein Blick auf die sich zumindest in Ansätzen bereits abzeichnende Politik der neuen US-Regierung könnte uns darüber belehren. Wer indes nur die Banken saniert, aber nicht gleichzeitig mit einem gezielten Konjunkturprogramm für eine sozial und ökologisch verantwortliche Wirtschaftsentwicklung sorgt, muss auch in dieser Krise scheitern. Die Leidtragenden aber, wie schon bei der milliardenschweren Absicherung der Banken, wären wir alle.