Lafontaine. Wer Angst vor dem Wort »Konjunkturprogramm« hat, soll Deutschlands Strukturdefizite beseitigen
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich stimme dem Bundesminister des Auswärtigen zu: Europa stand in den letzten Monaten vor großen Herausforderungen. Das ist überhaupt nicht zu bestreiten. Ich stimme ihm auch darin zu, dass wir Veranlassung haben, dem französischen Präsidenten für seine Amtsführung in den letzten Monaten zu danken; denn er hat in dieser schwierigen Situation eines sofort erkannt: Auf diese Herausforderung kann man nicht durch nationalstaatliches Handeln reagieren, vielmehr muss man gemeinsame europäische Antworten finden. Dass er dies erkannt und durchzusetzen versucht hat, dafür gebührt ihm nach unserer Auffassung Dank.
(Beifall bei der LINKEN)
Der Bundesaußenminister hat vorgetragen, es sei gut, dass sich in Europa alle einig sind. An dieser Aussage bestehen berechtigte Zweifel. Es wäre schön, wenn sich alle in Europa einig wären und man eine gemeinsame Antwort fände. Aber festzustellen ist, dass es in Europa sehr unterschiedliche Auffassungen gab und dass insbesondere die Bundesregierung diejenige war, die eine einheitliche europäische Antwort auf die Herausforderung eher hintertrieben denn befördert hat.
(Beifall bei der LINKEN)
Dafür gibt es nun Gründe. Wenn beispielsweise die Bundeskanzlerin in Frankreich als „Madame Non“ bezeichnet wird, dann kommt dies nicht von ungefähr. Es kommt schlicht und einfach daher, dass sie am Anfang, als man versuchte, gemeinsame Antworten zu finden, nicht bereit war, die notwendigen Kompromisse einzugehen, und gewissermaßen zum Jagen getragen werden musste. Insofern wäre es redlich, auch dies einmal anzumerken. Deutschland ist die größte Volkswirtschaft in Europa. Deutschland hätte eigentlich vorangehen müssen, um eine gemeinsame Antwort zu finden, und nicht als Blockierer dastehen dürfen.
(Beifall bei der LINKEN)
Wenn irgendjemand Zweifel daran hat, dass diese Analyse richtig ist, dann erinnere ich daran, dass der Herr Bundeswirtschaftsminister zu Beginn der Krise sagen zu müssen meinte, ein jeder kehre vor seiner eigenen Tür. Hätte in Europa wirklich jeder vor seiner eigenen Tür gekehrt, dann sähe die Situation jetzt noch viel schlechter aus. Insofern ist es gut, dass es von Anfang an europäische Staatsmänner gab, die erkannt hatten, dass wir gemeinsam handeln müssen, und nicht solche dummen Sprüche absonderten, wie es hier in Deutschland geschah.
(Beifall bei der LINKEN)
An dieser Stelle ist auch darauf hinzuweisen, dass es nicht glücklich ist, wenn sich der Bundesfinanzminister so aufführt, wie er es auf europäischer Ebene getan hat. Wenn er beispielsweise meint, sich über Gordon Brown lustig machen zu müssen, dann ist demgegenüber festzuhalten, dass dieser schneller und konsequenter als diese Bundesregierung reagiert hat. Insofern besteht für solche Überheblichkeit überhaupt kein Anlass.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP)
In diesem Zusammenhang hat der Bundesfinanzminister zum Ausdruck gebracht, die Mehrwertsteuersenkung in Großbritannien sei lächerlich, weil es schließlich keinen großen Unterschied mache, eine Ausgabe für 97,50 Euro anstatt für 100 Euro zu tätigen. Eine solche Auffassung kann man zwar vertreten; wenn man selbst aber vorher in Deutschland der Auffassung war, für ein paar hundert Euro Kraftfahrzeugsteuerermäßigung kauften sich alle Leute schnell ein Auto, befindet man sich nicht in einer günstigen Position, sondern dann fällt ein solcher Vorwurf zumindest auf einen selbst zurück.
(Beifall bei der LINKEN und der FDP - Dr. Guido Westerwelle (FDP): Das ist wahr!)
Der französische Ratspräsident hat noch einmal den von Jacques Delors stammenden Vorschlag - ich sage dies ganz bewusst - einer europäischen Wirtschaftsregierung eingeführt. Für meine Fraktion erkläre ich, dass wir diesen Vorschlag nach wie vor für richtig halten, weil dies am Anfang der europäischen Wirtschaftsunion völlig unstreitig war. Diejenigen, die die Krönungstheorie vertraten, waren zugleich der Auffassung, man brauche zunächst gemeinsame politische Organe und erst dann eine gemeinsame Währung. Man kann eine ganze Reihe von Gründen anführen, um zu einer solchen Auffassung zu kommen. Wenn man sich aber schon für den umgekehrten Weg aus sachlichen und politischen Erwägungen heraus entschieden hat, zuerst eine gemeinsame Währung einzuführen, ist es umso logischer, zu sagen: Dann müssen auch die Wirtschafts- und die Finanzpolitik sowie nach Möglichkeit die Lohnpolitik im gesamteuropäischen Raum koordiniert werden, wenn man optimale makroökonomische Ergebnisse haben will.
(Beifall bei der LINKEN)
Deshalb begrüße ich, dass dieser Delors-Vorschlag noch einmal vom
französischen Staatspräsidenten auf die Tagesordnung gesetzt wird.
Nun hat der Bundesaußenminister gesagt - ich bedauere, dass er sich
vertieft unterhält; er hat sicherlich Gründe dafür -: Gut, dass sich
alle in Europa einig sind. - Ich möchte hier für meine Fraktion
erklären: Es wäre gut, wenn sich alle in der Bundesregierung einig
wären. Dann wären wir ein ganz großes Stück weiter.
(Beifall bei der LINKEN)
Was die Bundesregierung aufführt, ist nichts anderes als Affentheater. Jeder Minister hat irgendeinen anderen Vorschlag. Es ist ganz ungewöhnlich, dass eine Regierung zu einem Palaverklub denaturiert, in dem jeder andere Vorschläge in ökonomischen Fragen hat. Der eine ist für Steuersenkungen, der andere ist dagegen. Der eine ist für Konjunkturprogramme, der andere ist dagegen. Der eine sagt: Die Sozialabgaben müssen sinken. Der andere sagt etwas ganz anderes. Die entscheidende Frage ist doch: Wie will man denn auf europäischer Bühne eine überzeugende Figur abgeben, wenn alle Mitglieder des Bundeskabinetts unterschiedliche Auffassungen in den Kernfragen haben? Das ist nicht mehr nachvollziehbar.
(Beifall bei der LINKEN)
Trotz der Angst, die Sie davor haben, das Wort „Konjunkturprogramm“ in den Mund zu nehmen, möchte ich sagen: Sie würden allen europäischen Ländern erheblich helfen, wenn Sie die Strukturdefizite Deutschlands beseitigten. Diese möchte ich für meine Fraktion benennen:
Erster Punkt. Jeder weiß, dass wir 1 Prozent, bezogen auf das Bruttosozialprodukt, weniger für Bildung ausgeben als die anderen OECD-Staaten im Durchschnitt.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Daraus wäre der einfache Schluss zu ziehen: Jawohl, wir beseitigen dieses strukturelle Defizit und geben in Zukunft 1 Prozent mehr für Bildung, Forschung und Wissenschaft aus. Es ist doch nicht so schwer, zu einem solchen Ergebnis zu kommen.
(Beifall bei der LINKEN)
Zweiter Punkt. Jeder in diesem Hause kann überprüfen, dass wir 1 Prozent weniger in die Infrastruktur investieren als die anderen Staaten der Europäischen Gemeinschaft im Durchschnitt. Angesichts dessen ist es doch nicht so schwer, zu dem Ergebnis zu kommen: Lasst uns in Zukunft dafür Sorge tragen, dass wir genauso viel in die Infrastruktur investieren wie die anderen Staaten der Europäischen Gemeinschaft im Durchschnitt!
(Beifall bei der LINKEN)
Das sind, bezogen auf das Bruttosozialprodukt, saldiert die 50 Milliarden Euro, von denen immer die Rede ist. Man kann das für richtig oder für falsch halten, aber diese Vorschläge sind logisch und liegen vor.
Dritter Punkt. Ein weiteres strukturelles Defizit in Deutschland stellt - darüber herrscht sicherlich keine Übereinstimmung in diesem Haus - die Lohnentwicklung dar. Wir haben einen Abfall der Lohnquote zu verzeichnen, der zumindest für die deutsche Volkswirtschaft, wenn nicht sogar für Gesamteuropa von Bedeutung ist. Ich will die Zahlen nennen. Hätten wir noch die Lohnquote des Jahres 2000, dann hätten die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland rund 140 Milliarden Euro mehr an Bruttolöhnen. Dieses strukturelle Defizit muss man beseitigen. Daher haben wir Vorschläge betreffend Hartz IV und den Mindestlohn gemacht; denn dieses Defizit können wir uns auf Dauer nicht leisten.
(Beifall bei der LINKEN)
Das vierte strukturelle Defizit ist das, was der Wirtschaftsweise Bofinger als Entstaatlichung bezeichnet. Er hat die Entstaatlichung der letzten zehn Jahre beziffert. Die Bundesregierung hat uns dankenswerterweise die Auskunft gegeben, dass wir dann, wenn wir die gleiche Staatsquote wie im Jahr 2000 hätten, Mehrausgaben in Höhe von 118 Milliarden Euro pro Jahr hätten. Mit anderen Worten: Erklärte die Bundesregierung nur, sie beseitigte die strukturellen Defizite, die sich über Jahre bei Bildung, Infrastruktur, Löhnen und Staatsausgaben aufgebaut haben, würden wir massiv dazu beitragen, dass Europa die richtige Antwort auf die Krise fände.
(Beifall bei der LINKEN)
Ich will noch etwas zu den infrage stehenden Programmen sagen. Natürlich muss man sich entscheiden. Wenn der Bundesfinanzminister richtigerweise sagt: „Die Hälfte der Haushalte zahlt keine Steuern“ - er meint natürlich die andere Hälfte der Haushalte, die Lohn- und Einkommensteuer zahlt -, dann ist das einfach nur eine statistische Feststellung. Natürlich kann man daraus die Konsequenz ziehen - wir halten das für die falsche Antwort -: Wir helfen der Hälfte der deutschen Haushalte, die Lohn- und Einkommensteuer zahlen. Man kann zu diesem Ergebnis kommen. Dies ist aber rein makroökonomisch nicht so effizient, als wenn man der Hälfte der deutschen Haushalte hilft, die keine Lohn- und Einkommensteuer zahlen, indem man ihnen mehr Einnahmen verschafft; denn diese Haushalte tragen das Geld in die Kaufhäuser. Hier haben wir die höchste Konsumrate. Das ist die Antwort, die wir empfehlen.
(Beifall bei der LINKEN)
Nun noch eine Bemerkung zur Umwelt. Natürlich ist es richtig wer wollte kritisieren, dass Sie, Herr Bundesaußenminister, Kompromisse schließen müssen. Es wäre einfach naiv, zu sagen: Um Himmels willen, ihr dürft keine Kompromisse schließen! - Natürlich kann man darüber rechten, ob das weite Entgegenkommen gegenüber der Energiewirtschaft richtig war. Eines kann man auf jeden Fall sagen: Wenn Sie hier - nach unserer Auffassung richtigerweise - den technologischen Fortschritt reklamieren und sagen, wir müssten einen höheren Anteil an erneuerbaren Energien in der Zukunft erreichen, dann müssen wir im Inland die technischen und strukturellen Voraussetzungen dafür schaffen. Das heißt für uns: gesamtstaatliche Verantwortung für die Netze und Dezentralisierung der Energieversorgung; sonst werden wir die hehren Ziele, was die erneuerbaren Energien in Deutschland angeht, nicht realisieren.
(Beifall bei der LINKEN)
Eine letzte Bemerkung, auch wenn Sie das immer wieder ärgert: Wir definieren Demokratie nicht nur vom Formalen, sondern auch vom Ergebnis her. Eine demokratische Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der sich die Interessen der Mehrheit und nicht die Interessen der Minderheit durchsetzen. Das gilt nicht nur für Deutschland, das gilt auch für Gesamteuropa. Deshalb zitiere ich an dieser Stelle gern Karl Arnold: Formale politische Demokratie auf der einen Seite, aber Absolutismus in der Wirtschaft, das wird und kann auf Dauer nicht funktionieren. - Wir wollen zu einem demokratischen und sozialen Europa kommen. Wir wollen an die Stelle des Neoliberalismus der letzten Jahrzehnte die Wirtschaftsdemokratie als gesamtgesellschaftliches Konzept setzen.
(Beifall bei der LINKEN)
Ich kann auch nicht nachvollziehen, dass hier begrüßt wird, dass die Iren noch einmal abstimmen müssen. Es wäre doch ganz schön, wenn man nicht immer nur auf der Ebene der Regierungen denken würde und der irischen Regierung Komplimente dafür machen würde, dass sie bereit ist, noch einmal abstimmen zu lassen. Wir sind der Auffassung, dass Demokratie ernst zu nehmen ist. Wir alle haben in den letzten Jahrzehnten die Bevölkerung viel zu wenig an dem Fortschritt der europäischen Einigung teilhaben lassen.
(Beifall bei der LINKEN)
Deshalb plädieren wir für Volksabstimmungen. Wir halten es für einen Fehler, immer wieder zu sagen: Wenn ihr nicht so abstimmt, wie wir wollen, dann müsst ihr halt noch einmal abstimmen. - So werden wir das demokratische und soziale Europa nicht voranbringen.
Noch eine allerletzte Bemerkung: Wenn jetzt nach dem Deutschen Gewerkschaftsbund auch die Sozialdemokratische Partei den Vorschlag, den wir seit längerem machen, nämlich eine soziale Fortschrittsklausel in das europäische Vertragswerk aufzunehmen, macht, dann sollte man versuchen, vor Verabschiedung eines Vertrages eine solche Fortschrittsklausel zu verankern, damit Europa nicht nur demokratisch, sondern auch sozial wird.
(Beifall bei der LINKEN)