Jörg Huffschmid. 1940 – 2009.

Nachruf von Rainer Rilling

10.12.2009

Viele halten die Dringlichkeit von radikaler Veränderung nicht aus. Sie resignieren, setzen bloß noch auf kleinste Schritte oder die großen Abkürzungen, verdrängen, was sie sehen oder flüchten in die Romantik träumerischer Utopien. Eines der zentralen Evolutionsgeheimnisse des Kapitalismus ist seine ständig erneuerte Fähigkeit zur Herstellung von solchen (und Tausend mehr) Möglichkeiten, derlei Fluchten so hinzuregeln, dass sie ihn verändern, aber seine Identität sichern. Die Linke hat, nicht erst seit Rosa Luxemburg, diese Frage von radikaler Veränderung gestellt, von Reform, Revolution, Transformation.

Jörg Huffschmid, geboren 1940, ist am Morgen des 5. Dezember 2009 an Krebs gestorben. Er ist diese vielen Fluchtwege nicht gegangen. Vor 4 Jahrzehnten ist wie ein scharfer Fanfarenstoss sein „Die Politik des Kapitals“ bei edition suhrkamp erschienen und hat mit so 100 000 Exemplaren geholfen, dass der Begriff „Kapital“ zurückkam aus der Verbannung der elenden Zensurzeit des alten CDU-Staates. Plötzlich riss das Nebelwerk der „sozialen Marktwirtschaft“ auf. Da waren plötzlich Name und Adresse, Hintergründe, Ursachen, Alternativen, Öffnungen. Seit damals ist die Beobachtung, Analyse, Kritik des Gegenwartskapitalismus, also die Begründung der Dringlichkeit seiner Veränderung und Überwindung, sein Thema gewesen. Und es war immer und immer verknüpft mit einer Fülle von Vorschlägen für eine Politik der Alternativen: an der Hochschule in Seminaren und Gegenunis, bei Demonstrationen und Unterschriftensammlungen, im BdWi, bei attac, auf Gewerkschaftsveranstaltungen oder natürlich „seiner“ bundesdeutsch / europäischen Memogruppe; im gesamten Spektrum linker Medien, in linken Projekten von Porto Alegre über New York oder Moskau, von Volterra bis London, Brüssel oder Paris. In der RLS. Die Linke war seine Heimat: die Wissenschafts- und Bildungslinke, die soziale-, die Gewerkschafts- und Bewegungslinke, die politische Linke des Sozialismus aber auch die Linke des Liberalismus und des humanistischen Bürgertums. Die kleine und die große Linke, die alte und die neue, die rote und die blasse, die europäische und die deutsche, die radikale und die reformerische, die sehnsüchtige, wütende, müde und die bittere Linke. Wer so viele Welten kennt, muss Dringlichkeit und Geduld gut verknüpfen können. So erklärt sich, warum Jörg Mitherausgeber der politisch-wissenschaftlichen Monatszeitschrift „Blätter für deutsche und internationale Politik“ war, bei „Wissenschaft und Frieden“, der „Bremischen Stiftung für Rüstungskonversion“, in „Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung“ und natürlich bei Attac mitarbeitete. Überall als Autor, Beiratsmitglied oder Mitherausgeber. In der kurzen Zeit der linken Offensive an den westdeutschen Hochschulen wurde er Hochschullehrer und leitete bis 2005 das Institut für Europäische Wirtschaft, Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik der Universität Bremen.

Jörg veränderte. Er war sozusagen ein Transformationsgenerator. Wer mit ihm zu tun hatte, wurde unmerklich umgebaut, ob er wollte oder nicht. Er verband wissenschaftliche Autorität, politische Vernunft und menschliche Ausstrahlung. Er argumentierte, scharf, aber freundlich und oft ironisch. Er kritisierte dezidiert, aber begründet, nachvollziehbar, klug – er eröffnete seinem Gegenüber die Chance zu lernen. Nur eine Handvoll linker Ökonomen konnte sich mit seiner Fähigkeit messen, das kleine und große Alphabet der ökonomischen Wissenschaften so anschaulich durchzubuchstabieren. Abwertung und Nicht-Anerkennung oder Verächtlichmachung in der öffentlichen Auseinandersetzung waren ihm fremd. Zornig oder wütend habe ich ihn erlebt, aber nie verletzend. Der politische Kontrahent war ihm ein Gegenüber und ein tatsächliches Ärgernis, das er ihn auch spüren ließ – aber kein Grund zur öffentlichen Rhetorik der Feindseligkeit. Er sprach bestimmt, aber freundlich und uneitel. Er schrieb vorsichtig, genau. Er war misstrauisch und zog es vor, die Dinge sehr gründlich und wiederholt anzuschauen. Seine Urteile waren zurückhaltend und scheuten jede Spekulation. Er revidierte sie zuweilen. Kein Wunder, dass er unversehens Ratschläge für lesenswerte KrimiautorInnen verlauten ließ – er recherchierte im Zweifel. Nur selten und dann meist unernst und spitzbübisch ließ er zu, dass der (politische) Wunsch der Vater seiner Gedanken wurde. Und zuweilen ließ er die vordergründige Raison des Politischen fallen und votierte für den Eigensinn: damals, in den 70er und 80ern, konzipierte er – gegen die wirklichkeitsfremde Ratio der kommunistischen Parteien, aber mit dem Institut für Marxistische Studien und Forschungen (IMSF), dessen Beirat er in den 80ern angehörte –eine Reformalternative als kommunistisch-sozialistische Politikorientierung, also auch die Idee einer progressiven Kapitalismusvariante. Heute, in 2008/9, teilte er die verbreitete Rede vom gut absehbaren Ende des Neoliberalismus nicht und als aktuelle Hauptseite der jetzigen Krise des Kapitals bilanzierte er nüchtern und empirisch-konkret den Machtzuwachs bei wenigen Hauptakteuren des Finanzkapitals – gegen die vielen Dringlichkeiten der Veränderung und Hoffnung.

Kurz: dem Kapital traute er aus guter Kenntnis mehr zu als die meisten. Daher auch seine zahllosen, in der Welt auch der linken ökonomischen Wissenschaft solitären Texte und Reden über das Rüstungskapital und dessen schreckliche Manöver, die für ihn zu Recht zusammenfassten, was er lebenslang verabscheute. Dass in solchen Einschätzungen auch die Erfahrung eines – Zeit seines Lebens radikaloppositionell agierenden – Westlinken steckt, ist offensichtlich. Natürlich teilte auch Jörg einen Hang der Ökonomenzunft: bei aller Vorsicht und Zurückhaltung nutzte er doch gerne die Gelegenheiten zur Weissagung. Wer ihm zuhörte, fühlte sich orientiert. Ökonomen produzieren Sicherheit, sie können nicht anders. Die jährlichen Herausgebersitzungen der „Blätter“ waren schon deshalb Balsam auf die Wunden linker Verwirrnis. Allerdings erwiesen sich auch Jörgs Prognosen zu Zeiten als bedenkenswerte Abweichungen von der Wirklichkeit. Doch für andere Formen der Aneignung von Wirklichkeit als die wissenschaftliche nahm er sich immer (wenn es irgendwie ging) noch Zeit und absolvierte öfters atemberaubende Museums- und Ausstellungs- und Rotweintouren. Da war er vorsichtiger in der Einschätzung. Zwischen öffentlichem und privatem Leben unterschied er. Darum ist hier kein Ort, über Bärbel zu sprechen.

Seit sich die RLS als größer werdende Stiftung etablieren konnte, unterstützte Jörg sie. Er war jahrelang Vertrauensdozent und mühte sich um die Stärkung der Politischen Ökonomie. An Dutzenden und Aberdutzenden Veranstaltungen, Tagungen, Workshops, Kongressen der Stiftung nahm er teil und breitete sie oft mit vor, brachte seine Erfahrungen über eine sich als politisch verstehende Wissenschaft ein, für die in seiner Disziplin die von ihm, Rudolf Hickel und Herbert Schui vor fast 35 Jahren gegründete „Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik“ stand. Er war vielfach in den Publikationen der Stiftung vertreten und repräsentierte sie herausragend auf Veranstaltungen im Ausland. Im neuen wissenschaftlichen Beirat der Stiftung war er Mitglied, die Bildung des Instituts für Gesellschaftsanalyse begleitete er mit vielen hoffnungsvollen Vorschlägen.Vor allem zu den Fragen der Eigentumsanalyse, der Privatisierung, der Wirtschafts- und Finanzpolitik und dann der Krisenanalyse war er präsent. Wovon und wohin die die großen Wendungen der globalen kapitalistischen Macht getrieben werden und welche Rolle dabei ein Europa spielen kann, für dessen Entwicklung die Linke im mächtigen, von neuer Imperialität träumenden Bundesdeutschland ein Schlüsselfaktor darstellt, hat ihn immer beschäftigt.

Nun ist Jörg tot. Wir haben viele Möglichkeiten, wie wir um ihn trauern.

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Quelle: RLS-Blog