Überraschende Hintergründe zur aktuellen Bevölkerungsdiskussion

Prof. Dr. Gerd Bosbach, Köln

25.02.2010

In regelmäßigen Abständen schockiert uns das Statistische Bundesamt (StaBu) mit seinem Blick in die Zukunft. Letzte Blüte sind die Vorhersagen für das Jahr 2060: „Bevölkerung im Osten wird besonders schnell zurückgehen und altern.“ (Pressemitteilung vom 23.2.2010) Im Detail weiß das Statistische Bundesamt dann beispielsweise, dass die Bevölkerung in Sach­sen-Anhalt von 2,352 Millionen Einwohnern im Jahre 2009 auf 1,347 Millionen im Jahre 2060„schrumpft“. Angaben auf Tausend Einwohner genau gaukeln dabei eine scheinbare Sicher­heit vor - oder mit Walter Krämer zu sprechen „Die Illusion der Präzision“.

Über den Irrglauben irgendeine gesellschaftliche Entwicklung 50 Jahre vorher sagen zu kön­nen, habe ich schon viel geschrieben. Deshalb hier nur zwei Hinweise: Was konnte man 1960 für heute – 50 Jahre später - prognostizieren? Außer der Jahreszahl wohl eher nichts. Und die Bevölkerungs-Modellrechnungen des StaBu selbst aus dem Jahre 2003 haben sich schon heute als falsch erwiesen.

Dass mit Bevölkerungsprognosen Politik gemacht wird, haben wir bei der Privatisierung in der Rentenversicherung und ähnlichen Ansätzen für die Pflege schon schmerzlich erfahren. Neben der Globalisierung ist die Demografie meist ein Hauptargument, wenn der Sozialstaatbeschnitten wird.

Heute muss ich Ihren Blick auf ein anderes sehr wichtiges Phänomen lenken: Selbst die veröffentlichten Bevölkerungszahlen für heute sind falsch. Und dabei geht es nichtum 10 oder 10 Tausend, sondern um Millionen! Und noch schlimmer das Statistische Bun­desamt weiß davon seit spätestens 2003!!!

Um nicht sofort als Miesmacher abgestempelt zu werden, zitiere ich mal das Amt selbst: „Bevölkerungszahl vermutlich um 1,3 Millionen zu hoch“, lautet es in einer Pressemitteilung am 22.7.2008. Aber schon 2004 wird in der Fachzeitschrift des Amtes darauf hingewiesen:„Gemessen an den Ergebnissen der Haushaltsbefragung weisen die unbereinigten Meldere­gister ... eine Karteileichenrate von knapp 4,1% auf.“ (Wirtschaft und Statistik 8/2004)

Da die veröffentlichten Bevölkerungsdaten aus den Fortschreibungen mit Hilfe der Meldere­gister kommen, lässt die Fehlerquote von 4,1% auf einen noch höheren, als den zugegebe­nen Irrtum bei den Bevölkerungsdaten schließen. Vielleicht waren die 1,3 Millionen wenigereher eine Untertreibung und der Präsident des Hessischen Statistischen Landesamts lag mitseiner Schätzung näher an der Wirklichkeit: „Die Größenordnung könne bis zu 5 Prozentbetragen, das wären gut vier Millionen Menschen.“ (Zitiert nach Welt Online, 10.7.2008)

Angesichts dieser Fakten müssen Mitteilungen wie „Im ersten Quartal 2009 ist die Zahl derEinwohner im wiedervereinigten Deutschland erstmals unter die 82-Millionen-Grenze gefal­len.“ (Pressemitteilung StaBu vom 4.11.2009) schon als bewusste Irreführung aufgefasst werden. Vor allem, wenn man bedenkt, dass das StaBu normalerweise nur die Jahresergeb­nisse zum 31.12. groß in die Presse bringt. Warum dann plötzlich die (falschen) Quartalsda­ten?

Aber es kommt noch toller.

Nicht nur die reine Anzahl ist falsch, sondern in der Folge auch die berechneten Lebenser­wartungen! Vor der knappen Erklärung zwei bezeichnende Zitate des Rostocker Max-Planck-Instituts für demografische Forschung:

Prof. Dr. Gerd Bosbach, Köln

Unter der Überschrift „Weniger Hochbetagte als gedacht“ heißt es: „Die Fortschreibung in der amtlichen Statistik überschätzt die Bevölkerung, insbesondere im Alter 90 Jahre und älter. In den alten Bundesländern liegen die offiziellen Zahlen zum Ende 2004 bei Män­nern um rund 40 Prozent zu hoch.“ !!! (Demografische Forschung Nr. 1/2008)

Und schon fast lustig mutet die aus den Bevölkerungsdaten ermittelte Langlebigkeit von Ausländern in Deutschland an: „Diese Schätzungen zeigten eine außergewöhnlich hohe Lebenserwartung der Ausländer. Sie überstieg sogar die Weltrekordwerte japanischer Frauen.“ !!! (Demografische Forschung Nr. 3/2008)

Auch hierfür sind die Gründe bekannt: Melderegisterleichen sterben nicht. Ist die reale Per­son schon lange tot, kann der Eintrag im falschen Melderegister noch lange weiter leben!

Aber nicht nur die zu viel gezählten Älteren ergeben die Fehler. Auch für die jüngeren Grup­pen gilt: Wenn die Bevölkerungszahl überschätzt wird, wird die Sterberate zu niedrig berech­net. Denn diese ergibt sich aus dem Verhältnis reale Tote der Altersgruppe zur entsprechen­den Bevölkerungszahl. Und wenn der Nenner real kleiner ist, wird die tatsächliche Sterberatehöher. Das ist bei jungen Gruppen kein großer Effekt, aber es führt auch dort zu einer Über­schätzung der Lebenserwartung. Insider vermuten deshalb notwendige Korrekturen an der Lebenserwartung von bis zu drei Jahren! (Die Quelle kann zum Schutz der Personen hier leider nicht benannt werden.)

Auch diese Zusammenhänge sind den Fachleuten des StaBu bekannt. Deshalb wird auch an einem neuen Zensus im Jahre 2011 gearbeitet, um dann die Statistik wieder auf solide Füße zu stellen. Das ist gut so.

Aber warum wird in der Zwischenzeit mit wissentlich falschen Daten ständig in die Öffentlich­keit gegangen? Warum werden Hochrechnungen für das Jahr 2060 wie Fakten herausgege­ben, wo man doch weiß, dass die Basis der Rechnung, die heutige Bevölkerungsstruktur und die Lebenserwartung massiv falsch ist?

Leider passt das auch in das Bild der Pressekonferenz zur letzten Bevölkerungs­modellrechnung im November 2009. Dort hat der Präsident bewusst mit absoluten Daten Panik gemacht, obwohl diese überhaupt keine Aussagekraft besaßen (siehe www.nachdenkseiten.de/wp-print.php?p=4347#h01). Und die Pressemitteilung vom Dienstag dieser wiederholt diesen Fehler, angereichert mit zwei weiteren Irreführungen!

Für ausgeschlossen halte ich jetzt nichts mehr. Auch nicht, dass die häufigen Meldungen über die stark angestiegene Zahl von Fortzügen aus Deutschland ein statistischer Artefakt ist, ähnlich wie bei der angeblichen Langlebigkeit von Ausländern. Beim Versenden der Steuer-Identifikationsnummer fallen nämlich früher Fortgezogene auf und werden jetzt even­tuell bequem als aktuelle Fortzüge vermeldet. Wenn diese Befürchtung stimmt, basiert die aktuelle Diskussion auf nicht zugegebene alte Fehler in den Bevölkerungsdaten.

In diesem Artikel wurden zur besseren Lesbarkeit einige Argumente nur angedeutet. Daraus sollte von interessierter Seite aber keine Oberflächlichkeit der Beweisführung hergeleitet werden. In der hoffentlich folgenden Fachdiskussion werden die Fakten tiefer gehend vorge­stellt.

Köln, den 24.2.2010