»Werder-Fan bleibe ich natürlich«
Gespräch mit Axel Troost über die Gründung der WASG und die der LINKEN, über Bremer Jahre und seinen Umzug nach Sachsen
- Erich Wehnert
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Du stammst aus Hagen, den Westfalen sagt man einen Dickkopf nach – üble Nachrede oder zulässige Verallgemeinerung?
Da ist schon was dran; wobei, wenn man's genau nimmt: Hagen wird immer als Tor zum Sauerland bezeichnet. Ich glaube, das hat mich schon mit geprägt.
In welche Richtung?
Konsequenz. Ich gehöre zu denen, die, wenn sie sich mal entschlossen haben, bestimmte Positionen zu beziehen, das dann sehr konsequent angehen. Das habe ich bereits als Schüler und Jugendlicher gemacht.
Bis hin zu einem Hungerstreik im Internat ...
Ich war so empört! Im Zusammenhang mit der riesigen Hungerkatastrophe in Bangladesh hatte ich Seminare vorbereitet – doch nicht ein einziger kam. Deshalb habe ich mit einem Lehrer und einem Mitschüler drei Tage lang einen Hungerstreik vor dem Esssaal gemacht.
Und was haben die anderen gemacht?
Sie haben sich kaputt gelacht ...
Mich hat das ein bisschen geprägt, das war wichtig in meinem vor-linken Stadium. Zu dem Lehrer habe ich übrigens bis heute Kontakt.
Wie gut warst du als Schüler?
Unterschiedlich: in Deutsch, Geschichte, Politik, auch Mathematik überdurchschnittlich gut, in Sprachen sehr unbegabt – Latein und Englisch gingen gerade noch, an Französisch wäre ich fast im Abitur gescheitert. Ich bewundere Menschen, die sich nathlos schnell in Sprachen einarbeiten können.
Wie war dein Elternhaus »eingerichtet«?
Bürgerlich. Mein Vater besaß ein Teppichgeschäft, wurde nach dem Krieg aus dem nichts zu einem Mittelständler; meine Mutter ist sehr früh verstorben.
Mit 13, 14 Jahren wurde ich in der 68er Zeit sozialisiert. Ich engagierte mich sehr stark in der Dritte-Welt-Bewegung und habe wirklich darauf gewartet, endlich 16 zu werden, um in die Partei Willy Brandts einzutreten. Die Ost-Politik, die Reformpolitik, das hat mich sehr fasziniert. Allerdings blieb ich dort nur wenige Jahre, mit 19 trat ich wieder aus.
Warum?
Weil das mit Berufsverboten und anderen Veränderungen doch nicht die Partei war, hinter der ich stehen konnte. Ich hatte zunehmend das Gefühl, dass die SPD bei Wahlen immer viel verspricht, aber dann doch eine ganz andere Politik umsetzt.
Was war dein erster Berufswunsch?
Als es ernst wurde, wollte ich Politik studieren, um über diesen Weg im Journalismus tätig zu werden. Ich suchte mir bewusst die Universität Marburg als linke Uni aus. Aber bereits im ersten Semester erschien mir die Art und Weise des Studiums als nicht ausreichend, um mit meinem Vater eine sinnvolle Debatte über die Frage zu führen, wie konkrete wirtschaftspolitische Alternativen aussehen könnten. Ab dem zweiten Semester studierte ich parallel Volkswirtschaftslehre.
Was hat dein Vater zu deinen Studienwünschen gesagt?
Er hielt als Unternehmer sehr wenig davon. Als es schärfer nach links ging, hatte er erhebliche Bedenken. Gleichzeitig war uns immer wichtig, sachlich Argumente auszutauschen.
1973 las ich das kleine Buch »Die Politik des Kapitals« von Jörg Huffschmid. Er hatte, mit marxistischem Hintergrund, das erste Mal versucht, sich ganz konkret mit Wirtschaftspolitik, mit Konzentrationspolitik, mit Wettbewerbspolitik in der Bundesrepublik auseinanderzusetzen und Alternativen zu entwickeln. Das faszinierte mich sehr. Während meines Studiums erschien 1975 das erste Memorandum von linken Wirtschaftswissenschaftlern. So stellte ich mir Alternativen vor! Ich habe mich dann damit intensiver beschäftigt und bin nach dem Studium 1979 zu der Memorandumgruppe gestoßen.
Die Memorandumgruppe – was ist das, was bringt das?
Dazu muss ich früher anfangen: Ende der 60er Jahre hatten sich linke, marxistische Bücher sehr theoretisch mit dem Kapitalismus auseinandergesetzt, ihn aber nie ganz konkret analysiert. So konnte man nicht in die Debatte eingreifen. Das änderte sich mit der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik. Sie gründete sich 1975 zunächst als sehr loser Zusammenschluss von Wirtschaftswissenschaftlerinnen und Wirtschaftswissenschaftlern aus Gewerkschaften, Hochschulen und Fachhochschulen, die kritisch analysiert hatten, dass mit dem Übergang von Brandt zu Schmidt und mit der ersten aufkommenden Wirtschaftskrise (mit einer Million Arbeitslosen) die wirtschaftspolitischen Prinzipien verändert worden waren. Im Prinzip war 1975 der Ausgangspunkt des Neoliberalismus, zumindest in der konkreten Umsetzung.
Die Gruppe stabilisierte sich, gab 1977 erstmals ein Bändchen heraus und hat seitdem jedes Jahr im Umfeld des 1. Mai ein MEMORANDUM herausgegeben. Die Kurzfassungen unserer Memoranden werden an rund 2.000 potenzielle Interessentinnen und Interessenten verschickt. Von denen unterstützen dann etwa 900 mit ihrer Unterschrift diese Positionen.
Für wen macht ihr das?
Erstens wollen wir für den Bereich der Wissenschaft zeigen, dass es Alternativen gibt. Zweitens versuchen wir, über die Medien die Öffentlichkeit zu erreichen. Drittens für die Politik: In den Gründungsjahren hatten wir Sozialdemokraten und Grüne, die sich mit uns identifizierten, und da fühlten wir uns zuständig, ihnen Argumente mit an die Hand zu geben. Viertens für die Gewerkschaften: Was heute ihre Positionen zur Volkswirtschaft, zu makroökonomischen Alternativen, zu Zukunftsprogrammen usw. sind, ist insbesondere auch durch unsere Arbeitsgruppe mit entstanden und in den Gewerkschaften aufgenommen worden.
Ein Sprung in die Politik: Du warst einer der Gründer der »Wahlalternative«. Wie hast du diese Zeit in Erinnerung?
Es war alles eine schnelle Kopfgeburt. Als jemand, der damals schon 25 Jahre lang für alternative Wirtschaftspolitik gestritten hatte, erhielt ich von Ralf Krämer ein Papier, das anregte, eine Partei neu zu gründen, weil die PDS im Westen – nicht durch ihre Schuld – nicht die Breitenwirkung entwickelt hatte und auf absehbare Zeit nicht entwickeln konnte, um wirklich zu einer wählbaren Protestpartei zu werden. Ich las das noch unfertige Papier und wusste sofort: Das ist es. Die Grundrichtung stimmte und deshalb habe ich sofort zurück gemailt: Für dieses Projekt stehe ich die nächsten zehn Jahre lokal oder bundesweit zur Verfügung!
Wie wurde aus einem Papier die Partei?
Zunächst gab es in Berlin ein erstes Treffen mit ca. 35 Personen, ich leitete mehr zufällig die Sitzung und kam in eine Art Sprecherrat. Die »Wahlalternative«, die eher aus linken Intellektuellen wie beispielsweise Joachim Bischoff, Heinz Hillebrand, Nele Hirsch, Ralf Krämer, Sabine Lösing, Helge Meves, Marc Mulia und Irina Neszeri bestand, führte dann im März 2004 erste Gespräche mit der »Arbeit und soziale Gerechtigkeit«, die stark von Gewerkschaftern aus Bayern initiiert worden war. Uns war klar: Das müssen wir gemeinsam machen. Im April folgte ein Treffen auf der Gründer/innenebene mit maximal 20 Personen. Im Bonhoeffer-Haus in Berlin wurde schließlich am 3. Juli 2004 die WASG gegründet, durchaus mit der Absicht, Anfang des folgenden Jahres zu schauen, ob man den Verein zu einer Partei entwickeln kann.
Im Geschäftsführenden Vorstand waren zwei IG Metaller – Thomas Händel und Klaus Ernst, außerdem Sabine Lösing, die sozusagen für die soziale Bewegung und Attac stand, und ich. Das Projekt ließ sich sehr gut an, die Zustimmung war enorm, und wir haben versucht, sehr schnell Landesverbände zu gründen.
Im November 2004 fand in Nürnberg die erste Bundesdelegiertenkonferenz statt. Schon damals war offensichtlich, und das zog sich bis zum Ende der WASG durch, es war im Wesentlichen ein Westprojekt. Zwar hatten wir in allen neuen Bundesländern Gruppen, doch die waren zum Teil schwierig, auch weil die Ausgangsvoraussetzungen unterschiedlich waren. Die Grundidee im Westen war ja nicht: Wir gründen uns, weil wir prinzipiell gegen die PDS aufgestellt waren. Im Osten zeigte sich das zum Teil anders: In Mecklenburg-Vorpommern gab es Erfahrungen mit Rot-Rot, und zahlreiche unserer Mitstreiter/innen sind in die WASG bewusst mit Positionen gegen die PDS eingetreten, ähnlich in Berlin. In anderen Ländern sah es etwas anders aus. In Sachsen zum Beispiel gab es eine relativ große Gruppe von WASGlern, die nach der Parteibildung auch aktiv im Landesvorstand Verantwortung in der neuen LINKEN übernommen haben.
Die Mehrheit der WASG-Mitglieder stimmte im Dezember 2004 in einer Urabstimmung für die Parteigründung.
Worauf gründete sich dein Optimismus?
Was heißt Optimismus? Dass sich alles so entwickeln würde, konnte natürlich niemand absehen. Aber die Grundidee schon des ersten Papieres war: Wir wollen eine wählbare Alternative werden. Die theoretische Alternative hatte ich seit 25 Jahren mit meiner Arbeitsgruppe, mit Papieren, mit Vorträgen und und und. Das war nichts Besonderes. Aber immer, wenn die Leute gefragt haben, was können wir denn jetzt konkret machen, konnten wir nur antworten: Wir können protestieren und demonstrieren, aber parlamentarisch können wir nichts machen. Mir war klar: Erreichen kann man nur was – neben außerparlamentarischer Arbeit – auch als wählbare Alternative, als Partei.
Eine vergleichbare Parteigründung kennt die bundesdeutsche Geschichte nicht.
Nein, denn beispielsweise die Grünen wuchsen graswurzelmäßig langsam von unten. Unsere Gründung war eine reine Kopfgeburt, von oben nach unten. Dazu gab es überhaupt keine Alternative, das muss man nicht beschönigen. Es gab in weiten Teilen keine funktionierende Organisation, und die Zeit war so knapp, dass man im Prinzip nur mit einer kleinen Gruppe was entwickeln und vorschlagen konnte, das dann aber natürlich immer demokratisch auf Parteitagen oder in Urabstimmungen bestätigt worden ist. Insofern ist das ein einmaliges Projekt. Ein halbes oder ein Jahr später wäre das wahrscheinlich nicht mehr möglich gewesen. Das hört sich heute, wo DIE LINKE im Westen so verankert ist, vielleicht komisch an. Aber wir brauchten genau den Zeitpunkt, wo so viele Menschen von der SPD und den Grünen enttäuscht waren und doch noch gesagt haben, wir wollen aktiv sein, wir wollen uns nicht zurückziehen, wie das häufig der Fall ist. Und dieser Zeitpunkt war in den Jahren 2004/2005.
Im Mai 2005 trat die WASG erstmals zur Wahl an. Wie habt ihr die 2,2 Prozent in Nordrhein-Westfalen gewertet?
Wir waren glücklich – und wir waren entsetzt, als noch am selben Abend bekannt wurde, jetzt gibt's gleich die Bundestagswahl. Wir hatten schlicht und einfach weder die Organisation noch die Finanzen für einen weiteren, kurzfristigen Wahlkampf. Der nordrhein-westfälische Wahlkampf war allein deshalb möglich, weil einzelne Personen – darunter ich – für unsere Verhältnisse große Darlehen zur Verfügung gestellt hatten.
Mit der Entscheidung der vorgezogenen Bundestagswahl 2005 war klar, dass die ursprüngliche Absicht, 2006 als WASG anzutreten, nicht mehr realistisch war. Der Geschäftsführende Vorstand sah die Gefahr, dass am Ende weder die PDS noch die WASG im Bundestag ist, und das gab keinen Sinn.
So kam es zu den ersten Treffen mit der PDS. Wobei: Mit den ersten Gesprächen bekam das Ganze für uns einen Ballast. Als WASG hatten wir nichts mit der Frage DDR, mit der Frage real existierender Sozialismus usw. zu tun gehabt. Es stand bei uns auch nirgendwo in einem Programm etwas von Sozialismus – nicht weil wir uns davor gescheut hätten, sondern weil wir sagten, das brauchen wir gegenwärtig nicht zur Beschreibung unserer Visionen.
Mit der Notwendigkeit, bei der Bundestagswahl gemeinsam anzutreten, haben wir viele Menschen aus unserer Gründungszeit verloren, Menschen, die gesagt haben, das ist jetzt nicht mehr unser Projekt. Ich habe immer darauf hingewiesen, dass man sie nicht beschimpfen darf, denn nicht sie hatten sich geändert, sondern wir hatten uns geändert, ändern müssen. Ich befürchtete zunächst, dass der Prozess bis zu einem gemeinsamen Wahlantritt noch viel schwieriger werden würde. Aber die ganz überwiegende Mehrheit unserer Mitglieder zog mit und hat einen grandiosen Bundestagswahlkampf bestritten.
Wie lief der Prozess – in Kurzfassung – ab, was verursachte besondere Kopfschmerzen?
Gleich nach der NRW-Wahl gab es ein Treffen mit Lothar Bisky und Dagmar Enkelmann auf dem Flughafen Frankfurt/Main, ganz geheim, wo wir – Klaus Ernst, Thomas Händel und ich – erst einmal Möglichkeiten ausgelotet haben. Gespräche folgten in Berlin, Fürth, Elgersburg, Frankfurt, Jena ... Und das Projekt stand immer wieder auf des Messers Schneide. Sehr kompliziert war die Frage der Namensfindung, weil lange gesagt wurde, man könne auf »PDS« nicht verzichten. Zwischendurch waren schon mal die Taschen gepackt, bis wir dann doch einen Lösungsweg fanden. Das war ein schwieriger Prozess – nicht so sehr inhaltlich, eher in den formalen Strukturen. Aus unserer Perspektive waren das die Aufgabe der WASG und die Gefahr, viele der anfänglichen Mitstreiterinnen und Mitstreiter nicht überzeugen zu können, mit in das neue Boot hineinzugehen.
Letztlich war die Lösung akzeptabel. Seitens der WASG war ich der Bundeswahlkampfleiter und hatte die Aufgabe zu schauen, wie wir die Kandidatenlisten gestalten. Wir wollten versuchen, wichtige WASG-West-Personen auch über den Osten in den Bundestag zu bekommen. Ich fand aber – außer mir – niemanden, wirklich niemanden, der bereit war, im Osten zu kandidieren. Bei mir war das wegen meiner langjährigen Arbeit in Mecklenburg, aber auch Projekten und zahlreichen Referaten und Veranstaltungen vor allem in Thüringen und Sachsen kein Problem. Ich bin sehr freudig in Sachsen aufgenommen worden und habe dort auf der Landesliste kandidiert, war aber gleichzeitig Direktkandidat in Bremen.
Das Ergebnis der Bundestagswahl 2005 war sehr erfreulich. In unserer ersten Fraktion versuchten wir, Rahmenbedingungen zu schaffen, die möglichst ausgeglichen die Strukturen widerspiegeln sollten. Aber man muss, zugespitzt, schon sagen: Mit der Entstehung der Bundestagsfraktion ist im Prinzip die eigenständige Dynamik der WASG und ihres Vorstandes verloren gegangen, da war das Projekt WASG weitgehend erschöpft.
Es ging dann darum, die Parteineugründung vernünftig zu gestalten. Das hieß, programmatisch und satzungsmäßig schnell zueinanderzukommen. Wobei das »schnell« auf der Bundesebene ein Dreivierteljahr gedauert hat. Auf der kommunalen Ebene, wo die wirkliche Vereinigung stattfinden musste, dauerte es noch viel länger. Insofern verlief der Prozess schnellstmöglich.
Du bist mehr Wissenschaftler denn Politiker. Warum hast du dennoch für den Bundestag kandidiert?
Als ich in der WASG für Funktionen kandidierte, habe ich nicht an den Bundestag gedacht. Ich habe mich als Wissenschaftler um Programmfragen gekümmert. Die Kandidatur hat sich eher indirekt ergeben, als es konkret darum ging, wer könnte denn ein alternatives wirtschaftspolitisches Profil in den Bundestag einbringen.
Wie oft hast du es schon bereut?
Relativ selten. Nachdem ich gewählt worden war und irgendwann meinen Vater besuchte, sagte er richtig stolz: Jetzt bist du endlich da angekommen, wo du immer hin wolltest. Das fand ich im ersten Moment nicht, weil ich schon vorher relativ zufrieden war in der Memorandumarbeit und im Wirtschaftsforschungsinstitut. Aber inzwischen habe ich mich mit dieser Mischung aus Wissenschaft und Tagespolitik sehr gut arrangiert. Das kann ich natürlich nur machen, weil meine Frau und meine Familie das mittragen.
Wo wohnt ihr?
Seit 28 Jahren bin ich Bremer. Aber nicht mehr lange. »Schuld« daran ist auch der Erfolg der LINKEN. Meine Grundidee war es 2005, wenn ich in Sachsen »sicher« kandidiere, gebe ich dem kleinsten Landesverband trotzdem einen eigenen Abgeordneten der LINKEN. Das war auch so zur Bundestagswahl 2009, wo ich wieder in Sachsen antrat. Aber dann stellte sich heraus, dass wir nicht nur bundesweit ein gutes Ergebnis, sondern in Bremen ein noch besseres Ergebnis erzielt hatten. Das führte dazu, dass wir unsere Bremer Spitzenkandidatin in den Bundestag durchbekommen haben. Meine Idee war »zusammengebrochen«. Nach kurzem Überlegen teilte ich deshalb am nächsten Morgen Agnes Alpers mit, ich werde politisch den Landesverband verlassen und mich nach Sachsen schlagen. Sie übernimmt mein Büro, meinen Mitarbeiter und und und. Im Mai ziehen wir nach Leipzig um. Werder-Fan bleibe ich natürlich trotzdem.
Zwei Seelen wohnten ach in deiner Brust ...?
Ich fühle mich als Wossi. Immerhin habe ich zehn Jahre im Osten mit einem Institut ausschließlich mit ostdeutschen Mitarbeitern tagsüber gearbeitet und abends gemeinsam gewohnt. Das war das normale Leben, das tägliche Sich-Austauschen über Wissenschaft und Tagesgeschäft, Vergangenheit und Gegenwart, Kindererziehung und gesellschaftliche Visionen, Persönliches und Alltag… Das hat mich erheblich geprägt. Bei vielen Dingen weiß ich, wie weit Ost und West mental auseinander sind. Und das ist ja nicht nur in unserer Partei so, das ist insgesamt so. Ich versuche da, Mittler zu sein. Aber eben auch, beides zueinander zu führen. Nicht das Trennende zu pflegen, sondern das Gemeinsame zu erarbeiten. Das geht jedoch nicht von selbst. Dafür muss man etwas tun und sich intensiver als bisher austauschen.
Wichtig ist mir, glaubwürdige Politik zu machen. Da muss man lernen, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen. Ich sehe mich als Bestandteil eines großen Uhrwerks.
Kandidiert hattest du im Bundestagswahlkreis Leipzig Land. Wie ergeht's dir jetzt dort?
Ich habe mich sofort heimisch gefühlt. Ich hatte das Gefühl, dass ich mit meinen Kompetenzen, mit meinen Erfahrungen, was Organisation von Wirtschafts- und Arbeitsmarktförderung angeht, damit eine wichtige Hilfe leisten kann, dass sie einfach interessiert an mir und meiner Meinung sind. Insofern ist es mir ganz, ganz leicht gefallen zu sagen, jetzt gehst du genau diesen Schritt. Mein langjähriger Mitarbeiter und WASG-Gründer Enrico Stange als neuer sächsischer Landtagsabgeordneter und ich haben in Borna, 200 Meter Luftlinie vom Rathaus unserer LINKEN-Oberbürgermeisterin entfernt, ein Bürgerbüro eröffnet, das wir Ständige Vertretung genannt haben – als kleine Anspielung auf Ost-West, als kleine Erinnerung an den von mir geschätzten Günter Gaus und weil mir ganz wichtig ist, Bürgerinteressen von unten nach oben sozusagen mit einer Stimme zu verfolgen. Kommunale-, Landes- und Bundespolitik müssen zusammen gesehen werden. Wir müssen verdeutlich, dass wir die einzige Partei sind, die nicht nur unten jammert, sondern wirklich konkrete Alternativen oben hat.
Weniger räumlich gemeint: Inwiefern hast du dich in den vergangenen Jahren verändert, was hast du gelernt?
Arbeit im Bundestag heißt auch, ständig Schnellschüsse produzieren zu müssen. Gesetzesvorlagen müssen wir innerhalb von ein oder zwei Tagen beurteilen, manchmal kommen Veränderungen über Nacht, zu denen man Stellung beziehen muss. Das ist sicherlich gewöhnungsbedürftig.
Ich verstehe mich nach wie vor als Wirtschaftswissenschaftler, der Politik macht, und nicht als Politiker, den nicht mehr interessiert, was wissenschaftlich an Positionen entwickelt wird. Das versuche ich zu pflegen, indem ich mit meinem Büro den einen oder anderen Aufsatz schreibe, indem wir also versuchen, die Menschen, aber natürlich auch die Partei weiterzuentwickeln. Wir haben einen großen Bedarf an Schulung, an »wirtschaftspolitischer Alphabetisierung«, wie es einmal der geschätzte Kollege Prof. Friedhelm Hengsbach formuliert hat.
Ein Höhepunkt in dieser Zeit war der Parteitag zur Gründung der LINKEN in Berlin, weil ich da das Gefühl hatte, dass das, woran man lange gearbeitet hat, umgesetzt wurde. Da störte es mich nicht, dass ich weder in der ersten noch in der zweiten Reihe gesessen habe. Es war das sichere Gefühl: Das ist mein Projekt, das ich mitgestaltet und dessen Programm ich mitgeschrieben habe.
Ein Wunsch für den Alltag?
Ich glaube, dass insgesamt in unserer Partei zu wenig gelobt wird, dass zu viel immer nur auf die Schwachstellen hingewiesen wird. Das muss auch passieren – aber ich glaube, dass die menschliche Komponente manchmal zu kurz kommt.
... und das in einer Partei, die das Menschliche auf ihre Fahnen groß geschrieben hat.
Ja, da müssen wir an uns arbeiten. Wenn wir Menschen überzeugen wollen, müssen wir lachen können, Positives darstellen können und nicht nur mit verbissenen Gesichtern sagen, wie schrecklich die Welt ist und dass alles untergeht. Da müssen wir an uns arbeiten – so wie wir an positiven Visionen arbeiten müssen, um Menschen mitzunehmen. Aber bitte Visionen, wie die gegenwärtige Gesellschaft in allen Bereichen ganz konkret anders umgestaltet werden müsste. Wir müssen in der Programmdebatte Kernfragen – wie über den Zusammenhang von Übergangsforderungen mit der Zielsetzung einer solidarischen Ökonomie – intensiv diskutieren und voranbringen. Es besteht aus meiner Sicht die große Gefahr, als LINKE entweder im alltäglichen Verbesserungsanspruch stecken zu bleiben oder unkritisch auf überholte Sozialismusvorstellungen des 20. Jahrhunderts zurückzugreifen.
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- Erich Wehnert
Geboren: 1. September 1954 in Hagen, verheiratet, zwei Kinder. Studium der Volkswirtschaftslehre in Marburg, Promotion. Seit 1981 Geschäftsführer der »Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik« (Memorandumgruppe). Geschäftsführender Gesellschafter des Progress-Instituts für Wirtschaftsforschung, 1990/2001 Geschäftsführer des Büros für Strukturförderung Rostock. Mitglied bei IG Metall, Attac, Bund demokratischer WissenschafterInnen u.a. 2004 Mitbegründer der »Wahlalternative«. 2005/07 Mitglied des geschäftsführendes Bundesvorstandes der Partei »Arbeit und soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative«. Mitglied des Bundestages seit 2005, Sprecher für Finanzpolitik. Seit 2007 Mitglied des Parteivorstandes der LINKEN.
- Erich Wehnert