HARTZ IV: Lohnabstand gewährleistet, Existenz sichernde Löhne nicht

Böcklerimpuls 4/2010

09.03.2010

Sächsische Friseurinnen, Berliner Wachleute, Hamburger Zimmermädchen: Sie alle verdienen trotz Vollzeitarbeit und Tariflohn so wenig, dass es kaum zum Leben reicht. Das zeigen Auswertungen des WSI-Tarifarchivs. Nach Untersuchungen des Instituts Arbeit und Qualifikation (IAQ) bekommen über fünf Millionen Arbeitnehmer in Deutschland weniger als acht Euro pro Stunde. Lohnt sich Arbeit nicht mehr, weil mit einem regulären Job weniger verdient wird, als ohne Arbeit im Hartz-IV-Bezug zu erzielen ist?

"Wer arbeitet, steht am Ende immer besser da, als jemand, der nur Transferleistungen bezieht", erklärt der Grundsicherungsexperte Helmut Rudolph vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Dafür sorgen die Verdienstfreigrenzen: Wenn ein Grundsicherungsbezieher arbeitet, bleibt ein Teil des Arbeitseinkommens anrechnungsfrei. Und jeder, der am Arbeitsmarkt nicht genug Einkommen erzielt, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, hat Anspruch auf ergänzende Hartz-IV-Leistungen. Dank Freibetrag steht ihm insgesamt ein höheres Einkommen zu als Hartz-IV-Beziehern ohne Job.

Im Juni 2009 bekamen nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit 425.000 Vollzeitbeschäftigte ergänzende Hartz-IV-Leistungen. Zudem dürfte über eine halbe Million Beschäftigte einen Anspruch auf ergänzende Grundsicherung haben, ihn aber nicht einlösen - weil sie nicht wissen, was ihnen zusteht, sie aus Scham den Gang zum Jobcenter vermeiden oder sich die nötigen Formalitäten nicht zutrauen. Das ergibt sich aus Berechnungen der Verteilungsforscherin Irene Becker auf Basis des sozio-oekonomischen Panels.

Hartz IV plus Niedriglohn: ein versteckter Kombilohn. Wachsender Niedriglohnsektor, Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse wie Minijobs oder Leiharbeit: All dies zwingt den Staat dazu, Steuergeld einzusetzen, damit das Lohnabstandsgebot gewahrt bleibt. WSI-Leiter Claus Schäfer erklärt: Hartz IV funktioniert in Kombination mit Niedriglöhnen wie "ein verstecktes Kombilohn-Programm" zugunsten der Arbeitgeber - eine Konstruktion, die nach Forschungsergebnissen von WSI und IMK weit mehr Nach- als Vorteile hat. In einer gemeinsamen Studie analysierten die Forschungsinstitute schon 2006 verschiedene Kombilohnprogramme und kamen zu einem skeptischen Schluss - "wegen erwiesener Wirkungslosigkeit", was die Beschäftigung betrifft, und hoher Kosten für den Staat.

Alternative: Existenz sichernde Einkommen durch Mindestlohn. 20 von 27 EU-Ländern haben Lohnuntergrenzen über gesetzliche Mindestlöhne gesichert. In den westeuropäischen Staaten liegen sie über 8,40 Euro pro Stunde. Forschungen des IAQ zeigen, dass die anderen Länder damit gut fahren. Die Befürchtung vieler deutscher Ökonomen, Mindestlöhne führten zu Arbeitsplatzverlusten, lassen sich empirisch nicht untermauern. WSI-Forscher Schäfer: "Ein gesetzlicher Mindestlohn in Deutschland würde die Subventionierung nicht Existenz sichernder Löhne erheblich eindämmen."