Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Was braucht der Mensch?
Von Lutz Hausstein
Teil 1
Kaum hatte der Paritätische seinen Armutsbericht mit den erschütternden Fakten veröffentlicht, wurde in mehreren großen Medien zum Gegenangriff geblasen. Mit überraschend gleichlautendem Tenor stellten diese den geltenden Armutsbegriff zur Disposition und definierten ihn zu lediglich „gefühlter Armut“ um. Ein Kommentator der „Süddeutschen Zeitung“ fuhr so fiktiv mit dem Fahrrad durch Norddeutschland und stellte dabei fest, dass ihn die Armut auf seiner Fahrt nicht ansprang und er stattdessen gepflegte Landschaften durchquerte. Damit gab er jedoch nur zu erkennen, dass er nicht einmal versuchsweise bereit ist, sich der Logik des Problems zu nähern und in dieses hineinzuversetzen. Denn die Argumentation auf Stammtischniveau ignoriert – neben vielem Anderen – vollständig, dass eine intakte, öffentliche Infrastruktur nicht den geringsten Aussagewert über persönliche Armut einzelner Bewohner dieses Landstriches besitzt. Dennoch werden mängelfreie Radwege, glänzende Innenstädte und gepflegte Vorgärten als Indiz für die Abwesenheit persönlicher Armut dargestellt. Und da dies so sei, so der Kommentator, könne ja mit der Statistik „etwas nicht in Ordnung sein“. Nach einigen imaginierten Visionen gelangt er zu der, nicht einmal falschen, Meinung, dass diese Armutsdefinition [lediglich] als Indikator für Ungleichheit in der Gesellschaft taugen würde. Indem er jedoch gleichzeitig den vom Paritätischen verwendeten Armutsbegriff ablehnt, beweist er nur, wie wenig er vom Begriff der „relativen Armut“ verstanden hat.
Die gleiche Argumentationslinie machte sich der Kommentator des„Bayerischen Rundfunks“ zu eigen. Neben ein paar Unkorrektheiten in der Darstellung der Fakten gelangte auch er zu dem Schluss, dass relative Armut ja keine „richtige“ Armut sei, welche seitens einer nicht näher benannten Gruppe von Statistikern dann auch als „Unstatistik des Monats“ angeprangert wurde. Die „FAZ“ wiederum befleißigte sich ebenfalls dieser Argumentation und verstieg sich gar dazu, den vom Paritätischen festgestellten Anstieg der Armut als „statistischen Trick“ und als „Schande“ seitens des Paritätischen zu brandmarken. Neben unhaltbaren Allgemeinplätzen zur gesamtgesellschaftlichen Situation („üppige Tarifabschlüsse“, „privater Konsum kennt kaum noch Grenzen“) übte sich der FAZ-Kommentator in beißender Kritik gegenüber dem Konzept der relativen Armut, ohne es dabei sachlich widerlegen zu können. Auch dieser Kommentator kommt wortgewaltig zu dem Schluss, dass die angewandte Armutsschwelle lediglich die Ungleichheit beschreiben würde, nicht jedoch relative Armut. Dabei bemerkt auch er nicht, wie stark er sich in den von ihm selbstdefinierten Begrifflichkeiten verheddert hat. Denn eben exakt beim Überschreiten eines gewissen Maßes an Ungleichheit setzt relative Armut ein. Relative Armut hängt demzufolge zwangsläufig mit Ungleichheit zusammen.
Dass mit der „Welt“ und der „Zeit“ auch weitere, reichweitenstarke Medien in dasselbe Horn stoßen, mag ein Zufall sein. Bemerkenswert ist jedoch, dass bei allen auch die gleiche, krude Argumentation herangezogen wurde. Alle Kommentatoren jonglieren mit relativer ebenso wie mit absoluter Armut und ihnen zuzuordnenden Symptomen wild durcheinander, ohne dies notwendigerweise sauber zu trennen und zu kennzeichnen. Gelegentlich werden noch Fakten eingestreut, welche keine echte Beziehung zu diesen beiden Armutsbegriffen haben. Nur so können sie zu dem Schluss gelangen, dass zwar die Ungleichheit zugenommen hätte, dies jedoch keine Auswirkungen bezüglich einer Zunahme von Armut hätte. Durch die dabei erfolgte Weglassung, ob sich diese Einschätzung auf absolute oder auf relative Armut beziehen soll, bleibt die Brüchigkeit der Argumentation den Lesern verborgen.
Die Kernbehauptung in diesen Medien ist allerdings einhellig: Die Zunahme von Armut in Deutschland wäre ein Hirngespinst. Die vom Paritätischen Wohlfahrtsverband verwandte Armutsdefinition der relativen Armut sei nur das vielbeschworene „Jammern auf hohem Niveau“ und hätte mit „wirklicher“ Armut nichts zu tun. Arm ist erst derjenige, der real hungern müsse. Alles andere sind Luxusprobleme.
Nun muss man nicht erst auf das deutsche Grundgesetz und das Sozialstaatsgebot verweisen, um diese Ansicht als absurd und menschenverachtend einzustufen. Schon allein in einem rein gedanklichen Experiment kann man schnell feststellen, warum es mehrstufige Armutsdefinitionen gibt, die nicht allein auf die Vermeidung von absoluter Armut, d. h. der Sicherung der rein physischen Existenz, abstellen. Denn auch nach der Sicherung aller lebensnotwendigen Voraussetzungen, wie Essen, Trinken und Wohnen, bleibt der Mensch dennoch als soziales Wesen bestehen. Er ist auf die Verbindung zu seinen Mitmenschen angewiesen, auf die Akzeptanz, von ihnen als gleichwertig anerkannt zu werden. Beides wird jedoch erst dann möglich, wenn er auch die Chance hat, an den im gesellschaftlichen Umfeld grundlegend üblichen Verrichtungen und Verhaltensweisen teilzunehmen. Diese wiederum sind sowohl von der zeitlichen als auch der örtlichen Umgebung abhängig. Während heutzutage der Besitz und die Nutzung eines Telefons absolut üblich und notwendig ist, konnten weder Senatoren im alten Rom noch Fürsten und Könige im Mittelalter darauf zurückgreifen. Wer Selbiges jedoch heutzutage nicht besitzt, ist absoluter Außenseiter. Er ist, sofern er sich den Besitz eines Telefons finanziell nicht erlauben kann, relativ arm. Ist in unserem westlichen Kulturkreis die Benutzung von Schuhwerk eine unwidersprochene Selbstverständlichkeit und Notwendigkeit, stellen Schuhe in manchen afrikanischen Gegenden eine große Rarität und Luxus dar. (Noch) ist allerdings niemand auf die Idee gekommen, behaupten zu wollen, dass es Obdachlosen in Deutschland gut gehen würde und sie nicht arm wären, nur da sie, im Gegensatz zu manchen Afrikanern, über Schuhwerk verfügten.
Ebenso stellt die fehlende Verfügbarkeit von Haushaltsenergie in manchen Gegenden unserer heutigen Welt (derzeit) kein Problem dar. Das dortige Leben ist darauf eingerichtet, für die Menschen stellt dies Normalität dar. In unseren Gefilden hingegen ist ein Leben ohne Strom schlicht unvorstellbar. Und es ist keineswegs nur fehlender Luxus, wenn keine Wäsche mehr gewaschen werden kann, kein Essen gekocht, keine Nahrungsmittel gekühlt, kein Fußboden mehr gesaugt werden kann. Ohne Strom kein Licht in der Dunkelheit und weder Fernsehen, Radio, Computer und Telefon noch Handy geben auch nur einen Ton von sich. Strom ist beinahe unser zweites Wasser geworden. Wer nun jedoch, im Gegensatz zum allergrößten Teil unserer Gesellschaft, aus finanziellen Gründen keinen Strom nutzen kann, dem bleiben gesellschaftlich übliche Verhaltensweisen dieser Mehrheit vorenthalten. Er bleibt, von „unserer Art zu leben“, ausgeschlossen.
Anhand nur dieser wenigen Beispiele sollte erkennbar werden, dass neben der Vermeidung absoluter Armut – der Sicherung der rein physischen Existenz – auch die Vermeidung von relativer Armut eine entscheidende Rolle im Zusammenleben der Menschen spielt. Denn erst dies gibt den Menschen die Möglichkeit, an gesellschaftlich üblichen Verhaltensweisen – entsprechend des jeweiligen zeitlichen wie auch örtlichen Umfelds – teilzunehmen. Ohne die Möglichkeit, dies zu tun, welches fast ausnahmslos mit mehr oder minder großen finanziellen Voraussetzungen verbunden ist, sind sie aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Führt absolute Armut zumeist recht schnell in den ganz realen, physischen Tod, zerstört relative Armut die Menschen schleichend, aber dauerhaft von innen heraus – sie sterben den sozialen Tod. Denn ohne die Möglichkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, verlieren sie die Bindung zu ihren Mitmenschen und büßen ihre Würde ein. Sie vereinsamen – psychische Erkrankungen sind dadurch fast zwangsläufig.
Wenn nun ebenfalls Andrea Nahles als Arbeits- und Sozialministerin diese dubiose Argumentationslinie aufgreift, erhält die Debatte eine weitere, nochmals gewichtigere Dimension. Zum einen, da Nahles mit ihrer Vergangenheit als Juso-Vorsitzende, stellvertretende Bundesvorsitzende, Generalsekretärin und vermeintliche SPD-Linke maßgeblich die Diskussionsrichtungen in eben genau jener SPD mitbestimmt, welche sich seit Jahren stets aufs Neue selbst das Label der „sozialen Gerechtigkeit“ ans eigene Revers heftet. Denn soziale Gerechtigkeit ist einer der – wenn nicht gar der zentrale – Bindestoff(e) einer Gesellschaft. Zum anderen ist es doch gerade als Sozialministerin ihre originäre Aufgabe, Armut zu verhindern, anstatt sie einfach nur wegzudefinieren. Dem Fakt, dass die deutsche Gesellschaft immer stärker in Arm und Reich gespaltet wird, leistet Nahles damit jedoch Vorschub. Mit der vorangetriebenen Umdeklarierung von Armut erteilt sie sich selbst die Legitimation, nichts gegen die verstärkte Polarisierung in der Gesellschaft unternehmen zu müssen. Auch nicht als Arbeits- und Sozialministerin, deren vorderstes Ziel jedoch genau dies zu sein hätte.
Teil 2
Nach wie vor beherrschen Stammtischparolen das öffentliche Meinungsbild, sobald von (relativer) Armut in Deutschland die Rede ist. Da es „uns“ ja gut gehe, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht müde wird, beständig zu betonen, ist in dieser Logik natürlich auch Armut in Deutschland nur ein Hirngespinst. Immer wieder wird holzschnittartig auf Phrasen wie „Jammern auf hohem Niveau“ zurückgegriffen, ohne dabei die Absurdität dieses vermeintlichen „Arguments“ auch nur einmal zu reflektieren. Die reflexartigen Vergleiche mit Stereotypen der absoluten Armut lassen die Erscheinungsformen relativer Armut scheinbar hinter diesen verblassen. Dennoch sind die Wirkungen von relativer Armut auf die betroffenen Menschen selbst mittelfristig verheerend. Denn relativ Armen bleibt verwehrt, was gesellschaftlich übliche Normalität ist. Es ist kein „einfaches, aber gutes Leben“, das relativ Arme – abgekoppelt und einsam von der Normalität der übrigen Gesellschaft – führen müssen.
Was sind nun jedoch diese üblichen Verhaltensweisen und Verrichtungen, von denen relativ Arme häufig aufgrund ihrer fehlenden Finanzen ausgeschlossen sind? Der folgende Kurzfilm erzählt davon, welche ganz alltäglichen Sorgen relativ Arme in Deutschland haben.
Armut für seine Bürger zu beseitigen und zu verhindern, ist eine der Kernaufgaben der Bundesrepublik Deutschland und schon mit dem Sozialstaatsgebot im Grundgesetz verankert. Mit der Pflicht zur Sicherung des sozio-kulturellen Existenzminimums erkennt der Staat an, relative Armut ebenso wie absolute Armut innerhalb der Geltungsgrenzen seines Grundgesetzes nicht zuzulassen. Dem wird er jedoch mit seinem praktischen, konkreten Handeln immer weniger gerecht.
Der stetige Anstieg der Armutszahlen spiegelt diese Pflichtverletzung auch quantitativ wider. Die Grundlage für diese Entwicklung wurde mit der Agenda 2010 und den mit ihr verbundenen Gesetzen gelegt. Mit repressiv wirkenden Gesetzen werden Arbeitslose gezwungen, (fast) jede nur erdenkliche Arbeit, unabhängig von ihrer Qualifikation, Eignung und persönlichen Vorlieben, aber auch der Entlohnung, anzutreten. Die solcherart erzeugte Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt schlägt sich bis zum heutigen Tage in zurückbleibenden Löhnen, insbesondere bei den ohnehin schon niedrigsten Löhnen, nieder. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft so immer weiter auseinander.
Dabei kommt der Höhe des Arbeitslosengeldes II, umgangssprachlich auch mit Hartz IV bezeichnet, eine entscheidende Rolle zu. Je niedriger das ALG II, desto stärker senken die in den Arbeitsmarkt gepressten Arbeitslosen auch die Löhne. Ganz besonders in den untersten Lohnbereichen, für die Arbeitslose, vermeintlich mit (multiplen) Vermittlungshemmnissen behaftet, laut Lesart der Bundesagentur für Arbeit ausschließlich geeignet sein sollen. Auch aus diesen Gründen wurde das ALG II, welches, wie immer wieder regierungsamtlich betont, das Existenzminimum darstellen soll, seit Einführung des Hartz IV-Regelsatzes 2005 beständig politisch kleingerechnet. Auch die vom Bundesverfassungsgericht am 9. Februar 2010 festgestellte Verfassungswidrigkeit der Regelsatzhöhe und die dadurch erzwungene „Neuberechnung“ wurde von der Bundesregierung mittels der dafür sachlich nicht geeigneten EVS-Statistikmethode, zuzüglich weiterer teils obskurer, Abschläge auf den Regelsatzbetrag unterlaufen.
Ein völlig anderer Ansatz liegt der Studie zur Höhe der sozialen Mindestsicherung „Was der Mensch braucht“, die in wenigen Tagen erscheinen wird, zugrunde. Die Studie basiert auf der Warenkorbmethode, die durch ihre Herangehensweise nicht nur die Vermeidung absoluter Armut zum Ziel hat, sondern gleichfalls, entsprechend dem Grundgesetz, relativer Armut. Auch das Bundesverfassungsgericht betonte mehrfach, dass ein Mindestmaß an sozio-kultureller Teilhabe unverfügbarer Teil des Existenzminimums ist. Mittels der Sicherstellung sozio-kultureller Teilhabe wird jedoch relative Armut vermieden – und damit die finanziell erzwungene Exklusion von Menschen aus unserer Gesellschaft. Dieser Festlegung wird die Studie „Was der Mensch braucht“ gerecht, denn sie berücksichtigt die Integration armer Menschen, die ja keineswegs nur unter Arbeitslosen zu finden sind, in der Berechnung des Existenzminimums. Dies wäre ein großer Schritt auf dem Umkehrweg zu wieder mehr sozialer Gerechtigkeit und zum immer brüchiger werdenden sozialen Frieden in Deutschland. Dem sollte sich eine vermeintlich linke, sozialdemokratische Sozialministerin mehr als nur verpflichtet fühlen.
Lutz Hausstein (46), Wirtschaftswissenschaftler, ist als Arbeits- und Sozialforscher tätig. In seinen 2010 und 2011 erschienenen Untersuchungen „Was der Mensch braucht“ ermittelte er einen alternativen Regelsatzbetrag für die soziale Mindestsicherung. Er ist u.a. Ko-Autor des Buches „Wir sind empört“ der Georg-Elser-Initiative Bremen sowie Verfasser des Buches „Ein Plädoyer für Gerechtigkeit“.
Mehr Informationen finden Sie auf www.editionbildstein.com
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