Die Forderung nach einem höheren Renteneintrittsalter setzt Verhältnisse voraus, die langfristig zur Auflösung der Europäischen Währungsunion führen
Von Wolfram Morales
Momentan wird wieder einmal über die Anhebung des Renteneintrittsalters diskutiert. Die einfache Grundhypothese lautet: Da künftig demografisch bedingt immer weniger Beschäftigte immer mehr Rentner, immer längere Zeit unterhalten werden, müssten bei unverändertem Renteneintrittsalter von 65/67 und gegebenen Rentenanspruch, die von Arbeitnehmern und Unternehmen hälftig zur gesetzlichen Rentenversicherung zu entrichtenden Renten-Beiträge unzumutbar stark ansteigen. Wenn diese aber nicht steigen sollen, was politischer Wille ist, müssten entweder die Renten sinken oder die Arbeitnehmer länger arbeiten. Vorgeschlagen wurde darum zuletzt ein Renteneintrittsalter von 69 bzw. 70 Jahren. Einige Diskutanten wollen aber noch deutlich über diese Altersgrenze hinaus.
Bezüglich des Rentenbeitragssatzes wird argumentiert, dass ein über 20 bis 22 Prozent liegender Satz weder für die Wirtschaft noch die Arbeitnehmer zumutbar sei (etwa wenn er 26 Prozent betragen würde, was einer Steigerung auf beiden Seiten um drei Prozentpunkte entspräche).
Aus Sicht der Arbeitnehmer ist diese Position nicht sonderlich überzeugend, da sie bekanntlich im gleichen Atemzug zu zusätzlicher privater Altersvorsorge aufgerufen werden. Für Arbeitnehmer ist es kostenseitig schließlich gleich, ob ihr hälftiger Beitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung monatlich 13 Prozent ihres Bruttogehalts beträgt oder ob sie 10 Prozent in die gesetzliche Rentenversicherung und weitere 3 Prozent in einen privaten Rentenvorsorgeplan einzahlen. Der Ehrlichkeit halber handelt es sich bei der Privaten Vorsorge dann eher um 6 Prozent und dies wäre sogar eine Schlechterstellung gegenüber dem paritätischen Modell. Aufseiten der Unternehmen geht es dagegen um 10+3 oder 10+0 Prozent Mehrbelastung.
Die Frage ist damit, ob die Unternehmen durch zusätzliche drei Prozent Rentenbeiträge übermäßig belastet würden. Dagegen spricht einmal, dass die deutsche Wirtschaft in der Vergangenheit wesentlich dramatischere Preisschocks (z.B. Euro-Aufwertungen oder auch Rohstoffpreisexplosionen) weggesteckt hat, die größer als 3 Prozent waren. Dagegen spricht auch, dass die deutsche Volkswirtschaft dadurch gekennzeichnet ist, dass der Unternehmenssektor seit 14 Jahren – nach Bezahlung sämtlicher anfallender Kosten, getätigten Investitionen sowie ausgekehrten Gewinnen – immer noch spart. Er hat aus seiner eigentlichen Rolle des Nettoinvestors (Nettokreditnehmer) zum Nettosparer mutiert, was an sich ein ernstes systemisches Stabilitätsproblem darstellt. Schließlich leben wir in einem Wirtschaftssystem, das auf dem Kredit fußt und dessen reibungslose Fortentwicklung vom Kredit abhängt. Die Verschuldung ist sozusagen der Treibstoff mit dem unser Wirtschaftssystem fährt. Spart ein Sektor muss mindestens ein anderer sich verschulden.
Privathaushalte sind traditionelle Netto-Sparer. Inzwischen meint auch der Staat mindestens eine „schwarze Null“ im Haushalt machen zu müssen, am besten aber zu sparen. Im Ergebnis verschuldet sich hierzulande per saldo keiner der inländischen Sektoren der Volkswirtschaft. Die zum Fortgang des Systems erforderliche Neuverschuldung macht nur das Ausland. Langfristig darauf zu setzen, dass sich immer nur das Ausland verschuldet, weil im Innern alle Sektoren sparen wollen, ist weder nachhaltig, noch klug, noch stabilitätsorientiert. Weder intern noch mit Blick auf den gemeinsamen Währungsraum. Dieser Zusammenhang soll hier aber nicht weiter vertieft werden.
In der Diskussion um die Erhöhung des Renteneintrittsalters wird von Instituten, Behörden und Regierung von der Bevölkerungsentwicklung ausgegangen und der Rest dann wie ein Buchhaltungsproblem abgearbeitet.
Vergessen wird dabei, dass die Produktivität der Wirtschaft steigt. Mit steigender Produktivität können immer weniger Beschäftigte immer mehr produzieren. Sie sind dadurch in der Lage auch immer mehr Rentner, Kinder und Kranke mitzuversorgen, ohne selbst überlastet zu werden.
Da das System der heutigen gesetzlichen Rente auf den Bruttolöhnen und -gehältern der abhängig Beschäftigten fußt, kommt es für die Einnahmen der Rentenkasse wesentlich darauf an, ob diese gesellschaftliche Gruppe angemessen am Ertrag der gesellschaftlichen Produktion, also am arbeitsteilig geschaffenen gesellschaftlichen Reichtum beteiligt wird (das gilt übrigens für das gesamte soziale Netz).
„Angemessen“ ist in diesem Sinne nicht als moralische Kategorie zu verstehen. Auch mit Gerechtigkeitsgefühlen hat dies nichts zu tun. Angemessene Beteiligung bedeutet nur, dass gemäß des Produktivitätswachstums der bestehende, also bereits erwirtschaftete Verteilungsspielraum genutzt wird.
Einigt man sich außerdem darauf, dass (aus welchen Gründen auch immer) eine moderate Inflation gewollt ist, so wie das in der Euro-Zone mit dem 2-Prozent-Inflationsziel der Fall ist, dann ist diese Soll-Inflationsrate in die jährlichen Lohn- und Gehaltssteigerung einzurechnen. Hierbei handelt es sich um eine inzwischen scheinbar in Vergessenheit geratene alte volkswirtschaftliche Grundweisheit – die Goldene Lohnregel –, die in Nachkriegs-Westdeutschland selbstverständlich angewendet wurde. Sie besagt, dass das Lohnwachstum gleich dem Produktivitätswachstum zuzüglich der Inflation (Inflationsziel) sein sollte.
Was bedeutet dies alles nun in Zahlen?
Laut Mindestlohn-Kommission der Bundesregierung stieg die Arbeitsproduktivität in Deutschland von 1991 bis 2014 um durchschnittlich 1,4 Prozent pro Jahr. Die Zielinflationsrate von heute ist bekanntlich die Durchschnittsinflation in Deutschland aus der Zeit vor Beginn der Währungsunion, 2 Prozent. Damit hätte gemäß Goldener Lohnregel die Lohn- und Gehaltssumme um jährlich 3,4 Prozent (1,4 Produktivitätswachstum plus 2,0 Inflation = 3,4) steigen sollen um Disproportionen zu vermeiden.
Im Jahr 1991 betrug dem Statistischen Bundesamt zufolge die Bruttolohn- und -gehaltssumme in Deutschland umgerechnet 700 Mrd. Euro. Bei einem jährlichen Wachstum, das den vorhandenen Verteilungsspielraum von 3,4 Prozent je Jahr ausgenutzt hätte, wäre die Bruttolohn- und -gehaltssumme bis 2014 (die höhere Arbeitnehmeranzahl von 2014 rechnerisch berücksichtigt) auf insgesamt 1.644 Mrd. Euro angewachsen. Tatsächlich ist sie infolge der zwischen Regierung, Gewerkschaften und Arbeitgebern vereinbarten Politik der Lohnzurückhaltung nur auf 1.211 Mrd. Euro gestiegen (Verteilungs-Lücke nach dieser Rechnung im Jahr 2014: 433 Mrd. Euro).
Die Anzahl der Arbeitnehmer stieg von 1991 35 Millionen auf 38 Millionen im Jahr 2014. Die Arbeitnehmer zahlten in diesem Modell bei einem gerundet angenommenen 20- 3 prozentiger Beitragssatz im Jahr 1991 140 Mrd. Euro in die gesetzliche Rentenversicherung ein. Im Jahr 2014 waren es dann ca. 242 Mrd. Euro.
In der gleichen Zeit wuchs die Anzahl der Rentner von 19 Millionen auf 25,3 Millionen an. Rechnerisch entfielen im Jahr 1991 auf jeden Rentner 7.400 Euro Rente im Jahr, 2014 waren es 9.600 Euro (der jährliche Bundeszuschuss blieb der Einfachheit halber unberücksichtigt).
Zwischenfazit: 2014 konnten im Vergleich mit 1991 alle Arbeitnehmer zusammen 6,3 Millionen mehr Rentner als 1991 finanzieren und diesen eine um rund 28 Prozent höhere Rente auszahlen, obwohl die Anzahl der Beitragszahler im Modell nur um 3 Millionen angestiegen ist.
Laut Prognos-Institut wird die Anzahl der Arbeitnehmer bis 2040 wieder auf 35 Millionen sinken und damit so groß wie 1991 sein. Die Anzahl der Rentner wächst zugleich auf 31 Millionen. Das Verhältnis von Beitragszahler zu Beitragsempfänger ist dann nahezu 1:1.
Wie sieht nun die Finanzierbarkeit der Rente unter Berücksichtigung des Produktivitätszuwachses aus?
Da international feststellbar ist, dass das Produktivitätswachstum in den letzten Jahren abflachte, sollte für eine Prognose auf das Jahr 2040 nicht einfach mit dem Durchschnittsproduktivitätswachstum des Zeitraumes 1991 bis 2014, also 1,4 Prozent pro Jahr, weitergerechnet werden. Niemand kann die Produktivitätsentwicklung bis 2040 exakt vorhersagen, darum wurde für die Berechnung ein Wert von 0,8 Prozent Arbeitsproduktivitätswachstum pro Jahr angenommen. In den letzten Jahren lag das Wachstum der Arbeitsproduktivität zwar unter 0,8 Prozent, man sollte aber eine Erholung in den kommenden Jahrzehnten nicht generell ausschließen.
Außerdem wurde angenommen, dass alle Beschäftigten 1991 und 2040 von 100% ihres Einkommens 10 Prozent (und die Unternehmen ebenfalls 10 Prozent, zusammen also 20 Prozent) in die Rentenkasse einzahlen.
Unter Berücksichtigung der gewollten EZB-Zielinflation sollten die Löhne und Gehälter gemäß des Verteilungsspielraumes in Höhe von 0,8 Prozent Produktivität plus 2,0 Prozent Zielinflation = 2,8 Prozent jährlich steigen.
Im Jahr 2040 erreicht die Lohn- und Gehaltssumme damit 2.284 Mrd. Euro. Davon überweisen Arbeitnehmer und Unternehmen gemeinsam 457 Mrd. Euro an die Rentenkasse.
Für die größere Anzahl Rentner kann 2040 im Ergebnis eine geringere Anzahl Arbeitnehmer eine um 54 Prozent höhere Durchschnittsrente als 2014 erwirtschaften und bezahlen. Das entspricht einer jährlichen Rentensteigerung in Höhe von 1,68 Prozent.
Wollte man die jährliche Rentensteigerung mit der Zielinflation gleichlaufen lassen, dann müsste der Beitragssatz von 20 auf 21,7 Prozent angehoben werden. Dieser Wert liegt innerhalb jener Prognosen, die die Befürworter einer Anhebung des Renteneintrittsalters für tragbar halten.
Fazit: Ein höheres Renteneintrittsalter ist keine alternativlose Natur-Notwendigkeit. Es gibt vielmehr die Möglichkeit systemadäquat ein langfristig stabiles Rentenniveau zu sichern. Voraussetzung dafür ist, dass Löhne und Gehälter jährlich angemessen angepasst werden (Goldene Lohnregel). Zugleich würde damit ein zweites, weitaus wichtigeres Problem angegangen: Die Krise des Euro-Währungsraumes.
Diese Krise beruht zum größten Teil darauf, dass bisher unbeachtet blieb, dass in einem einheitlichen Währungsraum die Zielinflation von allen Mitgliedern weitgehend einzuhalten ist. Andernfalls steuert man in volkswirtschaftliche Disproportionen und langfristig auf die Gefahr des Auseinanderbrechens der Währungsunion zu.
Der Teufelskreis dabei ist folgender: Wenn man sich auf eine gemeinsame Inflation geeinigt hat, eine A-Gruppe von Mitgliedern der Währungsunion aber regelmäßig die Goldene Lohnregel missachtet, senkt sie dadurch die eigenen Arbeitskosten. Auf diesem Weg sinkt nicht nur die heimische Preissteigerungsrate (Inflation) unter das vereinbarte Ziel, zugleich steigt ihre preisliche Wettbewerbsfähigkeit gegenüber der B-Gruppe (wenn diese sich an die vereinbarte Regel hält). A kann dadurch ihre Waren besser verkaufen, da diese weniger im Preis steigen, als die Waren von B.
A konkurriert damit auf Dauer die Wirtschaft von B an die Wand.
B erlebt, wenn sie die Goldene Lohnregel befolgt, Deindustrialisierung, nicht endende Defizite und eine anhaltend hohe Arbeitslosigkeit. Früher oder später ergibt das soziale Unruhen oder „Protestwahlen“ in denen radikale, nationalistische Parteien erstarken.
Was also gut wäre für die Beständigkeit der Währungsunion (die Anwendung der Goldenen Lohnregel), das wäre auch gut für die künftige Finanzierbarkeit der Renten. Man schlüge sprichwörtlich zwei Fliegen mit einer Klappe.
Anders herum gesagt: Wer heute prognostiziert, dass künftig alternativlos länger gearbeitet werden muss, damit die Renten noch bezahlt werden können, der unterstellt, das in den nächsten Jahrzehnten die Löhne und Gehälter nicht gemäß des erwirtschafteten Verteilungsspielraumes wachsen werden. Er macht damit zugleich eine Situation, die langfristig zur Destabilisierung und schließlich zur Auflösung der Währungsunion führt, zur Grundannahme seiner Argumente in der Rentenfrage.
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