Brief an Vorstand und Kuratorium des ISM aus Großbritannien
"Es ist alles ziemlich im Fluss und es kann bei der nächsten Wahl Mehrheiten in alle Richtungen geben."
Liebe Freundinnen und Freunde,
bestimmt habt ihr die Entwicklung in GB mitbekommen, wo nicht nur die Tories implodieren, sondern inzwischen auch Labour in einer existenziellen Krise steckt. Gleichzeitig erleben die Liberalen und Grünen einen Höhenflug. Das ist schon alles ziemlich dramatisch in einem Wahlsystem, in dem bei der letzten Wahl 90% der Abgeordneten entweder von den Tories oder von Labour kamen. Es ist unklar, wo es in den nächsten Jahren hingeht, aber wir können uns ziemlich sicher sein:
- Brexit ist gescheitert, was jedoch nicht heißt, dass es weiter Millionen von EUfeindlichen Fanatikern gibt, die dem Brexit-Kult huldigen werden.
- Die Tories haben sich selbst unwiderruflich in offen faschistischen Bewegungen aufgehoben und werden möglicherweise bald als Partei verschwinden.
- Corbyn, und vielleicht sogar die Labour-Partei, hat die unwidersprochene Führungsrolle im linken und zentristischen Spektrum verloren, das jetzt klar für Remain ist.
Es ist alles ziemlich im Fluss und es kann bei der nächsten Wahl Mehrheiten in alle Richtungen geben. Es ist nicht völlig ausgeschlossen, dass die Tories und/oder Labour aus dem Parlament komplett verschwinden. In jedem Fall ist eine von Corbyn angeführte Regierung sehr unwahrscheinlich geworden. Ich nehme an, dass das Land wie bisher keine wirkliche Regierung haben wird und das Vertrauen in das Land und seine Institutionen weiter ausgehöhlt werden. Es kann sein, dass dieses Vakuum irgendwann von einer autoritären, anti-demokratischen Führungsfigur wie Farage oder Hitler ausgefüllt wird.
Ich habe zweimal für Corbyn als Labour-Vorsitzenden gestimmt und ich bin dankbar für den großartigen Wahlkampf, den er vor der letzten Parlamentswahl 2017 gemacht hat. Er hat das drängendste Thema unserer Zeit erfolgreich in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte gerückt: soziale Gerechtigkeit.
Eine Sache, die mich als in Großbritannien lebender Europäer enttäuscht hat, war seine sture Forderung nach einem "guten" Labour-Brexit, der so unmöglich, unwirklich und unehrlich erscheint wie ein "guter Tory-Brexit" und wohl nur dazu beigetragen hat, die souveränistischen Diskurse der nationalistischen Rechte zu nähren. Beharrlich hat er einer Partei seinen Brexitkurs aufgedrückt, und hat dafür sogar Unwahrheiten wie die von einer „Brexit-Dividende“, „neoliberalen“ Staatshilferegeln und zur Migration verbreitet.
Aber ich denke, die Enttäuschung über das Corbyn-Projekt geht noch tiefer. Was mich demoralisiert, ist die große Lücke, die sich zwischen seinen hohen moralischen Ansprüchen und der Wirklichkeit seiner Handlungen aufgetan hat. Corbyn behauptet, er sei internationalistisch und solidarisch mit den vielen antiautoritären Kämpfen weltweit, aber er ergreift Partei für die Nationalisten in seinem eigenen Land? Er behauptet, er sei für die Migranten, aber "die Freizügigkeit muss ein Ende haben"? Er behauptet, er sei gegen Rassismus, aber er unternimmt nichts, um Juden vor Antisemitismus in seiner Partei und außerhalb zu schützen? Er behauptet, er sei für Demokratie, hat abweichende Ansichten in seiner Partei jedoch nicht ernst genommen. Er hat versucht, zu verhindern, dass seine Partei über wichtige Themen wie den Brexit abstimmt, und er hat auch nichts getan, um den Personenkult um ihn herum einzudämmen. Er behauptet, er wolle das Land grundlegend umgestalten, aber warum vertraut er nur einer kleinen Gruppe von Sektierern, anstatt alte Allianzen auszubauen und neue zu gründen? Er behauptet, 2 er sei gegen die Tories, aber er scheint eher geneigt zu sein, große Gruppen in seiner eigenen Partei als "Blairites" zu verleumden als gegen die Mays Brexit-Strategie zu stimmen? Es ist wichtig, dass er auf die Fehler liberaler kapitalistischer Demokratien hinweist, aber warum sagt er nichts zum Scheitern von linkspopulistischen Projekten wie in Venezuela, die er unterstützt?
Gleichzeitig leben wir immer noch unter der rechtesten Regierung, die dieses Land jemals hatte, eine Regierung, die von faschistischen und fanatischen Kräften gespeist wird, die vor 70 Jahren Deutschland und den Kontinent zerstört haben. Seit drei Jahren warte ich auf Corbyns Antworten auf diese Herausforderungen. Und inzwischen habe ich die Hoffnungen, die ich in ihn gesetzt hatte, aufgegeben. Ich habe bei der letzten Wahl in UK daher grün gewählt.
Ich werde bei Gelegenheit auch mal wieder etwas zu Frankreich schreiben, wo die Entwicklung weniger dramatisch ist, aber in die gleiche Richtung zeigt - mit dem Unterschied natürlich, dass es dort eine liberale Regierung gibt, die von der Auflösung der traditionellen links-rechts Parteien wohl eher gestärkt worden ist.
Johannes Angermuller (London/Paris)
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