Flatten two Curves: Corona und Klimaerwärmung

In Zeiten der Covid-19-Pandemie: Sozial gestaltete Umweltpolitik nicht verdrängen

14.04.2020 / Rudolf Hickel

Der Text wird in gekürzter Fassung im Mai-Heft der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ erscheinen.

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Solidarische Gesellschaft bei „Social Distancing“

Noch vor wenigen Wochen stand die Forderung nach Maßnahmen für eine bessere Umwelt im Zentrum der durch Demonstrationen getriebenen Politik. Die Bewegung „Fridays for Future“ brachte massenhaft vor allem Jugendliche zu Großdemonstrationen gegen die Klimakatastrophe und für einen radikalen ökologischen Umbau auf die Straße. Die Lage hat sich in Windeseile komplett verändert. Der unsichtbare Covid-19-Erreger hat die Straßen und öffentlichen Plätze leergefegt. Die Ländergrenzen und Kontinente übergreifende Ausbreitung der Infektion zu stoppen, zwingt dazu: Runter von den Straßen, zurück aus der Öffentlichkeit in die mehr oder wenig abgeschotteten Wohnungen. An die Stelle der kürzlich noch spürbaren Solidarität durch Menschen in Massen für die Umwelt dominiert jetzt das „Social Distancing“, also der Verzicht auf persönliche Nähe. Corona-Schock und Umweltkrise lösen bange Fragen aus. Ist das derzeitige Verbot von Großdemonstrationen ein böses Omen für den Kampf gegen die Klimakatastrophe? Wird jetzt der Bekämpfung der ökonomischen Krise ohne Rücksicht auf die ökologischen Folgen oberste Priorität eingeräumt? Wird der nach der Aufhebung des Shutdowns und der der Corona-Wirtschaftskrise folgende Boom ein neuer ökologischer Belastungsschub hingenommen?

Zuerst einmal: Ohne Umweltignoranz Pandemie medizinisch und ökonomisch beherrschbar machen!

Die vielen harten Restriktionen des derzeitigen Shutdowns fixieren sich auf das Ziel, die exponentielle Ausbreitung dieser Pandemie zu verlangsamen, um sie dadurch medizinisch beherrschbar zu machen. Zeit zu gewinnen, um die Behandlungskapazitäten im Gesundheitssystem angemessen zu sichern, hat jetzt Vorrang. Eine der ersten wichtigen Lehren der Corona-Pandemie macht klar, dass das Gesundheitssystem nicht durch das gewinnwirtschaftliche Prinzip getrieben werden darf, sondern als öffentlich zu verantwortende Daseinsvorsorge zu sichern ist. Allerdings drohen unter dem Druck der medizinischen, aber auch sozialen und ökonomischen Krise ökologische Anforderungen verdrängt zu werden. Die gesamte Kraft gilt vorrangig der Abfederung der sozialen und ökonomischen Belastungen. Immerhin setzt die Politik ein taugliches Bündel an finanz- und wirtschaftspolitischen Instrumenten ein, die noch wenige Tage vor der Virus-Pandemie unvorstellbar waren. Es bleibt zu hoffen, dass dieser konstruktive Pragmatismus ohne ideologische Rechthaberei im Dienst der neoliberalen Vorherrschaft der Märkte diese Pandemie überleben wird. Denn die Corona-Krise lehrt zum einen die Notwendigkeit der solidarischen Daseinsvorsorge für eine zukunftsfähige Gesellschaft sowie zum anderen die notwendige Relevanz einer auch ökologisch überlegenen stabilen Wirtschaft vor Ort und in der Region. Nur noch wenige ideologische Eiferer reklamieren gegenüber dem gigantisch steigenden Finanzbedarfs des Staats kleinkariert die Schuldenbremse, die schon in normalen Zeiten wegen des Drucks in Richtung Sozialabbau und defizitären öffentlichen Zukunftsinvestitionen versagt hatte. Bund, Länder und Kommunen, aber auch Sozialversicherungen zielen pragmatisch mit umfangreichen Finanzschirmen auf das zum Teil kaputt gesparte Gesundheitssystem, die geschrumpfte Wirtschaft und hier gezielt auch auf die Kleinstanbieter und Solo-Selbstständigen, die vom Arbeitsplatzverlust Bedrohten durch unkonventionell geregelte Kurzarbeit, die belasteten Familien, die zahlungsunfähigen Mieterinnen und Mieter sowie die Studierenden, die ihre Nebenjobs los sind. Wenn auch immer noch per Antrag formal geprüft, in dieser massenhaften Not nähert sich die Republik bereits in der ersten Phase der Krise dem Narrativ vom bedingungslosen Grundeinkommen. Für die zweite Phase der Krise werden endlich die Schutzschirme nach Aussagen des offenbar vom Saulus zum Paulus gewandelten Bundesfinanzminister Olaf Scholz durch ein umfangreiches Konjunkturprogramm à la Keynes im Umfang von fast 50 Mrd. Euro ergänzt werden. Noch wenig bewusst wahrgenommen, steigt die vorfinanzierte Rechnung für die Maßnahmen beim Staat immer schneller. Nach Angaben aus dem Umfeld der Bundesregierung belaufen sich die bis Anfang April ausgegebenen Finanzmittel für den Bund, die Länder, die Kommunen und Sozialversicherungen auf 1,173 Bio. Euro. Diskussionen über die Frage, wie die staatlichen Krisenkosten langfristig zu finanzieren sind, beginnen endlich. Derzeit läuft erst einmal die Finanzierung über die sonst von den vorherrschenden Marktfundamentalisten gegeißelte Staatsverschuldung. Schätzungen zeigen, dass am Ende der Corona-Wirtschaftskrise die Staatsschulden um über 1,8 Bio. Euro angestiegen sein werden. Die Frage, wer in der langen Frist dafür die Zinsen und die Tilgung finanziert, wird immer dringlicher.

Wegen der großen Ängste vor der zu erwartenden staatlichen Haushaltspolitik nach der Krise sind jetzt klare Aussagen erforderlich. Demokratiegefährdend wäre es, wenn am Ende als „Belohnung“ für die Akzeptanz der viele Wochen unvermeidbarer Einschränkungen individueller Freiheitsrechte die Rechnung mit massivem Sozialabbau und erhöhten Massensteuern, wie bei der Finanzkrise nach 2008 zugunsten der Banken erfolgt, zu Lasten der Einkommensschwachen und der vom Sozialstaat Abhängigen aufgemacht würde. Deshalb sollte eine einmalige Vermögensabgabe den Vermögenden an der Spitze der Verteilungspyramide zur Finanzierung eines auf dreißig Jahre angelegten Corona-Solidarfonds – vergleichbar dem Lastausgleich von 1952 – abverlangt werden (vgl. Rudolf Hickel, CoronaSolidarfonds)

Bei den vielen wichtigen Aktivitäten der Politik zur Abfederung der ökonomischen und sozialen Folgen fällt auf: das seit Jahren die Republik antreibende Topthema Kampf gegen die Klimakatastrophe spielt kaum eine Rolle. Bei den milliardenschweren Schutzschirmen werden ökologische Anforderungen ausgeblendet. Es droht zumindest ein temporärer Stopp der eigentlich unaufschiebbaren ökologischen Transformation. Während noch unmittelbar vor der Infizierung von Gesellschaft und Wirtschaft gut begründet Nachbesserungen zum Klimapaket der Bundesregierung gefordert wurden, ist dieser ökologische Forderungskatalog ad acta gelegt worden. Die betroffenen Interessenverbände plädieren ungeniert zumindest für einen temporär begrenzten Stillstand eines weiteren ökologischen Umbaus. Von einem Krisengespräch der Bundeskanzlerin mit führenden Branchen- und Gewerkschaftsvertretern wird der Satz der Vorsitzenden des „Verbandes der Automobilindustrie“ zitiert: “Das ist jetzt nicht die Zeit, über weitere Verschärfungen bei der CO2-Regelung nachzudenken“. Wenn auch nicht entschieden genug, immerhin relativiert Svenja Schulze, die Bundesumweltministerin, diese Forderung der Automobilindustrie: „Der Aufbau einer vollständig auf erneuerbaren Energien basierenden Wirtschaft muss im Focus bleiben, auch wenn aktuell die Bewältigung der Pandemie im Mittelpunkt steht.“ Die Protagonisten des „Öko-Stopps“ scheuen sich nicht, einen empirisch trivialen Wirkungszusammenhang ohne Rücksicht auf die Kausalitäten zu missbrauchen: Beschworen wird der Rückgang des CO2-Ausstoßes infolge des wirtschaftlichen Absturzes in Corona-Zeiten. Die Konditionalität weniger Schadstoffemissionen bei rückläufigem Bruttoinlandsprodukt ist peinlich trivial, aber gefährlich. Die Aussagerelevanz dieser Primitivkorrelation offenbart dieser Vergleich: Die wegen eines Beinbruchs verhinderte PKW-Nutzung lässt sich nicht als gewollter Beitrag zur Schadstoffreduktion vermarkten. Die derzeit rückläufige Umweltbelastung ist nicht die Folge einer gewollten, entschiedenen Politik des ökologischen Umbaus, sondern schlichtweg der Preis der Corona-Krise, der an anderer Stelle bezahlt werden muss. Hinter dieser ungewollten Reduktion der Schadstoffemissionen stehen die durch wirtschaftliches und soziales Elend Belasteten sowie die Existenz vernichtenden Verluste der lokal orientierten Kleinwirtschaft. Die richtige Antwort auf die derzeit krisenbedingte, vorübergehende Umweltentlastung ist klar: Auch in dieser Corona-Wirtschaftskrise muss ökologisch verantwortlich gehandelt werden. Diese allerdings gesellschaftlich schwierige, aber unverzichtbare Zielsetzung werden künftige Generationen danken. Corona-Krise und Umweltkrise kennzeichnen Gemeinsamkeiten. Die aktuelle Daseinsvorsorge ebenso wie die nachhaltige Zukunftsvorsorge verbinden. In Anspielung an den medizinischen Appell zur Senkung der Infektionskurve ist die Doppelaufgabe wichtig: Flatten the two Curves: Corona- und Klimaerwärmung! Deshalb sollten die heutigen Schutzschirme soweit wie möglich auf ihre ökologischen Wirkungen hin überprüft werden. Darüber hinaus bieten die notwendigen Konjunkturprogramme Chancen im Kampf gegen die Klimakatastrophe. Ökologisch notwendige öffentliche Zukunftsinvestitionen lassen sich zur heutigen Stärkung der Wirtschaft und Erwerbsarbeit vorziehen. Zur ökologischen Transformation durch die Konjunkturprogramme beitragen könnten statt Abwrackprämien wie 2009 Innovationsprämien für den ökologischen Umstieg etwa auf umweltfreundliche Fahrzeuge. Wegen der öffentlichen Finanzierungsbedarfe, die auch die Corona-Krise offengelegt hat, sowie das langfristige Konzept des ökologischen Umbaus belegen: allgemeinen Steuersenkungen taugen nicht. Denn die aktuelle Krise lehrt auch die Sicherung eines finanzierungsfähigen Staates für die Aufgaben der Gegenwart und der Zukunft. Noch ist nicht bekannt, wie lange und wie tief der wirtschaftliche Absturz anhalten wird. Gewiss ist jedoch, es wird ein gigantischer Wirtschaftsboom durch die derzeit gebremsten Unternehmen mit ihren Beschäftigten ausbrechen.

Daher ist mit einem gigantischen Schub der Umweltbelastung und Rückschritten bei der Reduktion der Erderwärmung zu rechnen.

Sozial gerechte Umweltpolitik forcieren

Schon vor der Corona-Pandemie war klar, die im Klimapaket der Bundesregierung enthaltenen Instrumente reichen bei weitem nicht, das Ziel der Reduktion der Klimaerwärmung auf deutlich unter 2 Grad zu erreichen. Immerhin hatte die Bundesregierung auf die massive Kritik reagiert und die anfangs viel zu niedrigen Preisaufschläge durch die CO2-Abgabe pro Tonne von zuerst 35 Euro auf 55 Euro für die Jahre 2021 bis 2025 erhöht. Allerdings zeigen Modellrechnungen wissenschaftlicher Institute, dass zum Erreichen des dringlichen Ziels einer 1,5 Grad Erderwärmung der Preisaufschlag für Treibhausgasemissionen auf 130 bis 350 Euro pro Tonne in Deutschland angehoben werden müsste. Was ökologisch dringend erforderlich ist, führt ohne gezielte Politik zu einer sozial ungerechten Belastung vor allem der Sozialabhängigen und Einkommensschwachen. Diese Belastungskonzentration wird zur harten Bremse einer rationalen ökologischen Abgabenpolitik. Dabei ist in der aktuellen Phase der Corona-Krise der Widerstand gegen umweltnützliche Preiserhöhungen besonders hoch. Denn zu den durch die Corona-Krise erzeugten Belastungen der Lohn- und Sozialabhängigen kämen ohne politische Maßnahmen des Ausgleichs die Öko-Lasten hinzu. Derzeit betroffen sind die sozial Schwachen, aber auch die vielen Kleinstunternehmen, Solo-Selbständigen und Jobnachfrager ohne feste Verträge. In diesem Klima großer Existenzsorgen und Zukunftsängste stoßen erst einmal höhere CO2- Abgaben trotz ihrer ökologischen Vernunft auf Widerstand. Daraus lassen sich zwei Schlüsse ziehen. Die finanziellen Schutzschirme gegen die Pandemiefolgen müssen auf die Abfederung besonders sozial Betroffener ausrichtet werden. Zugleich stellt sich die mit der Umweltpolitik immer schon verbundene Aufgabe, soziale Ungerechtigkeiten beim ökologischen Umstieg besonders abzufedern. Die sozialen Belastungen der Corona-Krise ernst nehmen und die Instrumente einer gerechten Umweltpolitik nutzen, das ist die Herausforderung, die dann auch den Abschied aus der „Fossil-Brennstoff-Wirtschaft“ als Daueraufgabe ohne Pause erleichtert.

Zur Umweltpolitik liegen schon lange Instrumente der sozialen Abfederung vor. Denn empirische Studien belegen die sozial ungleiche Lastverteilung beispielsweise durch die CO2- Bepreisung. Sie wirkt regressiv, also die unteren Einkommensschichten werden vergleichsweise viel stärker als die Wohlhabenden belastet. Dagegen richtet sich der Vorschlag eines Klimabonus: Aus den Einnahmen durch die CO2-Abgabe wird eine Art Klimabonus an die Bevölkerung zurückverteilt. Vorschläge zu dieser jährlichen Entlastung zwischen 80 und 100 Euro pro Jahr schaffen für die niedrigen Einkommensbezieher und sozial Abhängigen einen angemessen sozialen Ausgleich, der durch die Ökoabgabe notwendig wird.

Zur sozialen Abfederung sollten noch spezifische Finanzhilfen für besonders Betroffene verfügbar gemacht werden. Beispielsweise klingt bei Menschen in Armut die viel zitierte Anreizwirkung, wegen höherer Strompreise, den Verbrauch einzuschränken, zynisch. Ist die Stromrechnungen nicht mehr bezahlbar, bleibt am Ende die Abschaltung des Stroms die einzige Option. Deshalb ist die Anpassung der sozialstaatlichen Grundsicherung für besondere Öko-Härtefälle notwendig. Auch sind die unvermeidbaren Mietmehrkosten für die ökologische Hausmodernisierung durch Einkommensschwache nur durch soziale Abfederung vernünftig.

Schließlich zählen die Pendlerinnen und Pendler zu den besonders durch höhere Spritpreise Belasteten. Da die Zersiedlung nicht über Nacht abgebaut werden kann und dies wohl auch nicht sinnvoll wäre, benötigen die ein- und auspendelnden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer insgesamt ein nachhaltiges Mobilitätskonzept. Statt der derzeitigen Entfernungspauschale wird ein allgemeines Mobilitätsgeld unabhängig vom zu versteuernden Einkommen und der Art der Fortbewegung vorgeschlagen.

Ein erstes Fazit: Sozialer Ausgleich innerhalb der Schutzschirme gegen die Folgen der Corona-Krise zusammen mit der sozialen Gestaltung der Politik zur Klimarettung sind alternativlos, aber auch machbar. Grundsätzlich zwingen die Corona- und Umweltkrise zu einer Neuvermessung des Generationenvertrages: Junge Menschen, die robuster auf die Covid-19-Erreger reagieren, üben durch den Shutdown mit den vielen Restriktionen Solidarität mit den durch ein hohes Risiko gefährdeten Älteren. Die heute Älteren wiederum üben mit aktiver Umweltpolitik Solidarität mit den Kindes- und Kindeskindern. Ein „KlimaCorona-Generationenvertrag“ (Hans-Joachim Schellnhuber) ist die Antwort auf die doppelte Krise.