Ohne ökonomische Substanz aber auch ohne Konsequenzen
Kommentar zum Fehlurteil des Bundesverfassungsgerichts
Mit der Einführung des Euros im Jahr 1999 haben die bis heute dem Euro beigetretenen 19 EU-Staaten rechtlich ihre Kompetenzen über die eigene Währung und Geldpolitik aufgegeben und auf die Europäische Zentralbank (EZB) übertragen. Mit dem Verlust der eigenen Währung haben sich die Euro-Länder die Möglichkeit von Auf- oder Abwertungen und die Bestimmung des Leitzinses zur Orientierung ihrer Geschäftsbanken und deren Zinspolitik nehmen lassen. Dies obliegt jetzt alles der EZB. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 5. Mai 2020 bestätigt dies implizit ohne darauf näher einzugehen. Explizit werden auch die Aufkäufe von Staats- und Unternehmensanleihen als ein geldpolitisches Instrument akzeptiert. Das BVerfG-Urteil widerspricht auch nicht, wie vielfach behauptet, dem Europäischen Gerichtshofs (EuGH), der die Aufkäufe mit seinem Urteil vom 11. Dezember 2018 schon für rechtens erklärt hat. Damit ist das Urteil des BVerfG im Ergebnis eine herbe Niederlage für die Anklageerheber, die alle aus dem politisch rechten Milieu stammen, und die der EZB die Anleihe-Aufkäufe verbieten lassen wollten. Warum dann die ganze Aufregung um das Urteil des BVerfG? Weil es eben doch einen Unterschied zwischen den beiden Urteilen vom EuGH und BVerfG gibt, die für ökonomische Verwirrung und auch politische Aufregung sorgen.
Der EuGH hat der EZB bei den Aufkäufen keine Restriktionen auferlegt. Dies macht aber das Bundesverfassungsgericht. Die EZB müsse wegen der „Europäischen Kompetenzordnung“ die Aufkäufe „nachvollziehbar darlegen“ und ihre „Verhältnismäßigkeit mit den damit verbundenen wirtschafts- und fiskalpolitischen Auswirkungen“ aufzeigen. Dafür hat das deutsche Gericht der EZB drei Monate Zeit eingeräumt. Geschehe dies bis dahin nicht, so dürfe sich die Deutsche Bundesbank nicht mehr an den Anleihe-Aufkäufen beteiligen. Dies sind 26 Prozent des gesamten EZB-Aufkaufprogramms. Unterstellt, die Bundesbank würde tatsächlich die Aufkäufe einstellen, so könnten sich dann natürlich auch die anderen 18 Euroländer die Frage stellen, warum sie nicht auch die Aufkäufe einstellen sollten? Käme es dazu, so wäre dies für die EZB eine schwerwiegende Behinderung ihrer autonomen zurzeit expansiven Geldpolitik. Hier spielen nun einmal Anleihe-Aufkäufe eine wichtige Rolle.
Das Urteil des BVerfG ist aber darüber hinaus auch deshalb ökonomisch widersprüchlich, weil sich das Gericht nur über die Anleihen-Aufkäufe der EZB beschwert, nicht aber über die Leitzinssenkung auf null und auch nicht über den Negativzins von 0,5 %, den alle Geschäftsbanken für das kurzfristige „parken“ ihrer überschüssigen Liquidität bei der EZB zu zahlen haben. Demnach sind in einer nicht nachvollziehbaren ökonomischen Ableitung, die hier vom BVerfG vorgenommen wird, ausschließlich die Aufkäufe von Staats- und Unternehmensanleihen für die vom Gericht beklagten niedrigen Zinsen verantwortlich, die in vielen Wirtschaftszweigen zu erheblichen Schäden geführt hätten. So seien die Immobilienpreise explodiert und private Rentenzahlungen und Lebensversichrungen sowie Sparkonten entwertet worden und es seien sogar sogenannte unproduktive „Zombieunternehmen“ entstanden, die nur wegen der niedrigen Zinsen überleben würden.
Ohne Frage ist hier sicher richtig, dass die Anleihen-Aufkäufe auch auf das niedrige (negative) Zinsniveau einen Einfluß haben. Deshalb kauft die EZB ja die Anleihen auf, um damit die Wirtschaft zu beleben und eine wo mögliche Deflation mit fallenden Preisen und Arbeitslosigkeit zu verhindern. Und wir wollen auch nicht vergessen, dass die EZB mit den Aufkäufen das Spekulieren gegen den Euro im Nachgang zur weitweiten Finanz-, Immobilien- und Wirtschaftskrise einschränken wollte. So hatte der damalige EZB-Präsident, Mario Dragi, am 26. Juli 2012 gegenüber den weltweit professionell agierenden Spekulanten Folgendes verkündet: „Im Rahmen unseres Mandats ist die EZB bereit, alles Notwendige zu tun, um den Euro zu erhalten. Und glauben sie mir, es wird genug sein.“ Am 6. September 2012 beschloss dann der EZB-Rat die „Outright Monetary Transactions“ (OMTs). Außerdem wurde am 22. Juni 2015 ein „Expanded Asset-Purchase Programme“ (EAPP) zur Abwendung von Deflationsrisiken und zur Senkung der Realzinsen beschlossen. Zusätzlich wurden mit dem „Public Sector Purchase Programme“ (PSPP) Staats- und Unternehmensanleihen aufgekauft; bis März 2020 entsprach das einem Wert in Höhe von gut 2,1 Billionen Euro. Darauf geht das BVerfG in seinem Urteil überhaupt nicht ein.
Auch nicht auf die Leitzinssenkung auf null und den Negativzinsen für die Geschäftsbanken. In der dann nicht mehr nachvollziehbaren ökonomischen Ableitung des BVerfG haben diese geldpolitischen Maßnahmen der EZB aber keinen negativen Einfluß auf steigende Immobilienpreise, fallende Rentenpapiere, entwertete Sparkonten u.a., sondern nur die AnleihenAufkäufe. Das ist natürlich ökonomischer Unsinn, wobei es zugegebenermaßen allerdings schwierig ist den empirischen Beweis zu führen, welche der Maßnahmen mehr auf das Zinsniveau gedrückt hat. Darum geht es aber auch nicht, weil alle geldpolitischen Maßnahmen der EZB seit 2012 einer richtigen expansiven Geldpolitik geschuldet sind. Dann muss uns aber das höchste deutsche Gericht dringend die Frage beantworten, warum es nicht ökonomisch folgelogisch der EZB auch die Leitzinssetzung und den Negativzins für Geschäftsbanken verboten hat? Hier könnte das BVerfG dann antworten, wir haben ja die Aufkäufe nur unter einer einschränkenden (aufklärerischen) Maßnahme in Frage gestellt und demnach grundsätzlich erlaubt. Insofern mussten wir auch nicht die Leitzinssenkungen und Negativzinsen für Geschäftsbanken verbieten oder sie unter Vorbehalt stellen. Ökonomisch konsequent wäre dies aber auf jeden Fall gewesen. So bleibt das Urteil des BVerfG widersprüchlich. Die Präsidentin der EZB, Christine Lagarde, will sich deshalb auch durch das Urteil aus Karlsruhe nicht vom Kurs einer expansiven Geldpolitik abbringen lassen. Die EZB sei eine unabhängige Institution, die nur gegenüber dem Europäischen Parlament auskunftspflichtig sei. „Wir werden weiterhin tun, was immer nötig ist, um dieses Mandat zu erfüllen“. Gerade jetzt auch wegen der Corona-Krise.
Ökonomisch müssen wir uns deshalb keine Sorgen machen. Die Geldpolitik ist bei der EZB in guten Händen und sie wird im Haus genügend ökonomische Expertise haben, um die geldpolitische Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der Anleihen-Aufkäufe auch Juristen eines Verfassungsgerichts erklären zu können. Was bleibt dann aber vom Urteil des BVerfG noch übrig? Nichts, nicht einmal rechtlich. Es ist auch hier ohne jegliche Substanz. Die EZB unterliegt nämlich nur europäischem und nicht nationalen Recht. Dies bestreitet auch die vom BVerfG angeführte „Kompetenzordnung“ nicht und dies hat der EuGH noch einmal unmissverständlich im Hinblick auf das Urteil vom BVerfG zum Ausdruck gebracht. Die in den Euroländern jeweils verbliebenen Zentralbanken sind erstens gegenüber ihren jeweiligen Regierungen unabhängig und zweitens lediglich technisch ausführende Organe der EZBPolitik. Folgerichtig kann auch die EZB den nationalen Zentralbanken, wie u.a. der Deutschen Bundesbank, Anweisungen erteilen, ja, die EZB muss es als Notenbank sogar, will sie ihren einheitlichen geld- und währungspolitischen Auftrag für die Euroländer insgesamt erfüllen. Lagarde hat demnach uneingeschränkt Recht, wenn sie sagt, dass nach dem EUVertrag alle nationalen Zentralbanken in vollem Umfang an den Entscheidungen und der Durchführung der EZB-Geldpolitik des Euro-Währungsgebiets teilnehmen müssen. Verweigert sich hier die Deutsche Bundesbank auf Anweisung durch die Bundesregierung zukünftig Anleihen aufzukaufen, so wird, dies hat die EU-Kommission schon angedeutet, ein Strafverfahren gegen Deutschland vor dem EuGH eingeleitet. Der Ausgang des Prozesses ist heute schon bekannt. Deutschland wird verurteilt werden. Zu Recht!
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