"Wir haben noch große und schwere Aufgaben vor uns" [Rede von Oskar Lafontaine]
1. Bundesparteitag DIE LINKE.
Liebe Genossinnen und Genossen, liebe Freundinnen und Freunde, meine sehr geehrten Damen und Herren,
im Vorfeld dieses Parteitages ist viel geschrieben worden über die neue Linke, und das begrüßen wir natürlich sehr, denn besser, sie schreiben viel über uns als gar nicht. Die LINKE ist auf öffentliche Kommunikation angewiesen. Im Vorfeld des Parteitages sind auch einige Tricks versucht worden, die wir aus vielen Jahren kennen. Einer dieser Tricks ist, um etwas Unmut unter den Delegierten zu schüren, einen Vorsitzenden zum Alleinherrscher, gar zum Stalinisten zu stilisieren. Ich möchte dazu folgendes sagen: Wir haben nicht umsonst den Mitgliederentscheid in Richtungsentscheidungen zur Grundlage unserer Parteiarbeit gemacht. Die LINKE ist eine demokratische Partei. Die Weichenstellung erfolgt durch die Mitglieder und nicht durch einzelne Personen in dieser Partei.
Wir sind eine Partei von 73.500 Mitgliedern, das ist überhaupt keine Frage. Natürlich braucht eine Partei auch Führungsfiguren. Wir sind aber nicht nur eine Führungsfigur, wir sind ein Team. Wir sind auch die Partei von Lothar Bisky und wir sind an diesem Tag besonders die Partei von Gregor Gysi. Die Angriffe der Öffentlichkeit auf ihn weisen wir ganz entschieden zurück!
Im Vorfeld des Parteitages gab es auch Schmeichelhaftes über uns. Wir konnten lesen, dass die LINKE das erfolgreichste Parteiprojekt der letzten Jahrzehnte sei und dass wir mehr und mehr die Agenda der deutschen Politik bestimmen. Das könnte eine Versuchung für uns sein, uns zufrieden zurückzulehnen. Aber schon der Blick über die Grenze zeigt, dass wir dann einen großen Fehler machen würden. Denn während wir hier in Deutschland zulegen, ist in Italien die Rifondazione Communista nach der letzten Wahl nicht mehr im Parlament vertreten, und die Partei Veltronis wurde von Berlusconi deutlich geschlagen. In Spanien wurde die Izquierda Unida marginalisiert, während die PSOE noch eine relative Mehrheit schaffte. In Frankreich erlebte die KPF bei der Präsidentschafts- und bei den Parlamentswahlen verheerende Niederlagen. Und die Partie Socialiste befindet sich in einem Klärungsprozess mit offenem Ausgang.
Wenn wir die Frage beantworten wollen, wie wir uns im Konzert der anderen Parteien behaupten wollen, dann gibt es für mich eine klare Antwort: Die LINKE braucht immer ein eigenständiges Profil. Wenn sie dieses eigenständige Profil nicht hat, dann wird sie nicht überleben! Viele Politiker der Europäischen Linken blicken daher voller Hoffnung auf Deutschland und fragen sich, warum es bei uns zu dieser Entwicklung kam. Sie erwarten, dass die LINKE in Deutschland zu einer beständigen Kraft wird, von der Impulse für die gesamte europäische Linke ausgehen. Das zeigt, liebe Freundinnen und Freunde, die Größe unserer Verantwortung. Es ist tatsächlich so: Viele in Europa blicken jetzt auf uns und hoffen und bangen mit uns, dass dieses Projekt, DIE LINKE in Deutschland, zum Erfolg geführt wird. Wir tragen nicht nur nationale Verantwortung, wir tragen europäische Verantwortung. Und ich wünsche uns, dass wir dieser Verantwortung gerecht werden.
In diesem Zusammenhang sind wir heute stolz auf unseren Landesverband Berlin. Die Enthaltung Berlins im Bundesrat war notwendig, um ein Signal zu geben, dass da sagt: Die Mehrheit der Franzosen, die Mehrheit der Holländer, die diesen Vertrag abgelehnt haben, sie haben zumindest in Deutschland eine Stimme, das ist die Partei DIE LINKE!
Trotz der beachtlichen Vorberichterstattung können wir natürlich beim näheren Hinsehen mit der Entwicklung in Deutschland nicht zufrieden sein. Auf der einen Seite übernehmen die anderen Parteien Punkt für Punkt in reduzierter Form Vorschläge der Linkspartei – bei Arbeitslosengeld, Rente, Kinderzuschlag, Wohngeld, Mindestlohn, Pendlerpauschale, Einkommenssteuertarif, Beseitigung der kalten Progression, Erhöhung von Regelsatz und Schonvermögen bei Hartz IV oder bei der Regulierung der Energiepreise. Die Aufzählung ist nicht vollständig. Ich will an dieser Stelle etwas sagen: Wenn wir lesen, dass die anderen Parteien Programmpunkte von uns übernehmen, dann passt es nicht zusammen, wenn einige in der Vorberichterstattung immer noch sagen, wir hätten ja gar kein Programm. Also beides zusammen, verehrte Kolleginnen und Kollegen des Journalismus, geht nicht. Entweder die anderen übernehmen Programmpunkte von uns oder wir haben kein Programm. Aber beides zusammen geht nicht!
Damit es einfacher ist, sich jetzt Programmpunkte der Alltagsarbeit zu merken, hat die Bundestagsfraktion einen Flyer ausgelegt, den jeder sich nehmen kann – 100 Programmpunkte, die die Bundestagsfraktion eingebracht hat. Das ist vielleicht ein bisschen wenig. Aber wenn die anderen diese übernommen haben, hat Deutschland ein anderes Gesicht. Mehr wollen wir doch gar nicht. Bitte, guckt euch die 100 Programmpunkte der LINKEN an!
Obwohl die neoliberale Hegemonie aus der öffentlichen Debatte verschwunden ist und bescheidene Korrekturen im sozialen Bereich in Angriff genommen wurden, ist die bisherige Bilanz der Großen Koalition mehr als ernüchternd. Die Umverteilung von unten nach oben dauert unvermindert an. Über die Mehrwertsteuer werden bei Rentnerinnen und Rentnern, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und Empfängern sozialer Leistungen jährlich 22 Milliarden abkassiert. Nach der erneuten Unternehmenssteuerreform und dem Senken der Arbeitslosenversicherungsbeiträge, was oft übersehen wird – die Hälfte geht an die Unternehmen – wurden den Unternehmen jährlich derselbe Betrag, also 22 Milliarden Euro, gegeben, der den Konsumenten genommen wurde. Und das, obwohl die Gewinne in den letzten Jahren explodierten. Also letztendlich, eine Umverteilung von 22 Milliarden, die man nimmt, und 22 Milliarden, die man gibt. Da kann man sich doch nicht mehr wundern, weil das seit vielen Jahren so geht, dass der Armutsbericht solche Zahlen ausweist! Der Armutsbericht ist doch ein Zeugnis über eine Regierung! Der Armutsbericht ist das Armutszeugnis dieser Bundesregierung und der Vorgängerregierung!
Aufgrund der von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen zu verantwortenden verheerenden Arbeitsmarktgesetzgebung ist der Niedriglohnsektor in diesem Jahr der größte unter den OECD-Staaten. Ich wiederhole das noch einmal: Im Jahr 2005 lagen wir noch hinter den Vereinigten Staaten. Heute liegen wir beim Niedriglohnsektor an der Spitze unter allen OECD-Staaten. Fast jeder vierte Beschäftigte arbeitet zu einem Lohn von 15.000 Euro jährlich oder darunter. Das ist nach der Definition der Niedriglohnsektor. Und wer einen Monatslohn von 1000 Euro hat, darf im Alter mit einer Armutsrente von 400 Euro rechnen. Wenn es nichts anderes gäbe als das – dass heute eine Verkäuferin, die 1000 Euro verdient, nur eine Rente von 400 Euro zu erwarten hat, in Dänemark bei dem selben Lohn eine Rente von 1200 Euro, also das Dreifache – wenn es nur das gäbe, dann wäre allein das Grund genug für uns zu kämpfen und unermüdlich dafür einzutreten, dass dieser gesellschaftspolitische Skandal beendet wird. Wir wollen armutsfeste Renten!
Und was oft übersehen wird: Die Lohnquote, also der Anteil der Löhne und Gehälter am Volkseinkommen, ist seit dem Jahr 2000 von 72 Prozent auf nunmehr 64 Prozent gefallen. Das sagt im Grunde genommen alles! Ohne diese Talfahrt der Lohnquote hätten die Beschäftigten 135 Milliarden Euro mehr Lohn. Staat und Sozialkasse würden davon rund die Hälfte als Steuern und Abgaben einnehmen. Man sieht also, wie ein zu langsames Wachsen der Löhne, und das haben wir seit 20 Jahren, die strukturelle Situation eines Staates und einer Gesellschaft total verändern kann. 2,5 Millionen Kinder leben in Armut. Die negative soziale Auslese unseres dreigliedrigen Schulsystems ist erschreckend. Und nach wie vor gilt in unserer reichen Gesellschaft: Weil du arm bist, musst du früher sterben. Wo bleibt da das Positive, könnte einer fragen. Ja, sicher, unsere Wirtschaft wächst. Und die Kanzlerin ist viel im Ausland und wird freundlich empfangen. Aber weil Leiharbeit, befristete Arbeitsverträge, Aufstocker, Mini- und Midijobs zunehmen, will der Aufschwung bei der Bevölkerung einfach nicht ankommen. Ein Aufschwung für wenige, den wollen wir nicht! Wir wollen einen Aufschwung für die Mehrheit, sonst ist es kein Aufschwung!
Deutschland, das zur Zeit Willy Brandts eine in der Welt allseits geachtete Friedensmacht war, beteiligt sich weiter an den völkerrechtswidrigen Kriegen im Irak und in Afghanistan und ist beim Rüstungsexport, Lothar hat bereits darauf hingewiesen, auf Platz 3 gelandet. Waffen im Wert von 7,7 Milliarden wurden im Jahre 2006 exportiert. Aber das Schlimme: Davon sind Waffen im Wert von 1,5 Milliarden, die in Entwicklungsländer geliefert wurden, in denen die Menschenrechte nicht gewährleistet sind. Als Umwelt- und Menschenrechtspolitikerin ist die Bundeskanzlerin genauso glaubwürdig wie die Kriegs-Grünen. Wer glaubwürdig Menschenrechte vertreten will, darf nicht Waffen in Entwicklungsländer und in Spannungsgebiete liefern!
Unser Partei, liebe Freundinnen und Freunde, ich sage das trotz der Erfolge, die hier berichtet worden sind, ist kein Selbstzweck. Wir wollen Politik verändern. Anders gesagt: Wir wollen die Lebensbedingungen der Menschen verbessern. Um dabei erfolgreich zu sein, müssen wir aus der Geschichte und den Erfahrungen der Arbeiterbewegung lernen. Dabei ist es selbstverständlich wichtig, angesichts unserer Vorgeschichte und unserer Zusammensetzung die Geschichte der DDR aufzuarbeiten und daraus Konsequenzen zu ziehen. Sicher, in der DDR gab es auch Fortschritte – mehr soziale Gleichheit, mehr Gleichstellung der Frauen in Beruf und Gesellschaft, mehr soziale Sicherung, ein besseres Gesundheitswesen und eine gute Schulbildung. Aber die DDR ist auch gescheitert, weil sie kein Rechtsstaat war, weil sie keine Demokratie war und weil die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu wenig Mitbestimmung hatten. Das sind aber unverzichtbare Bestandteile einer Gesellschaft, in der die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist. Dies ist die Lehre aus der Geschichte der DDR.
Für uns aber, liebe Freundinnen und Freunde, ist es genauso wichtig, die Erfahrungen der Arbeiterbewegung in kapitalistischen Gesellschaften aufzuarbeiten. Wir würden einen Fehler machen, wenn wir uns von unseren Gegnern dazu drängen ließen, unseren Blick auf die 40 Jahre der DDR im letzten Jahrhundert zu verengen. Nach der Fusion zweier linker Parteien ist es notwendig, sich stets zu vergegenwärtigen, warum sich beispielsweise die Arbeiterbewegung vor 90 Jahren gespalten hat. Die Antwort ist untrennbar mit dem Wirken von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg verbunden, deren politisches Vermächtnis uns heute mehr denn je verpflichtet: Liebknechts "Nieder mit dem Krieg!" fand seine Entsprechung in Willy Brandts Nobelpreis-Rede, in der er den Krieg die "ultima irratio" nannte. Im Gegensatz dazu ist der Krieg für die anderen Bundestagsparteien einschließlich der SPD wieder die "ultima ratio". Wir bleiben dabei: Krieg ist kein Mittel der Politik! Von deutschem Boden darf niemals wieder Krieg ausgehen!
Die NATO, liebe Freundinnen und Freunde, war einst ein Verteidigungsbündnis. Inzwischen ist sie zu einem Interventionsbündnis unter Führung der Vereinigten Staaten geworden. Zur Führungsmacht des Westens, sagte Michail Gorbatschow kürzlich im "Daily Telegraph". Die USA können kein anderes Land dulden, das unabhängig handelt. Jeder US-Präsident braucht seinen Krieg. Er habe manchmal das Gefühl, dass die USA beabsichtigen, einen Krieg gegen die ganze Welt zu führen. Das muss doch auch als Wahrheit endlich einmal im Westen ankommen, was Michail Gorbatschow hier formuliert hat. Wir, die LINKE, wir wollen keine Außenpolitik, die auf die militärische Eroberung von Rohstoffquellen und Absatzmärkten setzt. Eine NATO, die überall in der Welt interveniert und das Völkerrecht bricht, lehnen wir ab! Stattdessen brauchen wir ein System der kollektiven Sicherheit, in dem die Partner im Falle eines Angriffs einander beistehen, und in dem sie sich jeder Gewaltandrohung oder –anwendung enthalten, die mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar ist. Aber noch wichtiger ist, endlich abzurüsten, nicht weiter aufzurüsten und die Atomwaffen aus dieser Welt zu verbannen! Darauf sollten die Staaten der Welt ihre Anstrengungen konzentrieren!
Viel eher als Kampftruppen, die weltweit eingesetzt werden, bräuchte Deutschland Hilfstruppen, die bei Katastrophen wie in Myanmar oder China zur Stelle wären, um Menschen zu helfen und ihre Not zu lindern. Lasst uns solche Hilfstruppen zum Markenzeichen der LINKEN machen, wenn es um das Eintreten für Menschenrechte in aller Welt geht. Wir würden so die Lehre aus der Geschichte dieses Landes im vorigen Jahrhundert ziehen.
Rosa Luxemburg, liebe Freundinnen und Freunde, war eine große Visionärin. Und so, als ahnte sie die Fehler, die die Arbeiterbewegung im Staatssozialismus und Kapitalismus machen würde, schrieb sie uns ins Stammbuch: Gleichheit ohne Freiheit ist Unterdrückung. Und Freiheit ohne Gleichheit ist Ausbeutung. Sie gab eine klare Antwort auf die oft gestellte Frage, was demokratischer Sozialismus ist. Demokratischer Sozialismus ist eine Gesellschaft, die auf Freiheit und Gleichheit gegründet ist, eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung. Was Gleichheit ohne Freiheit hieß, erlebten die Ostdeutschen in der DDR. Und was Freiheit ohne Gleichheit bedeutet, erleben heute die Hartz-IV-Empfänger, die Leiharbeiter, die in Armut lebenden Kinder oder die Verkäuferinnen im Supermarkt, die in Minijobs beschäftigt sind und bis auf die Toilette von Kameras überwacht werden. Das ist Freiheit ohne Gleichheit.
Einige Berichte in der Presse über die Freiheit veranlassen mich doch zu einer Klarstellung. Manchmal muss man es auch mit der Logik halten können, wenn man sich zu solchen Fragen äußert. Im ersten Semester der Mathematik lernten wir, dass viele Schlüsse nach folgendem Muster verlaufen: Hier sitzt ein Floh, jetzt brülle ich ihn an – er hüpft. Dann reiße ich ihm die Beine aus und brülle ihn wieder an, dann hüpft er natürlich nicht mehr. Also hört er mit den Beinen – Nach solcher Logik verläuft die Schlussfolgerung vieler, die sich zu bestimmten Fragen in der Öffentlichkeit äußern. Was meine ich damit? Wenn man sich zur Begrifflichkeit äußern will, muss man zwei Termini kennen und die heißen nun einmal: hinreichend und notwendig. Und für die Freiheit gilt folgendes: Notwendig für die Freiheit ist selbstverständlich die politische Freiheit und die geistige Freiheit. Notwendig für die Freiheit ist selbstverständlich die soziale Gleichheit, denn es ist nun einmal richtig, den Aidskranken in Afrika nützt die politische und geistige Freiheit wenig. Aber hinreichend für die Freiheit sind nur beide zusammen. Soziale Gerechtigkeit und politische und geistige Freiheit. Nur beide zusammen sind hinreichend. Eines allein geht nicht!
Nach dem Untergang des Staatssozialismus ist es die Aufgabe der LINKEN in der Gesellschaft, mehr Gleichheit und weniger Ausbeutung durchzusetzen. Zu Recht sah der italienische Philosoph Norberto Bobio in der Gleichheit den zentralen Wert linker Parteien. Und im Blick auf die CDU/CSU füge ich hinzu, der von ihnen als Gleichmacherei diffamierte Begriff ist im europäischen Abendland zweifelsfrei auf das Christentum, auf die Lehre von der Gleichheit aller Gotteskinder zurückzuführen. Ich erinnere an meine Rede auf dem Gründungsparteitag. Die wörtliche Übersetzung des "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" aus dem Hebräischen lautet: Du sollst deinen Genossen lieb haben, dir gleich.
Nun ist es leicht für die LINKE, liebe Freundinnen und Freunde, in Programmen mehr Freiheit und Gleichheit in unserer heutigen Gesellschaft zu fordern. Viel schwieriger, und darüber möchte ich heute reden, ist es, sie durchzusetzen. Und wenn man fragt warum, dann lohnt es sich wieder in unserer Geschichte zurückzublicken. Beispielsweise auf den Zeitpunkt, an dem die Arbeiterbewegung sich spaltete. Für Sebastian Haffner war "die deutsche Revolution von 1918/19 eine sozialdemokratische Revolution, die von der sozialdemokratischen Führung niedergeschlagen wurde. Ein Vorgang, der in der Weltgeschichte kaum seinesgleichen hat." Eine kurze Episode zeigt, in welchem Ausmaß sich die damalige SPD-Führung mit der bestehenden Ordnung identifizierte. Auf die Frage des Reichskanzlers Max von Baden "Habe ich Sie auf meiner Seite im Kampf gegen die soziale Revolution", antwortete der Sozialdemokrat Friedrich Ebert: "Wenn der Kaiser nicht abdankt, dann ist die soziale Revolution unvermeidlich. Ich aber will sie nicht, ja ich hasse sie wie die Sünde." So handelte er dann auch. Von Januar bis Mai 1919 tobte in Deutschland ein blutiger Bürgerkrieg, der Tausende von Todesopfern und große Bitterkeit hinterließ. Er stellte die Weichen für die unselige Geschichte der Weimarer Republik und führte zur endgültigen Spaltung der Arbeiterbewegung. Sicher, Geschichte wiederholt sich nicht. Aber 80 Jahre später setzte ein sozialdemokratischer Bundeskanzler die größte Sozialkürzung der Bundesrepublik Deutschland durch und beteiligte sich wieder an völkerrechtswidrigen Kriegen. Ich erinnere an diese beiden Abschnitte der Arbeiterbewegung, weil sie unerbittlich die Frage aufwerfen, warum Politikerinnen und Politiker der Linken in der Geschichte die Erwartungen ihrer Anhänger so schrecklich enttäuschen. Das ist nicht eine Frage, die andere sich stellen müssen, das ist eine Frage, die wir uns stellen müssen! Wenn wir uns diese Frage nicht stellen, dann lernen wir nicht aus unserer Geschichte und dann können wir keine Lehren aus der Geschichte ziehen!
Marx und Engels haben in der deutschen Ideologie einen entscheidenden Hinweis gegeben, warum das so schwierig ist. "Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken. Das heißt, die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht." Diese Analyse der Vordenker der Arbeiterbewegung hatte Goethe schon seinem Faust vorweg genommen. "Was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln." Will man also, liebe Freundinnen und Freunde, linke Politik machen, dann muss man den Mut haben, sich seines eigenes Verstandes ohne Führung eines anderen zu bedienen. Einfacher gesagt: Man darf nicht vor der Wirtschaft und vor den die Interessen der Wirtschaft vertretenden Zeitungen und Medien einknicken. Das ist oft leichter gesagt als getan. Man muss sogar den Mut haben, seine eigene Sprache zu sprechen.
Und nun ein weiteres interessantes Zitat: "Es gehört zum heillosen Zustand, dass auch der ehrlichste Reformer, der in abgegriffener Sprache die Neuerung empfiehlt, durch Übernahme des eingeschliffenen Kategorieapparates und der dahinter stehenden schlechten Philosophie die Macht des Bestehenden verstärkt, die er brechen möchte." Das schrieben Horckheimer und Adorno schon in der Dialektik der Aufklärung 1947. Mit anderen Worten, die Herausforderung an die LINKE ist folgende: Wer die Sprache der Herrschenden spricht, verfestigt die bestehenden Zustände. Und, liebe Freundinnen und Freunde, das ist eine große Herausforderung.
Ein Standardbeispiel für diesen Mechanismus ist der Begriff Lohnnebenkosten. Alle mit uns konkurrierenden Parteien wollen die Lohnnebenkosten senken. Das heißt, sie wollen das Geld, darauf ist Lothar bereits eingegangen, für Rentner, Arbeitslose, Kranke und Pflegebedürftige kürzen. Ein einziger Begriff, nicht die Politikerinnen und Politiker, ich sage das jetzt sehr zugespitzt, ein einziger Begriff bestimmte ganz wesentlich die Politik der letzten Jahre. DIE LINKE muss ihre eigene Sprache finden, besser noch zur Dialektik zurückkehren. Dialektiker sein, heißt, den Wind der Geschichte in den Segeln haben. Die Segel sind die Begriffe. Es genügt aber nicht, über die Segel zu verfügen. Die Kunst ist, sie setzen zu können. Das ist das entscheidende. – Soweit Walter Benjamin.
Wir haben Begriffe gesetzt: DIE LINKE, den Mindestlohn, Hartz IV muss weg, wir wollen eine armutsfeste Rente und die Bundeswehr muss raus aus Afghanistan. Und wir haben den Wind der Geschichte in unseren Segeln. Das macht unseren Erfolg aus, liebe Freundinnen und Freunde.
Ist diese von Walter Benjamin vorgegebene Aufgabe in Angriff genommen und hat man ein Bild von einer neuen Gesellschaftsordnung, dann gilt es, die Veränderungsmöglichkeiten der Gesellschaft zu prüfen. Marx sagte dazu: "Eine Gesellschaftsordnung geht nie unter, bevor alle Produktionskräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Leben wir, liebe Freundinnen und Freunde, in einer solchen Zeit des Übergangs? Was wird heute im Schoße unserer Gesellschaft ausgebrütet? Wer einen modernen linken Politikentwurf präsentieren will, muss sich mit dem Kapitalismus im neuen Gewande, dem finanzmarktgetriebenen Kapitalismus, auseinandersetzen, denn dies ist die entscheidende Frage unserer Zeit: Wie begegnet Politik dem finanzmarktgetriebenen Kapitalismus? Unsere Vorschläge zur Regulierung der Finanzmärkte sind bekannt:
- Der grenzüberschreitende Kapitalverkehr muss wieder kontrolliert werden.
- Die Wechselkurse müssen stabilisiert werden.
- Die Tobinsteuer auf internationale Finanztransaktionen muss erhoben werden.
- Steueroasen müssen trockengelegt werden.
- Ratingagenturen müssen gesellschaftlich kontrolliert werden, am besten in staatlicher Hand, denn sie haben großes Unheil angerichtet in den letzten Jahren.
- Die Hedge-Fonds werden verboten. Auch diese Fonds haben erheblich zur Zerstörung ganzer Volkswirtschaften beigetragen.
- Für den Bankensektor werden internationale Regeln erlassen.
- Die Finanzaufsicht arbeitet international koordiniert nach gleichen Standards. Da geht es in erster Linie um die Eigenkapitalsicherung von Risiken.
- Wir müssen die Börsenumsatzsteuer in Deutschland endlich einführen wie in anderen Ländern. Andere Länder machen das in Europa, warum wir nicht?
- Wir fordern, dass Aktienoptionen zur Managerbezahlung verboten werden ebenso wie Boni für Spitzenkräfte im Bankensektor, denn Aktienoptionen führen zur Ankündigung von Massenentlassungen, um das eigene Vermögen zu steigern. Das ist die Perversität des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus! Boni führen im Grunde genommen zur Entwicklung von Finanzprodukten, die dann diejenigen, die sie geschaffen haben, selbst nicht mehr verstehen, wie wir bei der IKB und den Landesbanken in Bayern, in Nordrhein-Westfalen, in Sachsen gesehen haben. Ich wollte mal die öffentliche Berichterstattung erleben, insbesondere die der BILD-Zeitung, wenn bei der Landesbank in Bayern nicht Huber, sondern ein Linker Finanzminister gewesen wäre, wenn in Nordrhein-Westfalen nicht Rüttgers und Steinbrück, sondern ein Linker Verantwortung getragen hätte, wenn in Sachsen nicht Milbradt, sondern ein Linker verantwortlich gewesen wäre – die Zeitungen wären nicht mehr groß genug. Die anderen können nicht mit Geld umgehen! Wir können diesen Vorwurf, der uns gemacht wird, jetzt spielend zurückwerfen!
- Die Verlagerung von Risiken in Zweckgesellschaften muss in Deutschland untersagt werden.
- Der Handel mit verbrieften Produkten, das ist der Schrotthandel, der alle in diese Milliarden Verluste getrieben hat, muss unterbunden werden.
Nicht Unternehmer und Manager sind in erster Linie die Hauptakteure des heutigen Kapitalismus, sondern die Finanzinvestoren. Vorbei die Zeit, in denen einer der Gründer des Hauses Siemens, Werner von Siemens, sagte: "Für den augenblicklichen Gewinn verkaufe ich die Zukunft nicht." Das kann man umdrehen. Heute ist es so, dass für den augenblicklichen Gewinn die Zukunft verkauft wird! Und genau dies muss Politik ändern, wenn sie auf den Punkt kommen will.
Die Jagd nach hohen Renditen in Verbindung mit abenteuerlichen Spekulationen auf Wechselkurse, Rohstoffe und Nahrungsmittel bestimmt die Weltwirtschaft. Betriebe samt Belegschaft werden aufgekauft, ausgeschlachtet und nach kurzer Zeit wieder verkauft. Zum Erzielen höherer Gewinne werden in Unternehmen neue Standards durchgesetzt. Auf Druck der Finanzinvestoren werden Löhne gesenkt, Arbeitszeiten verlängert, unbezahlte Überstunden geleistet, soziale Leistungen gekappt und längerfristig wirkende Forschungs- und Entwicklungsaufgaben gestrichen. Wenn solche Vorgehensweisen bei einigen Unternehmen durchgesetzt sind, sorgt die Konkurrenz dafür, dass sie zum allgemeinen Standard in der Wirtschaft werden. Und das ist, wenn man so will, die Erklärung für die heutige Entwicklung, für den Fall der Lohnquote, für einen Sachverhalt, den wir in Deutschland noch niemals hatten, dass trotz steigender Realwirtschaft Löhne und Renten fallen. Jetzt zählt nur noch die Maximierung des shareholder value. Diejenigen, die in den Regierungen und Parlamenten sitzen, haben nur noch die Aufgabe, auf Druck der Finanzinvestoren dafür zu sorgen, dass der Finanzplatz Deutschland attraktiv wird. Und so singen Christ-, Sozial- und Freiedemokraten zusammen mit den Grünen täglich das Lied von der Notwendigkeit, die Lohnnebenkosten zu senken, um die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland zu stärken. Sie fühlen sich verpflichtet, immer wieder die Unternehmenssteuer zu senken, um Deutschland fit für die Zukunft zu machen. Ein besonderes Anliegen ist ihnen die Privatisierung des öffentlichen Eigentums. Nach Post und Telekom trifft es jetzt die Bahn. Ach, ist das ein Trauerspiel, dass die SPD wieder mal eingeknickt ist. Wer sagt "24,9 Prozent" wird doch von denen getrieben Tag für Tag, demnächst zu sagen 25 % und dann 50 % für private Investoren und so weiter. Wann lernen die endlich aus ihrem Versagen in den letzten Jahren? Die Bahn gehört in öffentlichen Besitz!
Genauso schlimm, wenn nicht schlimmer ist die Privatisierung der sozialen Versicherungssysteme. Die Finanzindustrie blickte lange neidisch und gierig auf die Sozialkassen und unternahm große Anstrengungen, einen Teil der Milliarden, die die Arbeitnehmer zur Sicherung der Lebensrisiken sparen, gewinnbringend anzulegen. Im Zuge dieser Privatisierungsorgien wurden nicht nur Politikerinnen und Politiker – ich denke an die Größen, die jetzt bei irgendwelchen Gesellschaften sind, bei Leiharbeitsfirmen oder bei Private Equity Companies oder wo auch immer –, sondern auch Gewerkschafter wie Riester oder Hansen zu traurigen Bütteln des anlagesuchenden Finanzkapitals.
Der Finanzkapitalismus, liebe Freundinnen und Freunde, hat zu einer dramatischen Verschiebung der Macht- und Kräfteverhältnisse in Politik und Gesellschaft geführt. Kurz vor Antritt der rot-grünen Regierung im Jahr 1998 hat der damalige Bundesbankpräsident Tietmeyer auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos an die versammelten Regierungschefs gerichtet gesagt: "Meine Herren, Sie sind jetzt alle der Kontrolle der internationalen Finanzmärkte unterworfen." Und am Anfang der rot-grünen Regierung verabschiedete Joschka Fischer Politik mit dem Satz: "Ihr glaubt doch nicht, ihr könntet Politik gegen die internationalen Finanzmärkte machen." Die Folgen dieser Herrschaft können wir heute in Deutschland besichtigen – den Fall der Lohnquote, Kinderarmut, sich ständig ausweitender Niedriglohnsektor, unsichere und prekäre Arbeitsverhältnisse – kurz gesagt, die Aushöhlung der repräsentativen Demokratie.
Demokratie, wir bleiben dabei, heißt eine politische Ordnung, in der die Angelegenheiten nicht im Interesse weniger, sondern im Interesse der Mehrheit geordnet werden. Davon, dass bei uns die Angelegenheiten im Interesse der Mehrheit gehandhabt werden, kann seit vielen Jahren nicht mehr die Rede sein. Fallende Löhne und Renten lassen immer mehr Bürgerinnen und Bürger an unserer repräsentativen Demokratie zweifeln.
Die LINKE versteht sich als demokratische und soziale Erneuerungsbewegung. Wer die Demokratie retten und dem sich immer schneller drehenden Rad des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus in die Speichen greifen will, muss seine zentrale Voraussetzung in Frage stellen. Die alleinige Verfügung der Unternehmenseigener und Finanzinvestoren über Gewinn, Investitionen und Kapital. Solange wir das nicht geändert haben, leben wir nicht in einer demokratischen Gesellschaft. Deshalb wird DIE LINKE im Deutschen Bundestag einen Gesetzentwurf zur Einführung der paritätischen Mitbestimmung in Betrieben mit regionaler und nationaler Bedeutung einbringen. Und ich bin gespannt, wie Gewerkschaftsfunktionäre wie Brandner oder andere in namentlicher Abstimmung dabei votieren werden! Jawohl, wir fordern sie wieder alle heraus!
Ebenso wichtig weil systemverändernd, ja systemüberwindend ist eine andere Verteilung des Zuwachses des Betriebsvermögens. Wenn ein Arbeitgeber eine Fabrikhalle errichtet und das dazu gehörende Inventar bezahlt, um eine Produktion aufzunehmen, dann gehört das Betriebsvermögen ihm. Wenn aber aus der laufenden Produktion heraus eine zweite Halle samt Inventar finanziert wird, dann gehört diese zweite Halle nicht allein dem Unternehmer, sondern auch der Belegschaft, ohne deren Arbeit dieses Vermögen niemals entstanden wäre! Daher schlagen wir vor, den Zuwachs des Betriebsvermögens zur Hälfte der Belegschaft zu überlassen. Als ich das kürzlich im Grundsatz im Deutschen Bundestag vortrug, erntete ich erstauntes Kopfschütteln. Wieder einmal sah man, wie der sich verändernde Kapitalismus das Denken der Menschen verformt. In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts diskutierten die politischen Parteien noch wie selbstverständlich über die Neuverteilung des Produktivvermögens. Die SPD beispielsweise sagte im Godesberger Programm 1959: Ein wesentliches Kennzeichen der modernen Wirtschaft ist der ständig sich verstärkende Konzentrationsprozess. Wer in großen Organisationen der Wirtschaft die Verfügung über Millionenwerte und über Zehntausende von Arbeitnehmern hat, der wirtschaftet nicht nur, er übt Herrschaftsmacht aus. Herrschaftsmacht über Menschen. Geeignete Maßnahmen sollten dafür sorgen, dass ein angemessener Anteil des ständigen Zuwachses am Betriebsvermögen der Großwirtschaft als Eigentum breit gestreut oder gemeinschaftlichen Zwecken dienstbar gemacht wird.
In den Freiburger Thesen der FDP vom Oktober 1971 steht Revolutionäres: "Heute konzentriert sich der Zuwachs an Produktivkapital aus Gewinnen in den Händen weniger Kapitalbesitzer. Das ist gesellschaftspolitisch gefährlich, sozial ungerecht und mit liberalen Forderungen nach Gleichheit der Lebenschancen und nach optimalen Bedingungen für die Selbstentfaltung nicht vereinbar." Man höre und staune! Diese Wirtschaftsordnung, wie wir sie heute haben und wie sie nicht mehr in Frage gestellt wird, war nach Meinung der Freiburger FDP weder mit der Gleichheit der Lebenschancen noch mit den Bedingungen für die Selbstentfaltung der Menschen vereinbar. Und genau dies gilt auch heute! Wir wollen eine Neuverteilung des Betriebsvermögens, um endlich mehr Demokratie zu wagen!
Der finanzmarktgetriebene Kapitalismus fordert von den Belegschaften in einem bisher nicht gekannten Maße eine ständige Anpassung an den Apparat und die Unterordnung unter Autorität. Neben Leistungsdruck und Fremdbestimmtheit der abhängigen Arbeit tritt als weitere Belastung hinzu, dass der Arbeitnehmer in Prozesse eingeordnet ist, die er häufig aus Mangel an Informationen über die Gesamtzusammenhänge nur schwer überschauen kann. Das alles führt dazu, dass sich aus den unterschiedlichen Erfahrungen im Betrieb im Spannungsfeld wechselseitiger Über- und Unterordnung demokratische oder antidemokratische Grundeinstellungen und Verhaltensweisen entwickeln. Ja, es ist so. Auch die Betriebsverfassung entscheidet darüber, ob sich demokratische oder antidemokratische Grundeinstellungen entwickeln. Der mündige und aufgeklärte Bürger will auch als Arbeitnehmer Subjekt sein und sich nicht als Objekt in von ihm unverstandenen Entscheidungsprozessen fühlen. Er will seine Rolle und seine Stellung in einem System sozialer Beziehungen richtig einschätzen können. Er will informiert sein und auf Entscheidungs- und Gestaltungsprozesse Einfluss nehmen. Demokratie setzt gute und richtige Information voraus. Das gilt für die Wirtschaft wie für die gesamte gesellschaftliche Entwicklung.
Und damit, liebe Freundinnen und Freunde, komme ich zu einem weiteren Thema, das in den letzten Jahren ebenfalls in der Versenkung verschwunden ist, das aber jetzt durch den finanzmarktgetriebenen Kapitalismus wieder auf die Tagesordnung gesetzt wird. Ich komme zum Thema der Pressefreiheit. Die Medienkonzerne, allen voran Springer, ereifern sich schon, wenn man einen der ihren zitiert. Pressefreiheit, so sagte einst Paul Sehte, ist die Freiheit von 200 Leuten, ihre Meinung zu verbreiten. Nach den Konzentrationswellen der letzten Jahrzehnte würde Paul Sehte heute vielleicht von 20 Leuten sprechen. Aber in der Ära des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus wird die Pressefreiheit immer weiter untergraben. Der spektakulärste Fall ist das "Wallstreet Journal", Robert Murdoch kaufte es für 5,6 Milliarden Dollar. Seither darf das "Wallstreet Journal" die Meinung von Robert Murdoch verbreiten. Der Kampf der Redaktion um Unabhängigkeit war von vornherein aussichtslos.
Berlusconi regiert in Italien, weil er den größten Teil der Medien unter seine Kontrolle gebracht hat. In Frankreich ist eine Debatte über die Unabhängigkeit der Presse entbrannt, weil "Le Monde", "Le Figaro", "Liberation", "Paris Match" Gratiszeitungen, Radio- und Fernsehstationen ganz oder zum Teil in der Hand von Industriellen oder Finanzinvestoren sind.
Auch in Deutschland schreitet der Konzentrationsprozess voran. Auch bei uns werden Zeitungen aufgekauft und den Standards des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus unterworfen. Umsatzrenditen von 20 Prozent werden verlangt. "Berliner Zeitung", "Frankfurter Rundschau", viele andere Zeitungen können davon berichten. Es werden Unternehmensteile ausgegründet, man nimmt wie selbstverständlich Leiharbeiter in Anspruch und geht über zur Lohndrückerei. Immer mehr Journalistinnen und Journalisten erkennen, dass Umsatzrenditen von 20 Prozent und Qualitätsjournalismus nicht zusammen passen. Wir müssen hier Abhilfe schaffen, liebe Freundinnen und Freunde, denn Demokratie braucht eine funktionierende freie Presse. Mitbestimmung und Mitarbeiterbeteiligung, ich verweise nur auf den "Spiegel", sind auch hier Möglichkeiten, um die Stellung der Redaktionen deutlich zu verbessern.
DIE LINKE muss dieses vergessene Thema auf die Tagesordnung setzen, das Thema der inneren Pressefreiheit. Redaktionsstatute müssen die Unabhängigkeit der Redakteure und Redaktionen wieder garantieren. Es geht eben nicht nur, wenn wir über Pressefreiheit reden, um die Freiheit vom Staat. Jawohl, die ist bei uns gewährleistet. Es geht aber auch um die Freiheit von wirtschaftlicher Macht, von Beeinflussung durch wirtschaftliche Macht. Und die ist nicht gewährleistet in diesem Lande! Nur ein Blinder kann das übersehen!
Liebe Freundinnen und Freunde, mit diesen Vorschlägen zur Wirtschaftsdemokratie greifen wir Fragen auf, die am Ende der programmatischen Eckpunkte formuliert wurden. Es hieß dort, welche Möglichkeiten und Instrumente einer Demokratisierung der Wirtschaft und der Unterwerfung der Verfügungsgewalt über Eigentum unter soziale Kriterien gibt es? Inwieweit müssen dazu kapitalistische Eigentumsverhältnisse aufgehoben werden? Wenn wir endlich ernst machen wollen mit der Demokratie, wenn wir mehr Demokratie wagen wollen, dann werden wir auf erhebliche Widerstände stoßen. Aber die LINKE hat keine andere Wahl als die, dem Zeitgeist, der immer der Herren eigner Geist ist, zu widerstehen.
Am Schluss meiner Rede auf dem Gründungsparteitag habe ich an unsere Glaubwürdigkeit appelliert und Majakowski zitiert: Wir dürfen unserem Lied niemals auf die Kehle treten. Heute appelliere ich an euren Mut, gegen den Strom zu schwimmen, damit der Zorn des Peter Hacks, den er in einem Vers über die Partei niedergeschrieben hat, uns nicht eines Tages trifft: "Sie haben keine Traute, ihr Busen ist verwirrt. Und wer je auf sie baute, hat sich verdammt geirrt." So soll es nicht heißen über uns, liebe Freundinnen und Freunde! Aber dafür müssen wir uns wirklich anstrengen!
Die Grünen haben sich einmal als Anti-Parteien-Partei verstanden. Das ist lange her. Wir wollen uns als eine Partei gegen den Zeitgeist verstehen auf dem Hintergrund dessen, was ich vorhin gesagt habe. Nur wer eine Antwort auf den finanzmarktgetriebenen Kapitalismus hat, hat ein ernstzunehmendes, modernes Programm. Alle anderen Programme, die diese Frage nicht aufgreifen, sind keine Programme, sondern Programmierungen, wobei die Programmierer die wirtschaftlich Mächtigen sind. Wir haben ein Programm!
Liebe Freundinnen und Freunde, wir sind ein gutes Stück vorangekommen. Aber wir dürfen niemals in die Falle tappen, uns selbst zufrieden zurückzulehnen. Niemals! Wir dürfen das Schulterklopfer in den Medien nicht für bare Münze nehmen. Nein, wir müssen erkennen, dass wir noch große und schwere Aufgaben vor uns haben. Aber wir können mit Selbstbewusstsein diese Aufgabe in Angriff nehmen. Ich sage immer wieder: Wir brauchen mehr Mitglieder! Also sage ich: Wenn ihr in einer Kneipe steht und einer euch anspricht und sagt: Was, du bist bei der LINKEN, dann guckt nicht unter euch auf die Fußspitzen, sondern sagt: Was, du noch nicht? Dann wird es aber Zeit!
In diesem Sinne, Glückauf!