"Heißes Herz" und "Klare Kante"
Die SPD ordnet sich ein in den Zeitgeist charismatischer Politik
Der fortschreitende Niedergang der Sozialdemokratie hat die Parteiführung zu radikalen Manövern getrieben. Die vorzeitige Proklamation von Außenminister Frank-Walter Steinmeier zum SPD-Kanzlerkandidaten für die Bundestagswahl im September 2009 ist Ausdruck der tiefgreifenden organisationspolitischen, personellen und konzeptionellen Krise einer Regierungspartei, die mit Kurt Beck den vierten Parteivorsitzenden innerhalb von fünf Jahren verschlissen hat.
Auch wenn jene Recht haben sollten, die in den SPD-Führungszirkeln einen Hort politisch-taktischen Intrigantentums sehen, so ist doch festzuhalten, dass sich letztlich alle als Getriebene – zum Aufstieg und Absturz – erwiesen haben. Ein Steinmeier, der nun entgegen sorgfältig geplanter Kandidateninszenierung über ein Jahr als Dauerwahlkämpfer durch die Republik tingeln muss und dabei viel vom Glanz des Außenamtes verlieren wird. Ein Beck, dessen Versuch einer kommunikativen Integration der Partei gescheitert ist. Ein Müntefering, der erst im November 2005 „das schönste Amt neben Papst“ nach einer missliebigen Personalentscheidung hingeschmissen hatte.
Der SPD steht ein Sonderparteitag ins Haus, auf dem die Delegierten erneut „Hoffnungsträgern“ – die sich selbst als Zentrum sehen – akklamieren dürfen, den Blick starr in die Zukunft gerichtet. Was sagen uns diese abrupten personellen Rochaden?
Steinmeier und Müntefering, das neue Retter-Führungsteam, verkörpern die Politik der Agenda 2010 und markieren somit einen leichten Rechtsschwenk der Sozialdemokratie
– „leicht“, weil die Korrekturen, die der Parteivorsitzende Beck an der Agenda 2010 vornahm (im Widerspruch zum damaligen Arbeits- und Sozialminister und Vizekanzler Müntefering) sowohl bei der Verlängerung des ALG I für ältere Arbeitslose wie bei der „flexibleren“ Handhabung der Rente mit 67 äußerst bescheiden waren. Sie reichten vorerst allerdings aus, zermürbte Kreis- und Landesverbände bei der Stange zu halten, die arrivierte Parteilinke um die Aufsteiger Nahles, Annen, Pronold, Böning zu integrieren und vorsichtige Diskussions- und Kooperationsangebote an die Gewerkschaften zu senden.
Der Kompromiss einer leichten Korrektur der Agenda-Politik auf dem Höhepunkt einer konjunkturellen Erholung erwies sich aber mit der Zeit als immer weniger tragfähig. AmEnde des Konjunkturzyklus, dem Umschlag in eine schrumpfende Ökonomie und die fatalen Auswirkungen der globalen Finanzmarktkrise vor Augen, drängen relevante Kräfte der bundesdeutschen Gesellschaft – artikuliert über Funktionseliten mit prominenten Zugängen zu den Massenmedien – und damit auch Strömungen in der Partei auf eine Fortsetzung des Agenda 2010-Kurses.
Die Debatte über eine „Nachbesserung“ bei Sozialtransfers im Falle von Langzeiterwerbslosigkeit, Kinderarmut, Altersarmut etc. ist erneut umgeschlagen in eine massive Stimmung gegen vermeintliche „Sozialschmarotzer“. Nicht mehr die „Gier“ der Vorstandsvorsitzenden, der Aktionäre und der sonstigen Shareholder sowie ihrer politischen Handlanger stand zuletzt im Blickpunkt der veröffentlichten Meinung, sondern vereinzelte Fälle von missbräuchlichem Bezug von staatlichen Transferleistungen.
Statt einer Erhöhung der Regelsätze von 351 auf 420 Euro, die Sozialverbänden alslängst überfällig bezeichnen, reagiert die politischen Öffentlichkeit geschockt auf die hierfür erforderlichen Ausgabenerhöhungen von rund 45 auf 55 Mrd. Euro. Populär hingegen sind die Thesen eines neoliberalen Mitläufers an der Universität Chemnitz, der eine Kürzung der Regelsätze weit unter 200 Euro vorschlägt. Prompt reagiert das Arbeits- und Sozialministerium mit dem anpassungsfähigen Olaf Scholz an der Spitze und kündigt härtere Kontrollmaßnahmen im ALG II-Bereich an.
Der zurückgetretene Parteivorsitzende Beck wollte – um den Agenda 2010-Fanatiker Müntefering abzuwehren – angeblich Scholz zum neuen Parteivorsitzenden gekürt sehen. Dies wäre nun wahrlich darauf hinausgelaufen, den Bock zum Gärtner zu machen. Wenn einer ein hervorragende Mitschwimmer im Mehrheitsstrom ist, dann der wendige Olaf Scholz. Da kommt die Alternative Müntefering mit seiner Botschaft von „klarer Kante“ (die Richtung ist wichtig, auch wenn es weiter auf den Abgrund zugeht) der unter der Führungslosigkeit leidenden Mehrheit der Sozialdemokratie doch mehr entgegen. Der „Hoffnungsträger“ Müntefering soll die Sozialdemokratie wieder nach vorne bringen durch das wenig originelle Versprechen einer Kombination von wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und sozialer Gerechtigkeit („fördern“), sofern diese durch eigene Arbeit unter Beweis gestellt wird („fordern“).
Vor der These eines energischen Rechtsschwenks der SPD sei noch aus einem anderen Grund gewarnt: Der Kanzlerkandidat Steinmeier sollte nicht unterschätzt werden. Der eigentliche personelle „Hoffnungsträger“ für die Bundestagswahlen 2009 hat in den letzten Jahren eine besondere Geschmeidigkeit gezeigt. Aus dem Chefarchitekten der Agenda 2010, der durch die Politik der „Kommissionen zu zentralen gesellschaftlichen Problemen“ eine weitgehende Selbstentmachtung des Parlaments durchsetzte, ist ein beliebter Außenpolitiker geworden, der immerhin den grünen Politstar Joschka Fischer aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängen konnte. Steinmeier, oberster Strippenzieher im Schröderlager, hat ganz im Geiste seines langjährigen Chefs mit verhindert, dass Russland wegen der verwickelten Kaukasus-Konflikte an den Pranger der weltpolitischen Öffentlichkeit gestellt wurde.
Steinmeier dürfte über das Maß an politischer Klugheit verfügen, dass ein innerparteilicher Konfrontationskurs kontraproduktiv ist. Große Anstrengung bedarf es hier ohnehin nicht. Die arrivierte Linke hat dem Kanzlerkandidaten bereits ihren Glückwunsch ausgesprochen, während die 60 Funktions- und Mandatsträger, die sich wenige Tage vor der Führungsklausur mit einem Positionspapier unter dem Titel „Reichtum nutzen, Armutbekämpfen, Mittelschicht stärken“ an die (Partei-) Öffentlichkeit gewandt hatten, in den Führungskreisen der Partei isoliert sind. Beck hatte zunächst noch positive Aufmerksamkeit signalisiert, wurde dann aber von den Kleingeistern des rechten Seeheimer Kreises und den kontur- wie profillosen „Netzwerkern“ genötigt, diese Intervention zu einem wenig aufregenden Beitrag in der anstehenden Programmdebatte zurückzustufen. Eine Glanzleistung an Führungsfähigkeit von Beck war dies nicht, auch wenn diese Distanz zu „klare Kante“ gesellschaftspolitisch immerhin sympathischer ist. Steinmeier hat das macciavellistische Machtbewusstsein, um den kleinen Haufen der Restlinken durch symbolische Operationen zu beständigen Träumen ihrer einigsten Größe anzuregen.
Die personelle Frage mag durch den „Befreiungsschlag“ – so bezeichnen die meisten SPD-Funktionäre die schließliche Auflösung einer Superintrige – entschieden sein. Doch ein „Befreiungsschlag“ aus dem politischen Niedergang der Regierungspartei ist das noch nicht. Beck war als Parteivorsitzender offenkundig mit der Bündelung der Strömungen und personellen Eitelkeiten im sozialdemokratischen Lager überfordert gewesen. Das redliche und engagierte Bemühen, zu einer halbwegs tragfähigen politisch-strategischen Konzeption für die Sozialdemokratie zu kommen, wird man ihm nicht abstreiten können. Welche Rolle die Sozialdemokratische Partei unter dem Zentrum Steinmeier, Müntefering, Steinbrück und der kooptierten Nahles spielen wird, ist offen. Die beiden erstgenannten sind klug genug, zu wissen, dass man die immer noch vielen ehrenamtlichen Funktionäre in den Kreis-und Landesverbänden „mitnehmen“ muss, auch wenn man einen medial inszenierten Wahlkampf mit US-amerikanischen Anleihen macht.
Aber Müntefering steht für einen autoritären Integrationsprozess, der sich durch topdown-Kommunikation auszeichnet. Demgegenüber verkörpert Steinmeier das Profil einer effizient arbeitenden Regierungspartei, assistiert von einem Finanzminister, für den Haushaltskonsolidierung das sozialdemokratische Projekt erster Güte ist, für die er zumindest Teile der deutschen „Funktionseliten“ mit ins Boot holen will (die dafür etwas Erbschaft- und Vermögensteuer zahlen, gleichzeitig aber von „Sozialabgaben“ entlastet werden sollen).
Im Blick haben sie die Reaktivierung jener Wählerkreise, die sich von der SPD abgewandt haben, ohne zu den Unionsparteien überzulaufen (die bislang nicht von Niedergang der Sozialdemokratie profitiert haben). Doch das, was noch gemeinsam von Steinmeier und Beck als Eckpunktepapier für die Wahlkämpfe 2009 formuliert worden war, unterstreicht den Anspruch, „Deutschland im internationalen Wettbewerb aufzustellen“ und reicht bei weitem nicht aus, für die Sozialdemokratie eine in die Gesellschaft breiter ausstrahlende Rolle zu finden.
Mag sein, dass „Heißes Herz“ und „klare Kante“ Formeln sind, mit denen die von Chaos gebeutelte sozialdemokratische Mitgliedschaft zu beeindrucken ist. Die SPD ordnet sich damit ein in den Zeitgeist der charismatischen Politik. Die Suche nach dem optimalen bundesdeutschen Klons eines Sarkozy oder Berlusconi entspricht möglicherweise dem Ungeist der Zeit, ist aber keine Antwort auf die massiven Herausforderungen für eine gesellschaftspolitische Erneuerung des vom neoliberalen Kapitalismus zerstörten Gemeinwesens.