Europa neu begründen

08.01.2009 / Ein Diskussionsbeitrag zum Entwurf des Europawahlprogramms der Partei DIE LINKE von Frank Puskarev und Thomas Händel aus: SOZIALISMUS 1/2009

Vor kurzem hat DIE LINKE ihren ersten Entwurf für ein Europawahlprogramm veröffent­licht, die Linke ist zur Diskussion aufgefordert. Der vorliegende Entwurf des Europa­wahlprogramms ist ohne Zweifel eine gute Grundlage für diese Diskussion einer linken Perspektive für das Europa von morgen. An der notwendigen Ausstrahlungskraft kann und muss noch gearbeitet werden. Dazu muss das Leitbild eines sozialen Europa stär­ker und klarer herausgearbeitet werden.

Es gilt einfacher und plausibler zu begründen, was die Menschen von einem neu ver­fassten, sozialen Europa zu erwarten haben. Angesichts der gemachten (und nicht ge­machten) Erfahrungen mit Europa muss es gerade der Partei DIE LINKE gelingen, den Menschen einen linken Politikentwurf verständlich, nachvollziehbar und klar strukturiert zu vermitteln. Ein Blick „von unten“ würde gerade einem Wahlprogramm der Linken viel Attraktivität verleihen.

Ferner hat die LINKE guten Grund, ihre Kompetenzen auf dem Gebiet Arbeit und sozia­le Gerechtigkeit nicht als einen Punkt unter vielen, sondern als die Kernkompetenz her­vorzuheben.

Die Menschen in den Mittelpunkt

Europa und die EU ist für viele Menschen noch immer das ferne Raumschiff, das sie zwar wahrnehmen, von dem sie auch wissen, dass es viele Dinge bestimmt und regelt. Jedoch wie die EU funktioniert, wer für was verantwortlich ist, welche Interessenlagen sich hinter welchem, oft nationalstaatlich verkleidetem Handeln verbirgt und wie die Menschen in europäische Entwicklungen eingreifen können ist immer noch wenig be­kannt, geschweige denn überhaupt durchschaubar. Es ist gerade die Aufgabe der LINKEN, in dieser Hinsicht im wahrsten Sinne des Wortes aufklärend zu wirken.

Die europäische Einigung hat den Menschen der EU-Staaten eine lange Periode des Friedens gebracht. Zuwachs an Wohlfahrt und Wohlstand in den beteiligten Ländern hat über lange Zeit das Leben der Menschen erheblich erleichtert. Der gemeinsame euro­päische Lebensraum, der Wegfall von Kontrollen an Binnengrenzen hat erhebliche Vor­teile für die Menschen.

Das Blatt hat sich gewendet. Trotz dieser Entwicklungen erleben die Menschen in Eu­ropa heute das Gegenteil von solidarischer Gesellschaft: in der reichsten Periode der europäischen Geschichte wachsen wieder Ungleichheit, Armut und Ausgrenzung. Eine solche Europäische Union kann keine der Linken sein.

Maastricht-Verträge und Lissabon-Strategie verpflichten die Politik der EU auf das neo­liberale Dogma “einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“. Daran ändert auch die dem Lissabon-Vertrag vorangestellte Zielbeschreibung einer „in hohem Maße


wettbewerbsfähigen, sozialen Marktwirtschaft nichts. Dies als Sozialstaatsbekenntnis zu verstehen ist angesichts der Ergebnisse wohl mehr als ein euphemistischer Irrtum.

EU-weiter Sozialabbau und Steuersenkungswettlauf wurden befördert, der unkontrollier­te Kapitalverkehr und die Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge wurden for­ciert, eine Sozialunion mit verpflichtenden sozialen Mindeststandards aber verhindert. Die so betriebene europäische Einigung wurde zur Brechstange für die Beseitigung so­zialer Rechte und zum Umverteilungsmotor von unten nach oben.

Diese Entwicklung ist weder naturwüchsig noch zufällig. Sie ist klug durchdacht: sie folgt stringent den Ideen des neoliberalen Ideologen Friedrich von Hayek aus dem Jahr 1939. „Der Weg in die Knechtschaft“ sollte durch vertragliche Verpflichtung der Natio­nalstaaten Europas verhindert werden, auf die demokratische Kontrolle von Wirtschaft und sozialer Sicherung zu verzichten. Damit könne dann auch nationale Politik unterlau­fen und zurück gedrängt werden.

Komplettiert mit der Losung der „europäische Idee“ gelang es mit wohlklingenden Wor­ten, die Verschärfung der sozialen Gegensätze zu verbrämen und jede Kritik als „wider dem europäischen Geist“ diffamieren zu können.

Die Folgen dieses enthemmten neoliberalen Kapitalismus sind offensichtlich: die finan­zielle, wirtschaftliche und soziale Krise des Systems eskaliert täglich weiter und beein­trächtigt das Leben der Menschen in Europa und der Welt ganz unmittelbar. Verantwor­tungslose Politik und Wirtschaftseliten treiben dieses asoziale System der weiteren Pro-fitmaximierung für die Hauptakteure des weltweiten Finanzkapitalismus voran. Kontroll-und Eingreifmöglichkeit der Politik, der Nationalstaaten und der Gesellschaft als Ganzes wurden systematisch beseitigt und die Menschen den unkontrollierten Finanzmärkten ausgeliefert. Das Ergebnis ist eindeutig: Demokratieabbau und die Zerstörung sozial­staatlicher Perspektiven. Diese Politik gefährdet friedliches Zusammenleben und inter­nationale Sicherheit. Diese Politik hat durch die Vergesellschaftung von Prekarität Cha­rakterzüge autoritärer kapitalistischer Herrschaftsformen angenommen.

Für ein Europa-Leitbild der Linken

Dem Anspruch der LINKEN eine europäische Partei zu sein, wird man mit gelegentlich eingeflochtenen Bekenntnissen zu Europa nicht gerecht. Das Programm der LINKEN muss eine Idee entwickeln, wie aus dem Europa von heute ein soziales, demokrati­sches und friedliches Europa von morgen entstehen soll. Ein Entwurf, der sich im We­sentlichen nur auf Kritik reduziert, spielt jenen in die Hände, die Europa tatsächlich ab­lehnen oder aber der LINKEN genau dies unterstellen.

Das Europawahlprogramm muss überdies den internationalistische Charakter der LINKEN verdeutlichen. Ein zurück zum abgeschotteten Nationalstaat kann es nicht ge­ben. Ein besseres Europa mit erheblich erweiterten Mitwirkungs- und Mitgestaltungs­rechten für die Menschen kann nur mit ihnen, muss mithin von unten entstehen.

Die historische Krise ist Herausforderung für die Linke, zum Widerstand der Menschen beizutragen und Perspektiven für einen Wandel in Europa eröffnen. Der Anfang ent­steht in den Abwehrkämpfen in den verschiedenen Regionen Europas. Sie außerparla­mentarisch zu vernetzen und parlamentarisch zur Geltung zu bringen ist Aufgabe der Linken – auch und in zunehmendem Maße gerade in Europa.


Die Linke muss in einer Linie mit Gewerkschaften und sozialen Bewegungen stehen. Ohne gemeinsame Aktionen, Kampagnen und Kämpfe wäre DIE LINKE nicht viel mehr als ein weiteres parlamentarisches Ereignis. Forderungen des DGB und EGB, der Sozi­alforumsbewegung u.a. aufzugreifen und weiter zu entwickeln sollte demnach Anspruch eines linken Programms sein und damit zur Stärkung der gesamten europäischen Lin­ken beitragen.

Ein Europawahlprogramm muss vorhandene Entwicklungen aufnehmen und ein linkes Europa-Leitbild entwickeln, das den individualistischen Konzepten der Liberalen genau­so wie den hierarchischen Dogmen der Konservativen das Leitbild einer solidarischen Gesellschaft entgegen setzt.

Die Linke muss deutlich machen: wir wollen die europäische Integration – aber nicht um jeden Preis. Wir wollen aus dem Europa von heute ein soziales, demokratisches und friedliches Europa von morgen schaffen ein Europa der Menschen, nicht der Banken und Kommissionen, nicht der Kabinette und Technokraten und schon gar kein Europa der Wirtschaftseliten und des Kapitals. Es geht nicht um die Erhaltung eines rudimentä­ren Sozialstaates respektive seiner Grundmauern – es geht um die Schaffung eines wirklichen Sozialstaates, der wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt mit dem Schutz der Umwelt, die erhebliche Weiterentwicklung sozialer Errungenschaften, Bildung für alle und Vollbeschäftigung einschließt.

Dies ist aber nur realisierbar, wenn die bestehenden Regeln des internationalen Wirt­schafts- und Finanzsystems verändert und das Primat demokratischer Politik über die Wirtschaft und die strikte Regulierung der Finanzmärkte und der internationalen Finanz­transfers wieder hergestellt werden. Die Forderung nach einer Vergesellschaftung von Schlüsselindustrien als auch des Energie und Finanzsektors sowie die Trockenlegung der Steueroasen gehören eng dazu.

Neoliberale Politik in Europa beschränkt sich nicht auf die Dienstleitungsrichtlinie oder den EuGH und seine Angriffe auf das Streikrecht und Tariftreue-Regelungen. Viel mehr müssen andere vertragliche Grundlagen geschaffen werden, um solche Urteile zu ver­hindern. Die Europäische Union muss neu begründet werden – nach neuen Parame­tern, bei denen die Menschen und ihre Rechte vor dem Profit rangieren.

Europa in guter Verfassung

Eine neue EU-Verfassung muss Frieden, Demokratie, Solidarität sowie sozialer, öko­nomischer und ökologischer Nachhaltigkeit Verfassungsrang geben. Sie muss wirt­schaftspolitisch neutral und gegenüber einer gemischtwirtschaftlichen Ordnung mit ei­nem leistungsstarken öffentlichen Sektor sowie künftigen wissenschaftlichen und politi­schen Entwicklungen gegenüber offen sein. Sie soll das Eigentum schützen und seine Verfügung auch sozialen Belangen, dem Umweltschutz und anderen Erfordernissen des Gemeinwohls gleichermaßen verpflichten. Eine erheblich verbesserte Grundrechts­Charta muss Bestandteil dieser Verfassung, das Prinzip der Gewaltenteilung und der Trennung von Polizei und Militär verankert sein. Volksentscheide über Grundlegendes müssen verpflichtend werden.

Ein demokratischer Verfassungsprozess mit der umfassenden Beteiligung der Men­schen muss durch Normen für Volksbegehren, erweiterte Mitbestimmung und für das


Verhältnis zwischen nationalen Parlamenten und Europäischem Parlament gestärkt werden.

Ein solches Projekt „Europa in guter Verfassung“ stünde der LINKEN im Zuge der Europawahlen 2009 gut zu Gesicht. Eine Kampagne, das NEIN der Franzosen, Iren und Niederländer aufgreifend, müsste so unsere Alternativen in den Mittelpunkt der De­batte stellen.

Gute Arbeit als ein Focus

Ein „Europa mit guter Arbeit“ als Menschenrecht einer solidarischen Gesellschaft und Kernkonzept gehört stärker in den Mittelpunkt eines europäischen Programms der LINKEN. Hier ist der bisherige Programmentwurf zu fragmentarisch.

Gute Arbeit bedeutet unbefristet beschäftigt sein zu können, ein festes, verlässliches Einkommen zu erhalten von dem man leben kann und das soziale und kulturelle Teil­habe ermöglicht, die fachlichen und kreativen Fähigkeiten einbringen und entwickeln zu können, Anerkennung zu erhalten und soziale Beziehungen entwickeln zu können.

Der Kampf gegen jede Form der Prekarität muss Grundanliegen der LINKEN sein. Lohn und Sozialdumping muss durch gemeinsame europäische Standards, die armutsfest und zukunftsfähig sind, beendet werden. Niedriglohnarbeit muss zurückgedrängt, Teil­zeit und befristete Arbeit arbeits- und sozialrechtlich abgesichert werden. Leiharbeit, mit der mehr und mehr reguläre Stellen verdrängt werden, ist ebenso inakzeptabel wie die unterschiedliche Bezahlung zwischen Leiharbeitnehmer/innen und Stammbelegschaf­ten.

Gute Arbeit erfordert einen europäischen Mindestlohn, der 60 Prozent des nationalen Durchschnitts-Einkommens nicht unterschreiten darf. Es muss wieder gelten: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit in der gleichen Region! Die Menschen in Europa müssen an Produktivitätszuwächsen und Gewinnen beteiligt werden und für Inflation einen Aus­gleich erhalten. Deshalb muss DIE LINKE die europäischen Gewerkschaften in ihrer Forderung nach einer expansiven Lohnpolitik unterstützen.

Gute Arbeit umfasst neben den Entgeltbedingungen auch die Arbeitszeitgestaltung und -begrenzung, den Schutz vor Überforderung und Vernutzung sowie einen nachhaltigen Umgang mit der menschlichen Leistungsfähigkeit. Zulässige Höchst und Regel-Arbeits­zeiten müssen tariflich und gesetzlich verkürzt, Überstunden gesetzlich begrenzt wer­den. Die gesetzlich zugelassene wöchentliche Arbeitszeit darf 40 Stunden nicht über­schreiten. Die Forderung nach einer europaweiten Wochenarbeitszeit von maximal 35 Stunden als Ziel sollte im Wahlkampf deutlich sichtbar sein. In Zukunft muss auch in der Realität gelten: Arbeitszeit ist jede Zeitspanne, während der ein Arbeitnehmer arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahr­nimmt. Deshalb sind Bereitschaftszeiten Arbeitszeit. Eine klare Ablehnung der Revision der ohnehin unzulänglichen EU-Arbeitszeitrichtlinie, die die wöchentliche Arbeitszeit auf 65 Stunden ausdehnt, totale Flexibilisierung zulässt und die Individualisierung der Arbeit forciert, muss deutlicher artikuliert werden.

Das so genannte „Flexicurity-Konzept“ der Europäischen Kommission ist der krasse Gegensatz dieses Konzeptes von Guter Arbeit. Die Verkoppelung von sozialer Sicher­heit und Flexibilität zielt im Kern auf einen völlig reduzierten Beschäftigungsschutz für


Arbeitnehmer bei länger gewährter Arbeitslosenunterstützung und einer vorwiegend selbst zu finanzierenden Fortbildungsverpflichtung, die künftige Beschäftigungschancen vorgaukelt. Mit sozialer Sicherheit im Sinne von Guter Arbeit hat dies nichts zu tun. Im Gegenteil: Flexicurity setzt ausschließlich auf die ökonomische Verwertbarkeit der Ware Arbeitskraft. Ergebnis sind wachsende individuelle und gesellschaftliche Unsicherheit, niedrige Löhne und Angst um die eigene Existenz. Es verschärft den Konkurrenzdruck unter den Beschäftigten innerhalb der und zwischen den verschiedenen europäischen Regionen und zerstört jede Grundlage von Solidarität.

Diesem Zweck folgen die vielfältigen Bemühungen zur Deregulierung des Arbeitsmark­tes ebenso wie die Vorstöße ein so genanntes „modernes“ Arbeitsrecht in Europa zu schaffen. Dieser Art „Modernität“ verschleiert allzu oft die Absicht, den Schutz der Be­schäftigten vor Unrecht, Willkür und gesundheitlicher Vernutzung zu reduzieren. Im In­teressengegensatz zwischen Arbeit und Kapital sind das individuelle Arbeitsrecht und das kollektive Tarifrecht mit all seinen sozialen Ausprägungen unverzichtbare Grund­rechte, die in der sozialen und politischen Grundrechts-Charta ausgebaut und manifes­tiert werden müssen.

Ein solidarisches Leben ist keine Illusion

In unserem Europa muss niemand Angst davor haben, von seiner Arbeit nicht mehr leben zu können, die Miete am Ende des Monats nicht mehr zahlen zu können, muss niemand Angst vor vergifteten Lebensmitteln, vor zerstörter Umwelt und vor Krieg ha­ben.

In unserem Europa haben die Menschen keine Angst vor Armut im Alter, vor schlechter Gesundheitsversorgung, davor dass unsere Kinder keine ordentliche Ausbildung mehr bekommen.

In unserem Europa soll es jedem und jeder möglich, einer sinnvolle, Existenz sichernde und ökologisch verantwortbare Arbeit nach den jeweiligen Fähigkeiten und Möglichkei­ten nachzugehen.

In unserem Europa haben die Menschen keine Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, weil Profiteure des Finanzmarktkapitalismus wieder einmal ein Unternehmen zu Grunde gerichtet haben.

In unserem Europa stehen die Beschäftigten in den verschiedenen Regionen Europas solidarisch zusammen und streiten gemeinsam für gute Arbeitsbedingungen.

In unserem Europa sind wirkliche Mitbestimmung, Betriebs und Wirtschaftsdemokratie selbstverständlich.

In unserem Europa ist neben klassischer Lohnarbeit auch jedwede gesellschaftliche Arbeit als solche anerkannt.

In unserem Europa schafft die Politik Rahmenbedingungen, die Standortkonkurrenz einschränken und gleiche Möglichkeiten für alle garantieren.

Verändern wir Europa – jetzt!