»Ich streike für bessere Bildung«
Gibt’s doch nicht, dachte sich Annika Hölscher aus Bielefeld voriges Jahr im November. In der ganzen Republik waren Zehntausende Schülerinnen und Schüler auf die Straße gegangen und schrien ihre Wut über das Bildungssystem heraus. Nur in Bielefeld protestierte niemand. „Hier muss doch auch was möglich sein“, sagte sich die 20-Jährige, und ein Entschluss war geboren: Bei den nächsten Protesten ist Bielefeld dabei.
Annika sagt, sie mache Dinge nur dann, wenn sie einen Sinn ergeben. Gedichte und Dutzende Geschichtszahlen auswendig lernen, das ergibt für sie keinen Sinn – philosophieren, gegen Ungerechtigkeit kämpfen und Demos organisieren hingegen schon.
Der Anfang für den Streik war eine Einladung. Zusammen mit zwei Freunden schrieb sie diese und dachte, wenn fünf Leute kommen, dann ist das fein. Aber stattdessen erblickte sie 40 interessierte Gesichter an jenem Februarabend, und das Bielefelder Bündnis für den Bildungsstreik war geboren, um gegen Studiengebühren, Kopfnoten, Sonderschulen und so vieles mehr zu kämpfen.
Annika berichtet von Schulen, die so schlecht ausgestattet sind, dass die Schüler im Chemieunter-richt nie Experimente durchführen können. Sie kennt Kinder, die gerade mal die 7. Klasse besuchen und nachts nicht mehr schlafen können, weil sie Angst davor haben, das Abi nicht zu schaffen. Sie weiß um Jugendliche, die wochenlang fehlen, weil Burn-out-Syndrome ihre Körper niederstrecken. „Überall dieser Leistungsdruck, immer zeitiger, immer mehr“, beklagt sich Annika. Auch dagegen streike sie.
Wenn die Schülerin Annika über Konkurrenzdruck und kapitalistische Verwertungslogik spricht, dann wirkt das so, als hätte sie ein Uni-Diplom schon seit Jahren in der Tasche. Ihre Stimme ist ruhig und die Handbewegungen sehen so aus, als würde sie mit ihnen die Argumente abwägen. Nur wenn sie Anekdoten wie die über den Lehrer erzählt, der ihr schriftlich ihre Unfähigkeit bescheinigte, dann wird sie lauter. Die Erzählung wird schneller und ihr Körper zeigt, wie sehr er unter Ungerechtigkeit leidet.
Warum gehst du nur an die „Ghettoschule“, fragten Freunde, als Annika vom Gymnasium auf eine Gesamtschule mit vielen Migranten wechselte, um dort das Abi zu machen. „Weil die Schulkultur eine andere ist“, antwortet sie heute. An ihrer Schule, der Stieghorst-Gesamtschule, gibt es integrative Klassen mit bis zu 30 Prozent lernbehinderten Kindern. „Da wird enorm viel soziale Kompetenz vermittelt“, sagt Annika. Eine Ellenbogenmentalität sei deutlich weniger zu spüren, und stattdessen würde man Leistungen anderer auch anerkennen.
Das Gefühl, man könne eh nichts machen, das stört sie. „Man kann und man muss“, sagt Annika. Milliarden schenke die Politik den Banken, anstatt in Bildung zu investieren. „Aber wir sind doch die Zukunft“, sagt sie.
Mit ihren Bündnispartnern hat Annika vieles vorbereitet, Demos, Diskussionen und Blockaden, der Plan für den Streik steht, Bielefeld kann dabei sein. Jetzt hofft sie darauf, dass andere mitmachen und spüren: „Ich kann etwas dagegen tun.“
Ähnliche Artikel
- 12.05.2009
Parteivorstand DIE LINKE. beschließt Leitantrag zum Bundestagswahlprogramm der Partei
- 24.05.2009
- 18.05.2009
- 11.05.2009
- 29.04.2009
»Ich frage mich, ob die Koalition politisch noch zurechnungsfähig ist«