Opel-Krise anders lösen: Arbeitszeitverkürzung statt Massenentlassung

Offener Brief an die Betriebsräte, den Gesamtbetriebsrat und an den Europäischen Betriebsrat von Opel / GM Europa

10.01.2010 / 07. Januar 2010

Sehr geehrter Herr Franz, verehrte Kolleginnen und Kollegen,

die weltweite Autoindustrie steht mit ihrer Überkapazität von ca. 40 % sicher vor einer großen Herausforderung. Dies gilt natürlich in besonderer Weise für Opel. Der Abbau von Überkapazitäten ist unvermeidlich. Dies muss aber nicht zu Entlassungen (9.000 Beschäftigte in Europa und 5.000 Beschäftigte in Deutschland) führen, wie sie u.a. von General Motors (GM) geplant sind. Die solidarische Lösung der Beschäftigungskrise – um Erwerbslosigkeit für viele Menschen zu vermeiden – kann aus unserer Sicht nur darin bestehen, die Arbeitszeit zu verkürzen und die 4-Tage-Woche (ähnlich dem VW-Modell) bei Opel einzuführen. Sozialverträglicher Abbau von Überkapazitäten erfordert neben Arbeitszeitverkürzung auch die Konversion der Autoindustrie, die jetzt geplant und begonnen werden muss.

Wir wenden uns an Sie, weil der Opel-Gesamtbetriebsrat Verlautbarungen nach bereit ist, Personalabbau und Lohnverzicht im Umfang von 265 Millionen ¤ im Jahr zu akzeptieren und als Gegenleistung von GM die Beteiligung der Restbelegschaft am Unternehmenskapital einzufordern. Dadurch wird die Hauptlast der Krise dem von Personalabbau betroffenen Teil der Belegschaft aufgebürdet. Wir können nicht nachvollziehen, dass die Betriebsräte für eine Lösung plädieren, die die Solidarität und damit das Fundament einer erfolgreichen Interessenvertretung missachtet. Gleichwohl wissen wir, dass ein Unternehmen allein den Weg aus der Krise nicht gehen kann.

Die Dramatik der Krise in der Metallbranche und insbesondere in der Autoindustrie veranlasste nicht zuletzt auch den Metall-Arbeitgeberverband, die von Teilen der Gewerkschaften ins Gespräch gebrachte Arbeitszeitverkürzung als eine ernsthafte Möglichkeit zur Bewältigung der Krise ohne Tabus öffentlich zu diskutieren. Dies ermutigt uns zu diesem Offenen Brief.

Mit großer Sorge beobachten wir die verhängnisvolle Entwicklung der Massenarbeitslosigkeit als Dauerzustand in Deutschland und vielen anderen Staaten, die durch die gegenwärtige Krise noch zusätzlich verschärft wird. Wir sind uns einig darüber, dass dieser menschenverachtende Zustand gezielt durch den seit beinahe drei Jahrzehnten dominierenden Neoliberalismus hervorgerufen wurde und auch in Zukunft aufrechterhalten werden soll. Die ökonomischen und sozialen Folgen dieser Politik für die Beschäftigten und die Gesellschaft liegen auf der Hand:

Sinkende Lohnquote, sinkende Massenkaufkraft einerseits, steigende Gewinne und die Neigung zu Finanzspekulationen andererseits. Trotz Weltwirtschafts-und Finanzkrise halten die Verfechter des Neoliberalismus an der Fortsetzung ihres Modells fest, das nur funktioniert, wenn die Gesellschaft permanent gespalten ist und

vor allem wenn die Angst bei allen abhängig Beschäftigten zum dominierenden Verhalten im Betrieb und im Kampf zur Verteidigung der eigenen Interessen wird. Tatsächlich sind seit längerem die abhängig Beschäftigten unter den Bedingungen der Massen-und Dauerarbeitslosigkeit enormen Verlustängsten ausgesetzt, die sie und die Gewerkschaften ständig zu Zugeständnissen bei Löhnen und Sozialleistungen und – was noch schlimmer ist – zur Aufgabe des solidarischen Handelns zwingen, was einer Selbstaufgabe gleichkommt.

Die Erwerbslosigkeit ist nach unserer Auffassung ein Gewaltakt und ein Anschlag auf die körperliche und seelisch-geistige Integrität, auf die Unversehrtheit der davon betroffenen Menschen. Sie ist ein Raub und eine Enteignung der Fähigkeiten und Eigenschaften, die innerhalb von Familie, Schule und Lehre mühsam erworben wurden, die dann in Gefahr sind zu verkümmern und schwere Persönlichkeitsstörungen hervorrufen. Unter den Bedingungen der Massenarbeitslosigkeit leben auch die noch Beschäftigten mit der ständigen Angst, in die Erwerbslosigkeit abzurutschen. Diese Angst dominiert den Alltag und das Familienleben vieler lohnabhängig beschäftigter Menschen und ist die Ursache von psychosomatischen Erkrankungen und Belastungen. In Deutschland leidet inzwischen jeder Sechste unter Angst.

Wir sind der Auffassung, dass die Beteiligung der Opel-Restbelegschaft keinen Gewinn darstellt, wenn gleichzeitig mehrere tausend qualifizierte Menschen in die Erwerbslosigkeit entlassen werden. Sie ist nicht einmal eine Garantie für Weiterbeschäftigung der verbliebenen Belegschaften, die weiterhin mit der Angst leben müssen, beim nächsten Kahlschlag – und dieser wird ganz sicher kommen – mit dabei zu sein.

Wir bitten Sie, verehrte Betriebsrätinnen und Betriebsräte, daher dringend, Ihr Konzept zu überdenken und für die Alternative Abbau der Überkapazitäten ohne Entlassungen durch Verkürzung der Arbeitszeit für die gesamte Belegschaft einzutreten. Wenn die Opel-Belegschaften auf Lohn verzichten müssen, dann sollten sie als Gegenleistung mehr Freizeit für sich selbst und für ihre Familien sowie ihre Weiterbeschäftigung in Würde erhalten -eine Beschäftigung ohne Angst und permanenten Druck. Bei einer Befragung würde aller Wahrscheinlichkeit nach auch die Gesamtbelegschaft für diese solidarische Alternative stimmen. Für uns ist nahezu unvorstellbar, dass Opel-Beschäftigte eine Lösung favorisieren, die zu ihrer eigenen Entlassung führen würde.

Setzen Sie sich, verehrte Betriebsrätinnen und Betriebsräte, für die Alternative Arbeitszeitverkürzung ein, weil sie die einzig solidarische Alternative ist und weil sie allein die Macht der Betriebsräte und der Gewerkschaften insgesamt stärken kann. Nutzen Sie bitte die Krise als eine Chance, mit einem solidarischen Modell gegen die neoliberale Politik der Spaltung und Lohnsenkung ein Zeichen zu setzen. Wir sind sicher, dass andere Betriebe auch aus der Automobilindustrie diesem Beispiel folgen würden.

Wir fordern aber auch die Bundesregierung auf, die Sanierungshilfen für Opel zur Finanzierung der Arbeitszeitverkürzung und Weiterbeschäftigung der Gesamtbelegschaft zur Verfügung zu stellen. Durch solche öffentliche Unterstützung und durch Umschichtung der betrieblichen Kosten von Personalabbau ist zumindest in den unteren Entgeltgruppen ein voller Lohnausgleich zu erreichen. Öffentliche

Gelder (Steuern, Sozialversicherungsbeiträge, Gelder der Arbeitsagentur) für Arbeitszeitverkürzung sind ohnehin im Vergleich mit Arbeitslosengeld und befristetem Kurzarbeitergeld die ökonomisch und sozial wirksamste Methode zur Überwindung der Beschäftigungskrise.

Mit freundlichen Grüßen

i. A. Peter Grottian, Stephan Krull, Mohssen Massarrat (attac-AG-ArbeitFairTeilen)

Zur Kenntnis an Betriebsräte anderer Automobilunternehmen

UnterzeichnerInnen:

Prof. Dr. Heinz-J. Bontrup, Recklinghausen Prof. Dr. Adelheid Biesecker, Bremen Prof. Dr. Ulrich Duchrow, Heidelberg Prof. Dr. Peter Grottian (attac-AG-ArbeitFairTeilen), Berlin Prof. Dr. Frigga Haug, Hamburg Prof. Dr. Rudolf Hickel, Bremen Kirsten Huckenbeck (Express-Redaktion), Frankfurt/M Prof. Dr. Désirée Kamm, Bremen Stephan Krull (ehem. VW-Betriebsrat/attac-AG-ArbeitFairTeilen), Hannover Prof. Dr. Ingrid Kurz-Scherf, Marburg Dr. Bettina Lösch, Köln Prof. Dr. Mohssen Massarrat (attac-AG-ArbeitFairTeilen), Osnabrück Prof. Dr. Oskar Negt, Hannover Pfr. Dr. Vincenzo Petracca, Mannheim Prof. Dr. Michael Schneider (Wiss. Beirat attac), Berlin Gerd Siebecke (VSA-Verlag), Hamburg Eckart Spoo (Chefredakteur Ossietzky), Berlin Margareta Steinrücke (attac-AG-ArbeitFairTeilen), Bremen Prof. Dr. Susanne Schunter-Kleemann, Bremen Peter Wahl (Wiss. Beirat attac), Berlin Winfried Wolf, Stuttgart Prof. Dr. Beate Zimpelmann, Bremen Prof. Dr. Karl Georg Zinn, Wiesbaden