Ökonomenstreit um Wege aus der Krise

aus Böckler Impuls 1/2010

22.01.2010

Die rasante Zunahme der Einkommensungleichheit in vielen Ländern gilt als eine wichtige Ursache der Weltwirtschaftskrise. Deutschland kann einen wesentlichen Beitrag zur Stabilisierung der globalen Wirtschaft leisten.

Wie sollte sich die deutsche Wirtschaft nach der Wirtschaftskrise aufstellen? Wissenschaftler des IMK haben Vorschläge deutscher Wirtschaftsexperten geprüft.* Ihr Fazit: Ein Großteil der deutschen Ökonomen ist weiterhin dem Denken aus der Zeit vor der Krise verhaftet. Mehr Erfolg verspricht ein Richtungswechsel in der Lohn- und Verteilungspolitik, wie ihn auch international renommierte Wirtschaftsforscher wie Jean-Paul Fitoussi und Joseph Stiglitz empfehlen. Denn eine Fortsetzung der Einkommensumverteilung von unten nach oben würde die Binnennachfrage noch weiter schwächen, da die oberen Einkommensgruppen einen deutlich größeren Teil ihres Einkommens sparen.

Nach der Analyse von Fitoussi und Stiglitz ist die rasante Zunahme der Einkommensungleichheit in vielen Ländern eine der entscheidenden Ursachen der globalen Ungleichgewichte und der aktuellen Weltwirtschaftskrise. Denn wegen der wachsenden Ungleichheit fehlte vielerorts eine solide finanzierte Binnennachfrage. In den USA blieb das Konsumwachstum trotz Umverteilung von unten nach oben nur deshalb noch eine Zeitlang hoch, weil sich die Privathaushalte zunehmend verschuldeten.

In Deutschland jedoch stieg die Sparquote, der Konsum war schwach, das Wachstum niedrig. Die schwache Nachfrage im Inland führte zu einer starken Exportorientierung. Damit war das Wirtschaftswachstum vom Export und der Verschuldungsbereitschaft der Defizitländer abhängig. "Die globalen Ungleichgewichte führten zu einem wackligen Gleichgewicht, welches das Nachfrageproblem vorübergehend löste, allerdings auf Kosten zukünftigen Wachstums", fassen Fitoussi und Stiglitz die Entwicklung zusammen.
Dennoch variieren prominente deutsche Ökonomen mit drei Argumentationslinien lediglich ihre alten Modelle:

1. Weiter so: Die Exportorientierung der deutschen Wirtschaft sei erfolgreich gewesen und sollte fortgesetzt werden, meint etwa der Chef des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung, Christoph Schmidt.

Das Problem: Die Ungleichgewichte der Weltwirtschaft ließen sich mit einem Festhalten an dieser Strategie nicht beseitigen, so das IMK. Die bisherigen Konjunkturlokomotiven USA, Großbritannien und Spanien müssen ihre Außenhandelsdefizite abbauen. Länder wie China, Japan und auch Deutschland brauchen daher eine kräftigere Binnennachfrage, um den Rückgang beim Export auszugleichen. Schwache Lohnzuwächse sind da kontraproduktiv, warnen die Wissenschaftler des IMK.

2. Die Exportorientierung sei erfolgreich gewesen, lasse sich aber nach der Krise kaum fortsetzen, meint die Mehrheit der Mitglieder des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Lohnzurückhaltung und Sozialabbau würden nun die Binnenwirtschaft stärken.

Diese Argumentation ist in sich widersprüchlich, stellt das IMK fest: Wenn die Lohnzurückhaltung in der Vergangenheit zu einer immer stärkeren ­Exportlastigkeit beitrug, wieso sollte diese Strategie in Zukunft den gegenteiligen Effekt haben? Bislang spalteten die niedrigen Lohnzuwächse die Wachstumsdynamik der deutschen Wirtschaft: Wegen der steigenden internationalen Wettbewerbsfähigkeit entwickelten sich die Exportbranchen gut. Die Binnenwirtschaft jedoch litt unter dem schwachen Konsum.

3. Die Exportorientierung sei nicht erfolgreich gewesen: Deutschlands Löhne seien immer noch zu hoch und zu undifferenziert, behauptet hingegen der Chef des Münchener ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn. Aus "Angst vor den Fesseln einer fehlgeleiteten Sozialpolitik" seien Kapital und Talente aus den arbeitsintensiven Binnensektoren geflohen. Deshalb müssten die sozialen Einschnitte noch weiter gehen.

Überzeugende Hinweise auf die Richtigkeit einer solchen Schwellenwerttheorie bleibt Sinn allerdings schuldig, merken die IMK-Forscher an. Zudem sei inkonsistent, wie Sinn die Kapitalflüsse Deutschlands und der USA erkläre: Die deutschen Exportüberschüsse seien Ausdruck der hiesigen Standortschwäche, so Sinn. Die Kapitalimporte der USA könnten aber nicht mit ihrer Standortstärke erklärt werden, sondern lediglich mit der Innovationsfreudigkeit ihres Finanzsystems.

In einem Punkt seiner Diagnose hat der Münchener allerdings recht, zeigt das IMK: Die deutsche Exportorientierung war nicht erfolgreich. Im vergangenen Jahrzehnt nahmen Einkommensungleichheit und Armut stärker zu als in anderen Industriestaaten, stellte die OECD jüngst fest. Wegen der wachsenden Ungleichheit fehlte hierzulande eine solide finanzierte Binnennachfrage.

Ein wichtiger Grund für die Lohnungleichheit: atypische Beschäftigungsverhältnisse. Hinzu kamen Leistungseinschränkungen in der Arbeitslosenunterstützung und der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung, die steuerliche Entlastung insbesondere hoher Einkommen und Vermögen sowie die Belastung des privaten Verbrauchs über die Erhöhung der Mehrwertsteuer.

Sollten sich die Einkommen weiterhin so unterschiedlich entwickeln, wird die Binnennachfrage schwach bleiben, prognostiziert das IMK. Damit bliebe Deutschland abhängig vom Export - und besonders anfällig für weitere Krisen. Daher schließen sich die Forscher den Vorschlägen an, die sich in der internationalen Debatte zunehmend durchsetzen: Es reicht nicht aus, das Finanzsystem zu reparieren, warnt beispielsweise US-Ökonom Stiglitz. Es müssten Konzepte gegen das globale Nachfragedefizit entwickelt werden. Denn die wirtschaftspolitischen Rezepte der Vergangenheit - Löhne flexibilisieren und Sozialleistungen einschränken - würden die Lage weiter verschlimmern.

Mit einer gleichmäßigeren Einkommensverteilung - insbesondere auch in Deutschland - ließe sich die latente Nachfrageschwäche überwinden, so die IMK-Forscher. Das bedeutet: Deutschland braucht eine neue Lohn- und Verteilungspolitik. "Dies ist eine wesentliche Voraussetzung für die künftige Stabilität der globalen Wirtschaft." Die Ökonomen empfehlen daher, die Position der Gewerkschaften bei Lohnverhandlungen zu stärken. Dazu gehörten ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn und die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifabschlüssen. Leiharbeit dürfe nicht mehr reguläre Beschäftigung ersetzen.