Mit MiFID 2 die schwarzen Löcher stopfen?
Jürgen Klute / Karsten Peters
2007, in der Frühphase der Finanzkrise, trat die EU-Finanzmarktrichtlinie (Market in Financial Instruments Directive, kurz MiFID oder jetzt auch MiFID I) in der EU in kraft – mit fatalen Folgen: Neben dem Anspruch, den Verbraucherschutz zu stärken – was nur eingeschränkt gelang – folgt die MiFID der Logik der ungebremsten Liberalisierung der Finanzmärkte: Der außerbörsliche Handel wurde mit der Richtlinie erheblich erleichtert, es entstanden zahlreiche nicht regulierte Handelsformen, bei denen bis heute niemand genau weiß, was dort eigentlich über den Tresen geht. Dieser so genannte OTC-Handel (OTC steht für „over the counter“, „über den Tresen“) bezeichnet den direkten Handel von Käufern und Verkäufern ohne den Umweg über Börsen oder ähnliche beaufsichtigte Plattformen. Dem entsprechend ist der OTC-Handel kaum zu überschauen und noch weniger zu kontrollieren.
Zudem ermöglicht die Richtlinie bis heute den Handel von Finanzmarktprodukten, die vor dem In-Kraft-Treten von MiFID nicht zugelassen waren.
Ebenfalls als Folge der MiFID hat der Hochfrequenzhandel erheblich zugenommen, zielte sie doch auch auf Kostensenkung und Effizienzsteigerung im Wertpapierhandel. Beim Hochfrequenzhandel (HFT) führen Computer in Sekundenbruchteilen Käufe und Verkäufe aufgrund vorprogrammierter mathematischer Formeln (Algorithmen) durch. Der Hochfrequenzhandel wird unter anderem für den Flash Crash im Mai 2010 verantwortlich gemacht, bei dem der S&P 500 Index (Standard & Poor's), ein wichtiger Leitindex an den US-Börsen, innerhalb von sechs Minuten um sechs Prozent abstürzte.
Die Liberalisierungen der Finanzmärkte durch die MiFID haben zur gegenwärtigen Krise erheblich beigetragen. Deshalb hat EU-Binnenmarktkommissar Michel Barnier am 20. Oktober 2011 eine überarbeitet Fassung der MiFID vorgelegt. Barniers Vorschlag wird derzeit im Ausschuss für Wirtschaft und Finanzen (ECON) des Europäischen Parlaments (EP) bearbeitet.
Auf den knapp 300 Seiten des Textes, der wahrscheinlich in der zweiten Jahreshälfte 2012 verabschiedet wird, geht es – wie nicht anders zu erwarten – um viel Geld. Dem entsprechend sind die Lobbyisten der Spekulanten auch schon unterwegs, um ihre Interessen zur Geltung zu bringen. Aber auch auf der Gegenseite regt sich einiges: Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen und Hilfsorganisationen arbeiten auf eine schärfere Regulierung des Wertpapierhandels hin.
Das von der Kommission vorgelegte Paket besteht aus zwei Texten, einer Richtlinie und einer Verordnung. Beide müssen vom Europäischen Parlament und vom Rat als Vertretung der Regierungen der Mitgliedsländer beraten und bewilligt werden – und beide Institutionen haben das Recht, Änderungen an den Texten vorzunehmen. Die beiden Formen unterscheiden sich nur dadurch, dass eine EU-Verordnung unmittelbar gilt, eine EU-Richtlinie hingegen muss in nationales Recht eingearbeitet werden.
Historischer Exkurs: Ursprung und Zweck der BÖRSE
So absurd es klingt: Angesichts dessen, was es zur Zeit alles an schlecht oder gar nicht beaufsichtigten Handelsplätzen für Finanzmarktprodukte gibt, sind die Börsen ein Hort der Stabilität und ein Vorbild in Sachen Regulierung und Transparenz.
Entstanden ist die Börse durch regelmäßige Treffen der Brügger Händlerfamilie Van den Buerse vor allem mit italienischen Händlern. In der belgischen Hansestadt wurde 1406 dann auch die erste Börse gegründet. Zentraler Zweck war damals der Handel mit Waren, Schuldverschreibungen und Devisen. Der Handel von Unternehmensanteilen und damit die Kapitalversorgung der Unternehmen kam erst in späteren Jahrhunderten hinzu.
Heute wird unterschieden zwischen Waren-, Devisen- und Wertpapierbörsen. Warenbörsen vermitteln zum Beispiel Rohstoffe und Agrarprodukte, die tatsächlich gehandelt werden. Die heftig umstrittene Nahrungsmittelspekulation findet dagegen in erster Linie auf den Warenterminbörsen statt, die eigentlich dazu dienen, Händlern, Verarbeitern und Produzenten eine verlässliche Preiskalkulation zu ermöglichen. Mit Warentermingeschäften kann zum Beispiel ein Bauer mit einem Müller die Lieferung seiner Ernte zu einem vorher vereinbarten Preis festlegen.
An Devisenbörsen findet der Austausch verschiedener Währungen statt, an den Wertpapierbörsen werden Schuldverschreibungen, Aktien und zahllose andere Finanzmarktprodukte gehandelt.
Bei aller berechtigten Kritik an Hochfrequenzhandel, Gewinn um des Gewinns willen und exzessiver Spekulation: nahezu alle Börsen in den westlichen Ländern unterliegen einer strengen Aufsicht, die Marktmissbrauch verhindern soll. Die Börsen selbst verfügen in der Regel über Mechanismen, die extreme Kursausschläge verhindern und Börsen gehören zu den transparentesten Handelsplätzen, die es derzeit gibt. Dass dennoch etliche der dort getätigten Geschäfte zumindest deutlich eingeschränkt werden müssen, steht außer Frage.
Wie sehen nun die wichtigsten Vorschläge der überarbeiteten MiFID aus?
Hochfrequenzhandel
Hierzu gibt es keine speziellen Regulierungsvorschläge, allerdings müssen Börsen, an denen algorithmischer Handel durchgeführt wird, spezielle Forderungen erfüllen, die fehlerhafte Aufträge erkennen. Bei starken Kursschwankungen muss zudem der Handel ausgesetzt werden.
Beim algorithmischen Handel führen Computerprogramme Käufe und Verkäufe nach Routinen durch, die vorher programmiert werden. Das wird z. B. für Absicherungsgeschäfte genutzt – auch von konservativen Anlegern wie Rentenversicherungen oder Unternehmen, die sich mit diesen Geschäften vor starken Preis- und Kursschwankungen schützen.
Der Hochfrequenzhandel ist eine Sonderform des algorithmischen Handels, bei dem häufig innerhalb von Sekunden oder Minuten große Mengen einzelner Produkte gehandelt werden. Wegen der großen Menge lassen sich damit schon bei minimalen Kursdifferenzen große Gewinne einfahren. Und genau darum geht es bei dieser Art von Handel.
Der Hochfrequenzhandel steht heftig in der Kritik, weil niemand die einzelnen Aufträge mehr überprüft bzw. überprüfen kann und sich so Kaskaden ergeben können wie zum Beispiel beim Flash Crash im Mai 2010. Zudem erleichtert die Geschwindigkeit, mit der dort gehandelt wird, Kursmanipulationen – die Börsenaufsicht kann erst im Nachhinein reagieren, wenn manipulative Aufträge bereits ausgeführt wurden.
Nahrungsmittel- und Rohstoffspekulation
Erstmals fällt der Nahrungsmittel- und Rohstoffhandel an den Warenterminmärkten in der EU unter die Finanzmarktrichtlinie, die Aufsichtsbehörden haben also Informations- und Eingriffsrechte. Geplant ist die – allerdings leicht zu umgehende – Einführung von Positionslimits. Bei richtiger Ausgestaltung könnte damit die exzessive Nahrungsmittelspekulation deutlich eingedämmt werden, die seit einigen Jahren zu den enormen Preisschwankungen auf den Lebensmittelmärkten beiträgt und zumindest mit verantwortlich ist für die Hungersnöte in Ländern des Südens. Aber auch viele Menschen mit niedrigem Einkommen in der EU sind von den Preisschwankungen betroffen. Ebenso schmälern die Preisschwankungen die Verhandlungsmöglichkeiten der in der Lebensmittelverarbeitung engagierten Gewerkschaften über Lohnerhöhungen.
Ein Schritt nach vorn sind die umfassenden Berichtspflichten für Händler an Warenterminmärkten. Sie sorgen zumindest für Transparenz und bieten der Marktaufsicht Möglichkeiten zum Einschreiten.
Anlegerschutz
Banken und Anlageberater dürfen nicht mehr von unabhängiger Beratung sprechen, wenn sie für die Vermittlung entsprechender Anlagen Provisionen erhalten – damit soll verhindert werden, dass Berater vor allem Produkte anbieten, für die sie hohe Provisionen erhalten. Andererseits halten auch die vorliegenden Vorschläge daran fest, dass der Verbraucher eine eventuelle Fehlberatung selbst beweisen muss, obgleich er nur eingeschränkten Zugriff auf die entsprechenden Unterlagen hat.
Emissionsrechte
Ebenfalls erstmals unter die MiFID soll der Handel mit Emissionsrechten fallen – bislang unterlagen nur der Handel mit von Emissionsrechten abgeleiteten Produkten der Finanzmarktaufsicht. Mit der nun vorgeschlagenen Aufsicht hätten wahrscheinlich die in den vergangenen Monaten aufgeflogenen Betrugsfälle verhindert werden können.
Was über die Kommissionsvorschläge hinaus zu fordern ist
Zulassungspflicht für Finanzmarktprodukte
Lebensmittel, Pharmazeutika, Maschinen und elektrische Geräte unterliegen einer strikten Kontroll- und teils auch einer Genehmigungspflicht, bevor sie in den Handel kommen dürfen und auch danach unterliegen sie einer Kontrolle – aus gutem Grund. Spätestens die Finanzkrise hat gezeigt, dass auch Finanzmarktprodukte erheblichen Schaden anrichten können, wenn sie einzig an der Gewinnmaximierung Einzelner ausgerichtet sind statt am gesellschaftlichen Nutzen. Erlaubt werden sollten nur Produkte, die
- ethisch vertretbar,
- gesamtwirtschaftlich gemessen sinnvoll,
- transparent und überschaubar
- mit geringen Risiken für die Wirtschaft und die Gesellschaft insgesamt behaftet sind.
Bankentrennung
Um zu verhindern, dass auch künftig Großbanken die Regierungen erpressen können, muss das klassische Bankengeschäft mitsamt Haftung und Geschäftsführung vom Investmentgeschäft getrennt werden. Dafür spricht auch, dass Sparkassen und Genossenschaftsbanken, so gut wie unbeschadet durch die Krise gekommen sind. Eine Ausnahme bilden nur die spanischen Sparkassen. Allerdings hatte die Krise dort einen sehr eigenen Akzent, die spanische Immobilienblase.
In Großbritannien wird als Lehre aus der Finanzkrise über eine solche Bankentrennung nachgedacht vgl. den sog. Vikkers-Bericht). Die Trennung von Investment- und klassischem Bankgeschäft (Bankentrennung) wäre auch ein erster Schritt in Richtung einer veränderten Bankenregulierung, nämlich zu einer Form der Regulierung, die eine dezentrale Bankenstruktur mit Sparkassen und Genossenschaftsbanken stabilisiert, fördert und ausbaut. Damit würde die vom von dem früheren EU-Binnenmarktkommissar (1997-2004) Charlie McCreevy durchgesetzte Banken-Regulierung, die das Modell deS anglo-amerikanischen Großbankensystems (Global Player), zurückgenommen, die sich mit der Krise als Irrweg herausgestellt hat.
Kein unbeaufsichtigter Markt
Der Handel mit Finanzmarktprodukten muss wieder vollständig auf Börsen und anderen beaufsichtigten Marktplätzen stattfinden. Das ist im übrigen auch eine Voraussetzung für die Einführung einer Finanztransaktionssteuer. Um sie erheben zu können, muss der Handel mit Wertpapieren auf geregelten und transparenten Märkten stattfinden.
Hochfrequenzhandel ausbremsen
Die enormen Risiken des Hochfrequenzhandels müssen eingeschränkt werden, dazu reichen die Vorschriften im Gesetzgebungsvorschlag bei weitem nicht aus, zumal bereits viele Börsen ähnliche Mechanismen einsetzen. Sinnvoll wäre eine Mindesthaltedauer für computergesteuerte Aufträge. So könnte zum Beispiel festgelegt werden, dass eingehende Aufträge erst zehn Sekunden nach Eintreffen an der Börse durchgeführt werden. Für den Hochfrequenzhandel ist das eine Ewigkeit, mit der die Ausnutzung der winzigen Kursdifferenzen für Hochgeschwindigkeitsgewinne erheblich riskanter wird.
Nahrungsmittel- und Rohstoffspekulation unterbinden
Um die für die Ernährung und für die Realwirtschaft gefährlichen Spekulationen mit Lebensmitteln und Rohstoffen zu begrenzen, sind klare Positionslimits erforderlich, die sich auf Händlerkategorien beziehen. Konkret: für Finanzmarktakteure gelten andere Grenzen als für Weizenhändler. Wünschenswerter noch ist ein genereller Ausschluss von reinen Finanzmarktakteuren vom Handel mit Lebensmitteln und Rohstoffen. Allein an der Börse kann dieses Problem allerdings nicht gelöst werden. Das so genannte Landgripping, dass einen anderen Teil dieses Problems bezeichnet, muss ebenfalls unterbunden werden. Und ebenso müssen die Produzenten von Lebensmitteln vor Ort wirtschaftlich gestärkt werden. Das lässt sich z.B. durch die verbesserte Möglichkeit, Teile ihrer Ernte vor Ort einlagern zu können, erreichen, mit der das während der Erntezeit zwangsläufig auftretende Überangebot, besser im Sinne der Produzenten zu managen ist.
Außerdem ist eine gut ausgestattete, spezialisierte Aufsicht für die Warenterminmärkte erforderlich. Die Anfang 2010 geschaffenen europäischen Aufsichtsbehörden können da nur ein erster Schritt sein.
Eine klare Definition des Begriffs „exzessive Spekulation“ ist erforderlich, damit die Aufsichtsbehörden aktiv werden können. So kann Nahrungsmittelspekulation gezielt bekämpft werden.
Anlegerschutz stärken
Der Anlegerschutz dürfte schon durch die geforderte Zulassungspflicht deutlich verbessert werden, daneben muss aber mehr Klarheit bei der Anlageberatung für Endverbraucher geschaffen werden. Die Beweislast ist umzukehren, so dass der Berater nachweisen muss, dass er richtig beraten hat.
Emissionsrechte
Eine weit reichende Aufsicht über diese Märkte ist erforderlich, dabei muss aber darauf geachtet werden, dass kleine Energieerzeuger wie Stadtwerke und andere kleine Marktteilnehmer nicht an den Rand gedrängt werden. Vor allem für kleine und mittlere Unternehmen, die ihr eigentliches Kerngeschäft mit den Zertifikaten begleiten, müssen geeignete Sonderregeln entwickelt werden.
Abschließend noch eine Anmerkung zur ESMA, der in Paris ansässigen europäischen Wertpapieraufsicht. Sie hat – zeitgleich mit der europäischen Bankenaufsicht und der europäischen Versicherungsaufsicht – Anfang 2011 ihre Arbeit aufgenommen. Ziel der zugrundeliegenden EU-Gesetzgebung ist die Vermeidung einer Wiederholung der bis heute andauernden Krise. Da sich die Aufsichten auf der Ebene der Mitgliedsstaaten als völlig unzureichend erwiesen haben, den EU-Finanzmarkt zu beaufsichtigen und gegebenenfalls regulierend in den EU-Finanzmarkt einzugreifen, sind die genannten EU-Aufsichten eingerichtet worden. Soll die ESMA in Paris allerdings ihrem gesetzlichen Auftrag gerecht werden können, dann muss sie um ein mehrfaches personell aufgestockt werden. Eine wirksame Regulierung der EU-Wertpapiermärkte hängt nicht allein von einer entsprechenden Überarbeitung der MiFID ab, sondern sie bedarf auch einer effektiven und effizienten Behörde, die die gesetzlichen Regelungen durchsetzen und ihre Einhaltung kontrollieren kann.
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