Tarifpolitischer Erfolg
Michael Wendl: Der Abschluss im öffentlichen Dienst
Am frühen Morgen des 31. März sind die Tarifverhandlungen für den Bereich des Bundes und für die Kommunen abgeschlossen worden. Auf den ersten Blick wirken die auf die Laufzeit von zwei Jahren hochgerechneten 6,3 % lineare Lohnerhöhung durchaus als tarifpolitischer Erfolg. Nach langen Jahren der Reallohnverluste im öffentlichen Sektor zum ersten Mal ein Abschluss, der den Reallohn mindestens sichert, je nach Verlauf der Preissteigerung sogar die Chance eines kleinen realen Plus in sich birgt.
Es ist als Verhandlungserfolg zu bewerten, dass dieser Abschluss ohne die Anrufung der Schlichtung vereinbart werden konnte, stimmberechtigter Schlichter wäre dieses Mal der frühere sächsische Ministerpräsident Georg Milbradt gewesen, ein Wirtschaftswissenschaftler mit ausgeprägter Neigung zum Kanon der neoklassischen Theorie. Möglicherweise hätte das Ergebnis einer Schlichtung einen Erzwingungsstreik provozieren können. Dazu ist es nicht gekommen.
Die Reaktionen auf den Abschluss sind krass unterschiedlich. Die kommunalen Arbeitgeber klagen wegen ihrer hohen Verschuldung und drohen mit Privatisierung, Gebührenerhöhung und Aufgabeneinschränkung, die Verbände der Arbeitgeber in der Metall- und Elektroindustrie sehen in diesem Abschluss ein aus ihrer Sicht problematisches Signal für die eigenen, unmittelbar anstehenden Tarifverhandlungen mit der IG Metall.
Von Seiten der politischen Linken kommt dagegen Kritik: Vertreter der Gewerkschaftslinken hatten darauf spekuliert, dass es nach einer Schlichtung zu einem zeitlichen Zusammenfallen eines Erzwingungsstreiks im öffentlichen Dienst mit den Warnstreiks der IG Metall und damit zu einer Politisierung der Tarifbewegungen des Frühjahrs kommen könnte. Mit dem Tarifabschluss vor der Schlichtung ist diese Chance verbaut.
Kritik wird auch laut, weil es sich um ganz überwiegend lineare Erhöhungen handelt (für den Bereich der Flughäfen wurden zusätzliche Einmalzahlungen vereinbart) und die mit dem Mindestbetrag von 200 Euro geforderte soziale Komponente nicht durchgesetzt werden konnte. Es spricht viel dafür, dass der Verzicht auf eine solche soziale Komponente der Preis war, um ohne Anrufung der Schlichtung auf dem Verhandlungsweg zu einer Einigung zu kommen.
Lineare Erhöhungen mit vom Kalenderjahr abweichender Laufzeit werden zur Bewertung unterschiedlich gerechnet. Einmal nach der so genannten Westrick-Formel, um einen Vergleich mit der jährlich fixierten Inflationsrate zu haben, zum zweiten nach dem tabellenwirksamen Effekt, auf dem die Lohn- oder Entgelterhöhungen der folgenden Jahre aufsetzen. Nach der Westrick-Formel bekommen wir 2012 eine Erhöhung von umgerechnet 2,92% und 2013 von rund 1,98%. Tabellenwirksam über die zwei Jahre sind aber zum Ende der Laufzeit am 28.2.2014 insgesamt knapp 6,42%, weil die Erhöhungen des Jahres 2013 auf dem um 3,5% erhöhten Entgelt des Jahres 2012 erfolgen.
Wenn wir diese Erhöhung im Rahmen der produktivitätsorientierten Lohnpolitik einordnen, so hat sie den dort definierten verteilungsneutralen Spielraum von gesamtwirtschaftlich gesehen 1,2% trendmäßigem Produktivitätsplus und 2% Zielinflationsrate sogar etwas überschritten. [1] Aber auch wenn wir die tatsächliche Inflationsrate etwas höher als 2% einschätzen, liegt der Tarifabschluss knapp über diesem Verteilungsspielraum. Bezogen auf die kommenden Tarifverhandlungen in der Metallindustrie und in der Chemischen Industrie hat dieses Ergebnis bereits ein positives Signal gesetzt, hinter das die IG Metall und die IG BCE nicht zurückfallen werden, da die Verteilungsspielräume in diesen Branchen deutlich besser sind als bei den Gebietskörperschaften.
In dieser Perspektive war dieser Abschluss für Bund und Kommunen ein positives Signal für die Tarifbewegungen des 1. Halbjahres 2012 insgesamt. Es kann daher mit Entgelterhöhungen gerechnet werden, die auch im gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt zu realen Lohnerhöhungen für das Jahr 2012 führen und die negative Verteilungsbilanz der letzten 12 Jahre geringfügig korrigieren.
Zum Abschluss gehören überproportionale Erhöhungen bei den Ausbildungsvergütungen und eine geringfügige Verbesserung bei der Übernahme der Auszubildenden. Neu hinzugekommen sind Veränderungen bei den Urlaubstagen, die durch ein aktuelles Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 20.3.2012 – 9 AZR 529/10 - veranlasst wurden. Das BAG hatte entschieden, dass die Staffelung des Urlaubs nach Lebensalter (26 Arbeitstage unter 30, 29 unter 40 und 30 ab dem 40. Lebensjahr) gegen das Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verstößt. Jetzt haben sich die Tarifparteien auf eine Staffelung von 29 Arbeitstagen bzw. 30 ab dem 55. Lebensjahr verständigt, bei gleichzeitiger Sicherung der 30 Tage für die Beschäftigten, die im Laufe des Jahres 2012 das 40. Lebensjahr vollenden. In der Sache selbst ist diese Urlaubsverlängerung ein materieller Erfolg, da das BAG nicht über den Urlaubsumfang als solchen entschieden – das ist Sache der Tarifparteien – sondern nur eine bestimmte Form der Staffelung nach dem Lebensalter für rechtswidrig erklärt hatte. Die neue Staffelung ist rechtskonform.
Die Kritik der Gewerkschaftslinken an diesem Ergebnis wäre berechtigt, wenn es eine begründete Aussicht nicht nur auf Streikbereitschaft, sondern auch auf eine entsprechende Streikmächtigkeit in dieser Tarifbewegung gegeben hätte. Daran sind aber begründete Zweifel angebracht. Bereits die Bereitschaft zu Warnstreiks war regional unterschiedlich ausgeprägt. ver.di hat es in den vergangenen Jahren nicht an Streikbereitschaft fehlen lassen. Das Jahr 2006 war durch lange Arbeitskämpfe im Bereich der Bundesländer, aber auch der Kommunen in Baden-Württemberg gekennzeichnet. In beiden Fällen waren es Abwehrkämpfe, in denen es gegen eine einseitig diktierte Verlängerung der Arbeitszeit einerseits, aber auch um die Tarifzuständigkeit von ver.di für den Bereich der Bundesländer insgesamt gegangen ist.
In beiden Fällen wurden die Streiks und Verhandlungen mit für ver.di durchaus schmerzlichen Kompromissen abgeschlossen. Eine begrenzte Arbeitszeitverlängerung wurde hingenommen, die Tarifzuständigkeit für die Länder behauptet. Für solche Fälle kann auch in der Zukunft mit Streikmächtigkeit im Bereich des öffentlichen Dienstes gerechnet werden.
Heute zu erwarten, dass ver.di mit dem bestehenden System der tarifrechtlichen und tarifpolitischen Grenzziehungen zwischen den industriellen Bereichen und dem öffentlichen Sektor bewusst bricht, um eine branchen- und gewerkschaftsübergreifende und damit eindeutig politische Tarifbewegung zu inszenieren, die in der Konsequenz eine andere Steuerpolitik und damit eine andere sekundäre Einkommensverteilung erzwingen will, erweitert die verteilungspolitischen Anforderungen an die Tarifpolitik enorm.
Das ist in und zwischen den Gewerkschaften, die das mit dem Instrument von politisch exakt abgestimmten Tarifverhandlungen und Arbeitskämpfen durchsetzen müssten, noch nicht ansatzweise diskutiert. Aber auch wenn solche strategische Überlegungen angedacht werden, so stoßen sie sich zunächst an den demokratischen Verfahren in den einzelnen Gewerkschaften, mit denen Tarifverhandlungen und Streiks begonnen und beendet werden. Solche Hoffnungen bewegen sich gegenwärtig noch in der Sphäre zwischen Idealismus und Sozialromantik. Es macht daher auch keinen Sinn, sie als normative Richtschnur für die Bewertung von Tarifabschlüssen einzusetzen.
[1] Unter den Tarifpolitikern ist die Definition dieses Verteilungsspielraums umstritten. Eine Formel nimmt den aktuellen gesamtwirtschaftlichen Produktivitätszuwachs plus die aktuelle Steigerungsrate der Verbraucherpreise, die alternative Sicht meint den trendmäßigen Produktivitätszuwachs (über den Durchschnitt eines Konjunkturzyklus) plus die Zielinflationsrate der EZB. Ich halte die zweite Formel für sinnvoller.
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