Erwerbsminderung: Immer näher an der Altersarmut
Jeder Fünfte muss mit einer Erwerbsminderung vorzeitig aus dem Arbeitsleben ausscheiden. Von Jahr zu Jahr fallen die Erwerbsminderungsrenten für Neurentner niedriger aus. Das liegt an Sozialreformen und der Zunahme unsteter Beschäftigungsarten.
Vor 100 Jahren waren 90 Prozent aller neu bewilligten Renten Invalidenrenten - bei der großen Mehrheit spielte die Gesundheit bereits vor dem Erreichen der Regelaltersgrenze nicht mehr mit. In den 1960er-Jahren lag die Quote noch immer über 50 Prozent, ging aber in den folgenden Jahrzehnten zurück. Seit 2005 nimmt der Anteil der Erwerbsminderungsrenten, so die heutige Bezeichnung, im Trend wieder zu. Für das vergangene Jahr weist die Rentenstatistik einen Wert von gut 20 Prozent aus. In Zukunft erwartet Gerhard Bäcker vom Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) einen weiteren Anstieg. Denn mit der Anhebung der Regelaltersgrenze wächst die Gruppe der älteren Beschäftigten oder Arbeitslosen, die aus gesundheitlichen Gründen dauerhaft nicht mehr berufstätig sein können, die aber noch keinen Anspruch auf die normale Altersrente haben.
Wer nicht mehr arbeiten kann, hat ein hohes Armutsrisiko. Im jüngsten, von der Hans-Böckler-Stiftung und der Deutschen Rentenversicherung geförderten Altersübergangsreport weist der Soziologieprofessor zudem darauf hin, dass sich die finanzielle Situation der betroffenen Neurentner in den vergangenen Jahren stetig verschlechtert hat. Bekamen Männer in Westdeutschland bei voller Erwerbsminderung 2001 noch durchschnittlich 809 Euro im Monat, waren es 2011 nur noch 673 Euro. Dafür gibt es nach Bäckers Analyse eine Reihe von Gründen:
- Wegen der schwachen Lohnentwicklung und der neuen Bremselemente in der Rentenformel, Riester- und Nachhaltigkeitsfaktor, stiegen die Auszahlungen der Rentenversicherung - und damit auch die Erwerbsminderungsrente - seit der Jahrtausendwende insgesamt nur wenig. 2004, 2005, 2006 und 2010 gab es sogar Nullrunden.
- Seit 2010 sind auch die Bezieher von Erwerbsminderungsrenten von Abschlägen betroffen, sofern sie jünger als 63 Jahre sind. Die im Gegenzug verlängerten Zurechnungszeiten gleichen den Verlust nur zum Teil aus.
- Wer vor dem Übergang in die Erwerbsminderungsrente Hartz IV bezog, hat in dieser Phase weniger Rentenpunkte erworben, als ihm früher bei der Arbeitslosenhilfe angerechnet worden wären. Inzwischen begründet Hartz IV überhaupt keine Rentenansprüche mehr.
- Die größte Bedeutung haben Bäcker zufolge jedoch "die Veränderungen der Arbeitsverhältnisse und der Erwerbsbiografien, die den Arbeitsmarkt seit Jahren kennzeichnen - wie Niedriglöhne, unstete Beschäftigung, Zeiten von Mehrfach- und Langzeitarbeitslosigkeit - und die sich in durchschnittlich niedrigen und sinkenden Entgeltpunkten bemerkbar machen".
Viele potenzielle Bezieher von Erwerbsminderungsrenten dürften kaum über nennenswerte andere Einkommen verfügen, schreibt Bäcker. Auch deshalb kommen sie häufig in die Nähe der Armutsgrenze. Gerade Geringqualifizierte mit körperlich anstrengenden Jobs seien oft Risiko-Kandidaten für die Erwerbsminderungsrente. Und diese verdienten nur selten so viel, dass sie den Rückgang des gesetzlichen Rentenniveaus durch private Vorsorge ausgleichen könnten.
Daher fordert der Forscher Korrekturen in der Rentenpolitik, die zu einem höheren Leistungsniveau für "erwerbsgeminderte" Rentner führen. Eine Möglichkeit bestünde darin, die Rentenabschläge für diese Gruppe abzuschaffen. Schließlich gehe es hier darum, dass die Gesundheit keine weitere Erwerbstätigkeit erlaubt - nicht um einen freiwilligen Entschluss, den Ruhestand vorzuziehen. Die Anreizwirkungen, die von Rentenabschlägen ausgehen sollen, liefen hier ohnehin ins Leere. "Eine Begrenzung der Abschläge wäre aus diesen Gründen systemgerecht", so Bäcker. Es bestünden jedoch noch andere technische Möglichkeiten, die Lage der Betroffenen zu verbessern. Etwa verlängerte Zurechnungszeiten und eine andere Bewertung von Phasen der Arbeitslosigkeit.
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