Der Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Sozialcharta ist überfällig

Von: Kolja Möller, Prof. Dr. Andreas Fischer-Lescano

15.11.2012 / DGB gegenblende, 15.11.2012

Soziale Rechte – damit verbindet man im alltäglichen Sprachgebrauch vor allem Rechte auf soziale Sicherung, Arbeit, Mitbestimmung und Koalitionsfreiheit, wie sie Eingang in die nationalstaatlichen Verfassungen gefunden haben. Heute steht es um die sozialen Rechte, darin sind sich die meisten Beobachter einig, eher schlecht. Sie stehen durch die marktliberale Dominanz in Europa und der Weltgesellschaft massiv unter Druck. Die neu auftretenden Verrechtlichungsprozesse auf transnationalem Terrain spielen für diese Asymmetrie eine zentrale Rolle. Die Global Player der Weltökonomie prägen längst das transnationale Recht. Gestützt auf weltumspannende Verträge der so genannten lex mercatoria, dem staatsfernen Recht der globalisierten Wirtschaft, bewegen sich die Unternehmen auf globalen Märkten. Sie haben feine Techniken entwickelt, um sich das Recht zu Dienste zu machen und eine Welt nach ihrem Bilde geschaffen: Riesige globale Anwaltsfirmen bieten das juristische Know-How zur Interessendurchsetzung. In der Welthandelsorganisation (WTO) und bei der Weltbank sind gerichtliche Foren installiert, in denen das Recht des Freihandels und die Rechte private Investoren gerichtlich durchgesetzt werden.

Man mag fragen, wo dabei die sozialen Rechte, die Rechte der Arbeitnehmerinnen, der Erwerbslosen, der Ausgeschlossenen und Unterlegenen bleiben. Es ist deshalb nur konsequent, dass soziale Bewegungen in den letzten Jahren zunehmend die Forderung nach „globalen sozialen Rechten“ erhoben haben, also danach, die sozialen Rechte vom Nationalstaat zu lösen und in die rechtspolitischen Arenen der Weltgesellschaft einzudringen. Die soziale Frage, so die Annahme, ist längst eine transnationale soziale Frage. Das Ziel muss darin bestehen Anknüpfungspunkte im geltenden Recht der Weltgesellschaft zu identifizieren, um sozialen Rechten zum Durchbruch zu verhelfen.

Transnationale Verrechtlichung

Auf globaler Ebene ist ein allgemeiner Trend der Verrechtlichung zu beobachten. Weltweit sind mehr als 100 neue Gerichtsinstitutionen entstanden. Diese Institutionen sind aber vornehmlich dem Schutz von Eigentumsrechten, Investitionsrechten und dem Recht des Welthandels verpflichtet. Es liegt eine ungleichzeitige Verrechtlichung in den einzelnen Sektoren der Weltgesellschaft vor. Die sozialen und ökologischen Rechte sind nur mit unzureichenden Durchsetzungsmöglichkeiten versehen. Sie sind dadurch bereits strukturell im Hintertreffen. Ein aktuelles Beispiel ist ein Schiedsverfahren zwischen dem Energiekonzern Vattenfall und der Bundesrepublik Deutschland.Anfang Juni diesen Jahres hat der schwedische Energiekonzern Vattenfall die Bundesrepublik Deutschland vor dem Schiedsgericht der Weltbank auf Schadensersatz in Milliardenhöhe (insgesamt geht es, nimmt man die Forderungen von E.ON, RWE und Vattenfall zusammen um 15 Milliarden Euro) verklagt. Seine Klage stützt der Konzern auf den Energiecharta-Vertrag, ein internationales Abkommen zum Schutz ausländischer Investitionen, den die Bundesrepublik nach Ansicht Vattenfalls durch den gesetzlich geregelten Atomausstieg gebrochen haben soll. Das Schiedsgericht, das mit der Entscheidung betraut ist, entscheidet nach den Standards des transnationalen Rechts. Die Frage ist zentral, ob und in wiefern dort „Investitionsschutz über alles“ geht oder ob es gelingt eine Bindung der Akteure an menschen- und umweltrechtliche Mindeststandards sicherzustellen und den Eigentumsschutz sozialverträglich zu relativieren. Das Beispiel zeigt: Die sozialen Rechte werden ohne eine transnationale Dimension keine Zukunft haben. Der wirtschaftlichen Globalisierung muss eine Globalisierung der sozialen Rechte folgen.

Soziale Gegen-Rechte stärken

Es gibt für diesen notwendigen Schritt zur Stärkung sozialer Rechte schon Anknüpfungspunkte in der Weltgesellschaft. Es gehört zu den Missverständnissen der neueren Sozialstaatsdiskussion, dass sie die Unterschiede zwischen den jeweiligen nationalen Wohlfahrtsstaaten in den Mittelpunkt stellt und nicht sieht, dass nach dem zweiten Weltkrieg auch die Grundsteine für eine Transnationalisierung der sozialen Rechte gelegt wurden. Dies gilt für die in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung (1948) und den UN-Pakten über zivile und soziale Rechte (1966) und in der Europäischen Sozialcharta (1961) festgehaltenen Rechtsansprüchen auf soziale Sicherung, gute Arbeit, Mitbestimmung und Streik. So rückt die rechtspolitische Herausforderung ins Blickfeld: Man muss die schon vorhandenen sozialen Rechte stärken, mit eigenen Durchsetzungsmechanismen und gerichtlichen Foren versehen. Was sich darin abzeichnen könnte, ist ein „Gegen-Recht“ zur marktliberalen Dominanz in Europa und der Welt. Dabei ist auch klar, dass die sozialen Rechte als gesellschaftliche Rechte nicht nur das Verhalten von Staaten betreffen, sondern gleichsam auf andere Akteure, insbesondere transnationale Unternehmen, zielen. Erst wenn sie ihr Handeln den sozialen Menschenrechten unterwerfen, wenn sie verpflichtet werden Rechte auf Mitbestimmung, auf eine intakte Umwelt und gerechte Entlohnung einzuhalten, kann den Gefährdungslagen, die vom Finanzmarktkapitalismus ausgehen begegnet werden – die rein nationale und auf die Handlungsebene des Staates verengte Sichtweise vermag hier wenig auszurichten. Schließlich sind es gerade die Global Player, die sich auf transnationalem Terrain und oft jenseits des internationalen Staatensystems bewegen.

Soziales Europa

Der Kampf um globale soziale Rechte hat nicht nur eine globale, er hat auch eine europäische Dimension. Denn in Europa, das mit seiner gewachsenen Wohlfahrtsstaatlichkeit einst das Kernland der sozialen Rechte darstellte, drängen die einseitige Orientierung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und die neuartigen austeritätsorientierten Steuerungsmechanismen des Fiskalvertrags die sozialen Rechte zunehmend zurück. Als Gegengift könnte die Stärkung der Europäischen Sozialcharta den sozialen Rechten wieder einen Haltepunkt auf europäischer Ebene geben. Die Charta ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der zum Recht des Europarates gehört. Insgesamt 27 europäische Staaten, aber nicht alle Mitgliedsstaaten der EU haben sie unterzeichnet. Die Charta fristet aktuell ein Schattendasein. Das Zusatzprotokoll zur Europäischen Sozialcharta und das darin enthaltene Kollektivbeschwerdeverfahren wurden kaum ratifiziert, auch nicht durch die Bundesrepublik.

Neben der gebotenen Ratifizierung spricht nichts dagegen, die Rechte der Sozialcharta auch vor Gericht bringen zu können sowie Individual- und Kollektivbeschwerden zu ermöglichen. Wenn im Unionsvertrag gefordert wird, dass die Europäische Union der Europäischen Menschenrechtskonvention beitreten soll und mittlerweile der Entwurf einer Vereinbarung dazu vorliegt,[1] dann sollte die Europäische Union sich auch der Europäischen Sozialcharta verpflichten und zu einer der maßgeblichen Kräfte ihrer Stärkung werden. Darüber hinaus könnte ein gerichtliches Forum im Rahmen der Europäischen Sozialcharta, ein europäischer Sozialgerichtshof das Netzwerk europäischer Gerichte ergänzen. Es bedarf einer gerichtlichen Instanz, die nicht wie der Europäische Gerichtshof primär dem Binnenmarkt verpflichtet ist, sondern dafür Sorge trägt, dass die sozialen Rechte in Europa endlich zentrale Bedeutung erhalten. Es geht dabei nicht um einen juristischen Kniff und Zuständigkeitstricks; vielmehr stellt sich die Frage, wie und wo die Kollision zwischen sozialer Demokratie und marktliberaler Ökonomie im Medium des Rechts so verhandelt wird, dass die juridischen Vorfahrtsregeln nicht schon in der Grundkonstellation die sozialen Rechte in der Seitenstraße platzieren.

Pólemos der sozialen Rechte: Ohne Konflikt, kein Fortschritt

Was sich auf transnationalem Terrain reproduziert, ist ein alter Konflikt: Die konservative Staatsrechtslehre hatte die sozialen Rechte schon immer nicht als einklagbare Rechte, sondern als „polemische Leistungsrechte“ verstanden.[2] Zwar könne man politische Partizipationsrechte und negative Abwehrrechte gegen den Staat in den Grundrechtskatalogen kodifizieren, soziale Rechte aber ausdrücklich nicht. Sie kosteten Geld, seien unbestimmt und tasteten an Sphären wie Wirtschaft und Familie, die als privat zu verstehen seien. Die Gegenargumente liegen natürlich auf der Hand: Auch negative Freiheitsrechte, wie der Schutz körperlicher Integrität, soll die kostenintensive Institution der Polizei gewährleisten. Rechtsnormen sind notwendig unbestimmt, auch die klassischen negativen Grundrechte. Sphären wie Wirtschaft und Familie als „privat“ auszuweisen, sieht darüber hinweg, dass man sie der Dominanz der strukturstarken Interessensgruppen und dem meist männlichen Alleinernährer preisgibt.

Demgegenüber stand immer die Auffassung progressiver Sozialbewegungen, dass das „Soziale“ der sozialen Rechte nicht darin besteht, dass sie eigentlich keine Rechte sind. Vielmehr ging es immer darum, die Idee der Menschenrechte und der Demokratie über den Staat hinaus auf die Gesellschaft auszuweiten. Die sozialen Rechte dienen als Hebel, um, so hat es Wolfgang Abendroth klassisch formuliert, die „Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung selbst zur Disposition der demokratischen Willensbildung des Volkes“ stehen kann.[3] Beim Sozialstaatsgebot handelt es sich eben nicht nur um eine vage Zielbestimmung ohne rechtliche Relevanz, sondern um die Garantie konkreter Rechte. Soziale Rechte bieten die Grundlage dafür, nicht nur vom Staat, sondern auch von der Wirtschaft und anderen gesellschaftlichen Bereichen eine demokratische Organisation zu verlangen. Demokratie, so deutet Abendroth das Versprechen sozialer Rechte, soll eine Gesellschaftsform darstellen und keine Staatsform. Die Funktion sozialer Rechte erschöpft sich also nicht in der Garantie von soziokulturellen Minimalbedingungen, sondern sie fordert auch die demokratische Ausgestaltung der Entscheidungsverfahren. So rücken Formen gelebter Demokratie ins Blickfeld, die gegenwärtig in den Protesten von Bürgerinnen und Jugendbewegungen – sei es an der Puerta del Sol in Madrid oder der Occupy-Bewegung – wieder aufleben. Dass die Demokratie nicht auf den einen Ort und die letzte Parlamentsentscheidung reduziert werden darf; dass sie auf vielen Plätzen gleichzeitig stattfindet, hat Wolfgang Abendroth schon 1954 treffend benannt:

„Die lebendige und demokratisch organisierte Selbstverwaltung der Gebietskörperschaften [...], die Heranziehung der demokratischen Massenorganisationen, [...] die Sicherung der demokratischen Beteiligung aller an der planmäßigen Steuerung der wirtschaftlichen Prozesse, die über das Geschick der Gesellschaft entscheiden, bei ständigem Ringen gegen alle gesellschaftlichen Gruppen, die Ausbeutungs- und Machtprivilegien verteidigen wollen – das sind die Kampffelder“.[4]

Der hier angedeutete Konflikt ist heute im transnationalen Maßstab schon angelegt. Es kommt darauf an, dass das progressive Lager ihn nutzt und die Polemik sozialer Rechte in der Weltgesellschaft wiederbelebt. Dass dafür an scheinbar alte Formen der Auseinandersetzung, also Streik- und Protestbewegungen, solidarische Selbstorganisierung über nationale Grenzen hinweg und die Konstruktion kultureller Gegenwelten neu anzuknüpfen sein wird, liegt angesichts der schwindenden Spielräume im nationalstaatlichen Maßstab auf der Hand. Widerstreit im Recht ist also das, was von einem emanzipatorischen Leitbegriff der globalen sozialen Rechte erwartet werden kann. Ohne Pólemos, also „Streit“, „Auseinandersetzung“, „Widerspruch“, ist eine andere Welt nicht zu haben.

Kürzlich von den beiden Autoren erschienen: Der Kampf um globale soziale Rechte. Zart wäre das Gröbste, Wagenbach 2012.


[1] Zu den Ungereimtheiten dieses Prozesses: Theodor Schilling, „Der Beitritt der EU zur EMRK. Verhandlungen und Modalitäten. Fast eine Polemik“, in: HFR 2011, S. 83 ff.

[2] Siehe dazu etwa Ernst Forsthoff, “Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates“ (1954), in: Forsthoff, Ernst (Hg.), Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, Darmstadt 1968, 165-200.

[3] Wolfgang Abendroth, Wolfgang Abendroth, “Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland“ (1954), in: Gesammelte Schriften Band 2, Hannover 2008, 338-357, 346.

[4] Wolfgang Abendroth, „Demokratie als Institution und Aufgabe“ (1954), in: Gesammelte Schriften Band 2, S. 407 ff. (415).