Prozess der Selbstzerstörung - Die europäische Wirtschaft droht aufgrund der Sparmaßnahmen in eine Depression abzugleiten
Von Stephan Schulmeister
Seit einigen Monaten werden auch die »guten« EU-Länder von der Krise erfasst. Überall steigt die Arbeitslosigkeit, selbst in Deutschland. Gleichzeitig boomen die Börsen. Letzteres deuten die Mainstream-Ökonomen als Indiz für einen baldigen Aufschwung.
Tatsächlich dürfte die europäische Wirtschaft in eine Depression abgleiten. Südeuropa befindet sich bereits in einer Abwärtsspirale: Die Kürzungen von Löhnen und Renten, der so erzwungene Konsumverzicht und die schrumpfende Investitionsnachfrage verstärken sich wechselseitig. In den übrigen EU-Ländern lässt die Konjunkturschwäche die Haushaltsdefizite wieder steigen und löst zusätzliche Sparmaßnahmen aus. Dies dämpft die deutschen Exporte. Der zum Jahreswechsel in Kraft tretende Fiskalpakt sorgt dafür, dass die Sparpolitik auch langfristig die wichtigste Leitlinie europäischer Wirtschaftspolitik bleibt.
Zusätzlich lenkt die Instabilität von Wechselkursen, Rohstoffpreisen, Zinssätzen und Aktienkursen das unternehmerische Gewinnstreben (weiterhin) auf Finanzinvestitionen zulasten realwirtschaftlicher Aktivitäten. Diese Anreizbedingungen haben in die Krise geführt, eine nachhaltige Überwindung der Krise ist innerhalb einer finanzkapitalistischen »Spielanordnung« nicht möglich.
Ein Rückblick klärt, was zu tun wäre. Ein Finanzboom führte 1929 zum Börsenkrach samt Rezession, das Budgetdefizit stieg, die marktliberale Theorie empfahl eisernes Sparen, und diese Politik trieb die Wirtschaft in eine Depression. Die Weltwirtschaftskrise und ihre Folgen waren so verheerend, dass auch das Lernen aus der Krise gründlich ausfiel: Keynes entwickelte eine neue Theorie, die dem Staat wichtige Aufgaben zuwies und eine strikte Regulierung der Finanzmärkte empfahl.
Auf Basis dieser Theorie wurde die soziale Marktwirtschaft aufgebaut: Bei stabilen Wechselkursen, Rohstoffpreisen und (unter der Wachstumsrate liegenden) Zinssätzen konnte sich das Gewinnstreben nur in der Realwirtschaft entfalten, das Wirtschaftswunder fand statt. Bei anhaltender Vollbeschäftigung ging die Staatsverschuldung stetig zurück, während der Sozialstaat ausgebaut wurde.
Doch durch seinen Erfolg bereitete der Realkapitalismus den Boden für seinen Niedergang: Andauernde Vollbeschäftigung stärkte die Gewerkschaften, sie setzten in den 1960er Jahren eine Umverteilung zugunsten der Löhne durch, der Zeitgeist wehte links und förderte den Aufstieg der Sozialdemokratie. Für die Vermögenden wurden die Losungen der Neoliberalen gegen Sozialstaat und Gewerkschaften wieder attraktiv. Auf Basis der neoliberalen »Navigationskarte« wurden seit den 1970er Jahren die finanzkapitalistische Form einer Marktwirtschaft installiert: Bei instabilen Wechselkursen, Rohstoffpreisen, Zinssätzen und Aktienkursen verlagerte sich das Gewinnstreben von Real- zu Finanzinvestitionen, das Wirtschaftswachstum sank von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung stiegen.
Mit der großen Krise hat der Prozess der Selbstzerstörung dieser »Spielanordnung« seine finale Phase erreicht. In einer solchen Lage braucht es Politiker, die den Mut haben, den Rat der Mainstream-Ökonomen zu verwerfen und den Kurs der Wirtschaftspolitik zu ändern - wie seinerzeit Roosevelt mit seinem »New Deal«.
Ein »New Deal für Europa« hätte zwei Hauptziele. Verlagerung des Gewinnstrebens auf die Realwirtschaft sowie Verbesserung jener sozialen und ökologischen Lebensbedingungen, die »vom Markt« nicht gewährleistet werden. Dem ersten Hauptziel würden folgende Maßnahmen dienen:
● Schaffung eines Europäischen Währungsfonds als Finanzierungsagentur der Eurostaaten, welcher die Anleihezinsen unter der Wachstumsrate stabilisiert;
● Festlegung von Bandbreiten für die wichtigsten Wechselkurse;
● Einführung einer Steuer auf Finanztransaktionen.
Dem zweiten Hauptziel würde die Bewältigung jener Aufgaben dienen, welche im neoliberalen Zeitalter vernachlässigt wurden:
● der Kampf gegen den Klimawandel. Dazu müssten die Preise fossiler Energieträger stetig überdurchschnittlich steigen und zwar in einer über Jahre hinaus berechenbaren Weise (Investitionen in Energieeffizienz werden verlässlich profitabler). Dies ließe sich durch eine EU-weite Energiesteuer erreichen in Form einer Abschöpfung der Differenz zwischen Weltmarktpreis und dem angestrebten Verteuerungspfad;
● Investitionen in Infrastruktur und Bildungssystem;
● Verbilligung der Wohnmöglichkeiten für junge Menschen;
● bessere Entfaltungschancen für Junge am Arbeitsmarkt, etwa durch schrittweise Rückführung der prekären Beschäftigung;
● Verbesserung der Lebenschancen von Menschen aus niedrigen Schichten, vor allem durch bessere Integration von Personen mit Migrationshintergrund;
● Milderung der Ungleichheit in der Einkommens- und Vermögensverteilung und damit Stärkung des sozialen Zusammenhalts.
Diese Maßnahmen müssen in erster Linie durch höhere Beiträge der Vermögenden (vor)finanziert werden. Auch zu ihrem Vorteil: In einer Depression würden ihre Vermögen viel größere Verluste erleiden.
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