Die legale Steuerflucht - Wie internationale Unternehmen Lücken im Fiskus ausnutzen
Von Hermannus Pfeiffer
Politiker haben den Konzernen viel Gestaltungsspielraum gelassen. Angesichts klammer Staatskassen erhöhen EU und G20 nun den Druck, um allzu große Steuerschlupflöcher zu schließen.
Steuerbefreiung in Luxemburg, Niedrigstsätze in Irland oder Holding-Geschenke auf Zypern - der Gestaltungsspielraum, den Finanzpolitiker fast aller Fraktionen für Konzerne seit den 1990er Jahren freigeräumt haben, ist riesengroß. Das hat inzwischen auch die EU-Kommission in Brüssel erkannt. »Etwa eine Billion Euro gehen Jahr für Jahr durch Steuerhinterziehung und Steuerumgehung verloren«, mahnte der litauische EU-Kommissar Algirdas ¦emeta kurz vor Weihnachten. Das ist weit mehr als alle öffentlichen Defizite in diesem Jahr zusammen.
Während der Adventszeit brachte ausgerechnet der Kaffeekönig Starbucks das Fass in London zum Überlaufen. Die mehr als 100 000 Beschäftigten des amerikanischen Unternehmens schenken auf mehreren Kontinenten in abertausenden Filialen »Latte« und Espresso aus. Allein auf der britischen Insel macht der als hochprofitabel geltende Konzern mit grünem Image pro Jahr umgerechnet rund 500 Millionen Euro Umsatz - und zahlt keinerlei Gewinnsteuern. Britische Parlamentarier entrüstete das. Ebenso, dass Google, Amazon oder Apple kaum Steuern im Mutterland des Kapitalismus zahlen. Berlin nahm den Ball aus London auf und machte Druck auf amerikanische Unternehmen, die nicht dort ihre Gewinner versteuern, wo sie erwirtschaftet werden. »Das ist das Hochreck aggressiver Steuergestaltung«, hieß es im Dezember aus dem Bundesfinanzministerium.
Die konzertierte Aktion zwischen Berlin, London und Brüssel nährt den Verdacht, hier soll mit den prominenten US-Konzernen dem breiten Publikum ein schwarzer Peter geliefert werden, um von der eigenen Verantwortung abzulenken. Denn die Praxis der Unternehmen ist weitgehend legal. Und sie ist nicht allein unter Amerikas Multis üblich. Laut portugiesischen Medienberichten nimmt die Anzahl von heimischen Unternehmen zu, die durch Verlagerungen von Geschäftsbereichen zwecks Steuervermeidung in die Niederlande flüchten. Mittlerweile haben zumindest 17 der 20 größten portugiesischen Unternehmen diesen Fluchtweg genutzt.
Und auch große deutsche Konzerne dürften den riesigen Gestaltungsspielraum nutzen, den ihnen die Finanzpolitiker im europäischen Binnenmarkt seit den 1990er Jahren eingeräumt haben. Multis wie Bayer, Deutsche Bank oder Siemens machen ihre Umsätze und Gewinne bis zu 90 Prozent im Ausland, in mindestens ebenso vielen Ländern. Das schafft kaum noch übersehbare Möglichkeiten. So kann das Bundesfinanzministerium auf Anfrage »die Höhe der Steuerausfälle durch die Verlagerung von Einkünften in Länder mit niedrigen Steuersätzen nicht quantifizieren«. Der 97-seitige Report des britischen Fiskalexperten Richard Murphy, auf den sich die EU-Kommission beruft, beziffert das jährliche Steuerschlupfloch für Deutschland auf rund 190 Milliarden Euro. Eine gewaltige Summe, wie der Vergleich zeigt: Der Bund dürfte 2012 insgesamt nur etwa 250 Milliarden Euro an Steuern eingenommen haben.
Für den Großteil der Summe sind Unternehmen verantwortlich. Dabei können selbst Multis ihre Gewinne nicht vollkommen beliebig hin und her schieben. Aber sie haben einen großen Ermessensspielraum. Etwa, wenn der Konzernteil in Deutschland einen aus Gewinnen finanzierten Kredit an einen Konzernteil in einem Niedrigststeuerland wie Irland vergibt. Steuerdumping ist auch via Luxemburg möglich, wenn man die Finanzgeschäfte eines Konzerns dort abwickelt. Oder auf Zypern, wenn dort die nahezu steuerbefreite Konzernholding angesiedelt wurde, die konzernintern hohe Lizenzgebühren für britische oder französische Tochtergesellschaften berechnet, damit die Profite auf der Mittelmeerinsel zu Buche schlagen. Nahezu steuerfrei.
Die Krux: Allein in der EU haben 27 Staaten 27 unterschiedliche Steuersysteme. Unternehmen zahlen in Deutschland von ihrem offiziellen Gewinn 30 Prozent Steuern, in dem Heimatland des EU-Steuerkommissars ¦emeta, Litauen, 20 Prozent und in Irland kaum mehr als 10 Prozent. Damit nicht genug, haben in jedem Land die Steuerbehörden unterschiedlich definiert, welche Kosten vom Umsatz abgezogen werden dürfen, um letztlich einen Gewinn zu ermitteln, auf den dann der besagte Steuersatz fällig wird. Selbst bei gleichen Steuersätzen würden also die unterschiedlichen »Bemessungsgrundlagen« dafür sorgen, dass ein Land als Steuerparadies gelten kann, ein anderes als Hochsteuerland.
Dabei war und ist der steuerpolitische Flickenteppich durchaus politisch gewollt. Teils, um den wirtschaftlich schwächeren neuen EU-Mitgliedern vor allem in Mittel- und Osteuropa einen Ausgleich zu bieten, teils, um in der globalen Konkurrenz mit Nordamerika und Südostasien sowie den dortigen Steuer- und Finanzoasen bestehen zu können.
Mit der Staatsschuldenkrise scheint in den »alten« Industriestaaten jedoch ein Umdenken eingesetzt zu haben. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble warnte zusammen mit dem britischen Schatzkanzler George Osborne vor einer Aushöhlung der Unternehmensteuern und klagte in einem Schreiben an seinen Amtskollegen in Washington, Timothy Geithner, über einen »inakzeptablen Zustand«. Die Europäische Kommission hat im Dezember einen Aktionsplan vorgelegt, und im Februar auf dem nächsten Treffen der Finanzminister der G20-Staaten in Russland könnte das Thema oben auf die Tagesordnung stehen. Federführend ist die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD). Eine Arbeitsgruppe soll bis zum Frühjahr Vorschläge entwickeln, wie der Gewinnverlagerung multinationaler Unternehmen begegnet werden kann.
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