Eine schwierige Beziehung - Großbritannien und die EU
Von Ulrich Bochum
Der britische Premierminister David Cameron hat eine Grundsatzrede gehalten, die das Verhältnis zur Europäischen Union (EU) auf eine neue Grundlage stellen soll. Dabei will er wichtige EU-Verträge neu verhandeln mit dem Ziel, eine neue Balance zwischen den Mitgliedstaaten und der EU zu erreichen.
Die Nationalstaaten und ihre Parlamente sollen mehr Kompetenzen und Bewegungsspielraum gegenüber dem regulierungswütigen, bürokratischen EU-Apparat bekommen. Gerade in der aktuellen Krise der EU sei Raum für Vertragsänderungen gegeben, denn in den letzten zwei Jahren habe es im Rahmen der Euro-Rettung Schritte gegeben, die vorher undenkbar gewesen seien. Diese Situation will Cameron nutzen, um das Verhältnis Großbritanniens zur EU komfortabler zu gestalten. Gelinge eine Revision der europäischen Verträge nicht, gebe es im Fall seiner Wiederwahl ein Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU.
»Wir sind für eine flexible Union freier Mitgliedstaaten, die Verträge und Institutionen teilen und zusammen das Ideal der Kooperation verfolgen.«(Cameron in seiner Rede) Das ist die Vision, die Cameron für Europa anbietet und die meilenweit entfernt ist vom Ziel einer tieferen politischen Integration. Die EU ist aus dieser Sicht vor allem eine Freihandelszone und wichtig ist der gemeinsame europäische Markt für die britischen Unternehmen, um ihre Produkte und Dienstleistungen absetzen zu können.
Dazu braucht man einige allgemein verbindliche Regeln, für deren Durchsetzung gesorgt werden muss – mehr ist eigentlich nicht notwendig und daher ist der zentralistische Apparat in Brüssel zu verschlanken. »Unsere Beteiligung am gemeinsamen Markt und unsere Fähigkeit diese gemeinsamen Regeln zu gestalten sind der wesentliche Grund für unsere Mitgliedschaft in der EU.«
Die britischen Unternehmen dürften allerdings angesichts der Möglichkeit, sich in einigen Jahren außerhalb des gemeinsamen Marktes wieder zu finden, eher verunsichert sein. Bereits im Vorfeld der Rede hatten einige Chefs großer Unternehmen darauf hingewiesen, dass Großbritannien bei vielen außereuropäischen Investoren als »Gateway to the European Union« gesehen werde, eine längere Periode der Unsicherheit über die Zugehörigkeit zur Europäischen Union könne diesen Standortvorteil Großbritanniens beschädigen und dazu führen, dass sich Investoren gleich auf dem Kontinent ansiedelten.
Große Betonung legt Cameron auf die Wettbewerbsfähigkeit der EU und seiner Mitgliedsländer – hier trifft er sich im Geiste mit Angela Merkel, beide haben die Bedeutung der Wettbewerbsfähigkeit auch auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos hervorgehoben. Diese Wettbewerbsfähigkeit sei gegenüber den neuen Wachstumszentren in Asien und Amerika nicht gegeben, weil die EU die mittleren Unternehmen mit EU-Direktiven überziehe und am Fortkommen hindere. Ebenso müsse der gemeinsame Markt in den entscheidenden Bereichen Dienstleistungen, Energie und Digital weiter dereguliert werden, um den Konsumenten wirklich die besten »Deals« bieten zu können.
Das Problem dabei ist, dass gerade die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit einiger EU-Länder, die Ungleichgewichte innerhalb der Union verstärkt und einen tiefen Graben zwischen Nord- und Südländern gerissen hat. Großbritannien selbst kann zu einer stärkeren Wettbewerbsfähigkeit nur wenig beitragen, es driftet nach einem leichten Wachstum im dritten Quartal 2012 aller Wahrscheinlichkeit nach im vierten Quartal 2012 mit -0,3% wieder in den negativen Bereich.
Es gibt im industriellen Sektor Großbritannien heute nur noch die Flugzeug- und die Pharmaindustrie, die global wettbewerbsfähig sind. Dies ist Resultat eines langen industriellen Abstiegsprozesses, der einerseits durch einen »imperialen Überhang« (er reichte noch bis in die 1960er Jahre hinein) und andererseits durch eine erratische Regierungspolitik gegenüber der Industrie, die diesem Sektor keine kontinuierlichen Entwicklungsbedingungen garantierte, begründet wurde.[1] Wenn Cameron heute von Wettbewerbsfähigkeit redet, meint er nicht die Industrie, sondern den Bereich der Finanzdienstleistungen, deren Expansion als Kompensation für den industriellen Rückgang herhalten sollte. Dass sich Großbritannien damit viel stärker einem Rhythmus von »Boom & Bust« ausgesetzt hat und die damit verbundene Volatilität die Einkommensentwicklung und -verteilung negativ beeinflusste, sollte man im Auge behalten, wenn dies als Rezeptur für die Entwicklung der EU empfohlen wird.
Cameron spielt weiterhin mit der weit verbreiteten Unzufriedenheit der BürgerInnen mit der EU-Politik. Die Unterstützung der EU sei in Großbritannien und in anderen Ländern nur noch sehr dünn. Dabei schielt Cameron auf die europafeindliche UK-Independence Party (UKIP), für die bei den nächsten allgemeinen Wahlen 22% der Befragten votieren würden. Der konservative Flügel seiner Partei hatte Cameron aufgrund der steigenden Popularität dieser Partei letztlich zu einer Klarstellung seiner Haltung gegenüber der EU motiviert.
Insgesamt ist die Haltung der britischen Bevölkerung gegenüber der EU aber nicht so negativ wie von Cameron dargestellt. Nach einer YouGov-Umfrage für die Sunday Times im Januar 2013 würden bei einem Referendum 40% der WählerInnen für einen Verbleib Großbritanniens in der EU stimmen, 34% würden für einen Austritt votieren. Für die WählerInnen insgesamt hat die Debatte über die EU aber nur eine geringe Bedeutung. Im Vordergrund steht eindeutig die Besorgnis über die ökonomische Situation, die 75% der Befragten als total schlecht bewerten.[2]
Dabei haben sich die Sitten und Gebräuche auf der Insel in den letzten 30 Jahren doch erheblich geändert. Als Großbritannien 1972 unter der konservativen Heath-Regierung dem gemeinsamen Markt beitrat, startete der pro-europäische Daily Mirror eine Umfrage, ob mehr kontinentale Sitten wünschenswert seien, damals waren die Antworten der Befragten eher skeptisch.
30 Jahre später gehören diese kontinental-europäischen Gepflogenheiten auch in Großbritannien zum Alltag und somit ist die Insel, gewollt oder ungewollt, »kontinentaler« geworden.
Der Beitritt zum gemeinsamen Markt war bereits damals stark umstritten. Sowohl die konservative Rechte als auch die Labour-Linke (Tony Benn) sahen im Beitritt zur EWG eine Unterminierung der britischen Souveränität. Beide Parteien waren mit internen Widerständen gegen die jeweilige Partei-Linie (Konservative pro EWG, Labour gegen EWG) konfrontiert und vollzogen überraschende Kehrtwendungen in ihrer Haltung zur Europäischen Gemeinschaft.
Beim Beitritt zur EWG 1972 wurde verhandelt, dass Großbritannien 3% zur Finanzierung des EWG-Budgets beitragen sollte, ein absurd geringer Beitrag für ein großes europäisches Land. Der Beitrag stieg im Verlauf der 1970er Jahre auf 19%. Unterstellt war, das Großbritannien seinen ökonomischen Status relativ zu den anderen Mitgliedsländern würde aufrecht erhalten können, was sich letztlich als zu optimistische Annahme erwies. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Großbritannien mit dem Beitritt zur EWG Kompromisse mit alten Rivalen und Feinden eingehen, die Bindungen mit imperialen Verbündeten lockern und schwierigere Bedingungen für die Landwirtschaft und die Fischerei-Industrie akzeptieren musste. Demgegenüber stand die vage Hoffnung im Rahmen der EWG einen neuen ökonomischen Aufschwung und Prosperität generieren zu können. Davon konnte nicht jeder überzeugt werden.[3]
Heute ist Großbritannienauch noch Netto-Zahler in der EU, aber unter den großen Nationen leistet es den geringsten Beitrag pro Kopf.
Die Reaktionen auf Camerons Rede fielen teils scharf ablehnend aus. Insbesondere der Präsident des Europa-Parlaments, Martin Schulz, warf Großbritannien vor, sich Reformen innerhalb der EU zu verweigern. Angesichts der ablehnenden Position der britischen Regierung gegen eine tiefere Integration der EU-Staaten, ist das aber nicht verwunderlich. Man wird sehen wie weit die Bereitschaft der anderen EU-Staaten reichen wird, um EU-Verträge im Sinne Großbritanniens zu verändern.
Problematisch wird es auf jeden Fall für die Labour-Party, die sich dem angekündigten Referendum in der nächsten Legislatur-Periode kaum wird entziehen können. Labours Vision von Europa sieht so aus: »Europa ist ein flexibles Europa mit einem gemeinsamen politischen Rahmen, der sich permanent unterschiedlichen Graden der Integration zwischen Mitgliedstaaten anpassen kann.«[4]
Das hat doch viel mit Cameron gemeinsam und daher wird sich die Haltung Großbritanniens gegenüber der EU auch bei einem Labour-Sieg bei den nächsten Wahlen nicht wesentlich ändern. Es bleibt auf jeden Fall eine mehrjährige Periode der Unsicherheit über den Verbleib Großbritanniens in der EU, und ob das positiv für die wirtschaftliche Entwicklung sein wird, darf bezweifelt werden.
[1] Vgl. Robert Skidelsky's Besprechung des Buches von Nicholas Comfort: The Slow Death of British Industry: a 60-Year Suicide, 1952-2012, Biteback Publishing.
[2] YouGov/Sunday Times Survey Results 17h-18h January, 1.912 Interviews
[3] Vgl. Andy Beckett 2009: When the Lights went out. What really happened to Britain in the Seventies, London, S. 88-96
[4] So der Schatten-Außenminister Douglas Alexander.
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