Wie sich Wissenschaftler um Kopf und Kragen rechnen
Von Gerd Bosbach
Die Alzheimer-Rate wird sich bis ins Jahr 2050 verdreifachen. Im selben Jahr wird in China die Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung bei genau 44 Prozent des US-Niveaus liegen. Und in Österreich wird sich die Zahl der Hundertjährigen verzehnfacht haben.
Das alles sind Meldungen der letzten Tage - aber keine Sorge, Sie müssen sich die Zahlen nicht merken.
Diese und viele andere Prognosen stammen von Statistik-Professoren und Wirtschafts-Fachleuten, alle so genannte "Experten". Also werden die Zahlen wohl stimmen. Oder? Wer grundlegende Zweifel hat, erntet selbst Skepsis. "Wie willst Du das denn besser wissen?" steht es in den Gesichtern der vielen Expertengläubigen geschrieben.
Zweifeln wir trotzdem einmal, so sehen wir schnell: Erstens: Experten widersprechen oft ihren eigenen früheren Aussagen. Weshalb sollen sie denn jetzt richtig liegen? Zweitens: Experten widersprechen sich untereinander. Zumindest einige von ihnen müssen also irren.
Experten äußern sich oft über Dinge, die sie gar nicht genau kennen können. Das Ausmaß der Schwarzarbeit oder die Anzahl schlagender Ehemänner ist höchstens grob abschätzbar. Und die Lebenserwartung aller, die heute noch leben, ist auch für Experten eine Unbekannte. Trotzdem wird meist mit erstaunlich exakten Zahlen operiert - oder besser gesagt: geblufft.
Werden wir konkret. Nach einer jüngsten Professorenmeinung aus Rostock wird jedes zweite Neugeborene einhundert Jahre alt. Es ist nur zwei Jahre her, da hat ein anderer Bevölkerungsexperte gerade einmal jedem fünften Neugeborenen ein derart langes Leben vorausgesagt. Woher dieser sprunghafte Anstieg der Lebenserwartung? Leben wir immer länger, weil die Medizin ständig besser wird? Werden wir immer älter, weil das in der Vergangenheit immer so war? Oder kehrt sich der Trend vielleicht sogar um, wegen mangelnder Bewegung, wegen zunehmendem Stress oder schlechterer Ernährung?
Wer als Experte in die Zukunft blicken will, muss spekulieren - oder vornehmer ausgedrückt: Er muss sehr weitgehende Annahmen treffen. Für welche Annahmen wird sich ein Experte also entscheiden? Im Sinne des zahlenden Auftraggebers? Im Sinne einer schlagzeilenträchtigen Meldung? Im Sinne möglichst spektakulärer Ergebnisse, die viel Öffentlichkeit garantieren?
Expertisen sind meist beauftragt und kosten viel Geld. Forscher hängen von diesen Geldflüssen ab und werden es sich genau überlegen, ob sie sich die Chance auf neue Aufträge mit ungeliebten Ergebnissen verderben. Da darf es uns nicht überraschen, wenn in politischen Debatten meist passende Gutachten auf dem Tisch liegen.
Beim Thema Lebenserwartung etwa nutzen die meisten Expertisen eindeutig der Versicherungsbranche - und allen, die private Vorsorge als Lösung der demografischen Entwicklung propagieren.
Es gibt vieles, das wir bezweifeln sollten.
Etwa die dramatischen Pflegezahlen eines Professors aus Freiburg - der zwar annimmt, dass wir künftig viel länger leben werden als heute, aber trotzdem genauso rasch krank und pflegebedürftig werden.
Oder die zukünftige Fachkräftelücke - für deren dramatisch hohe Zahl der Chef der Bundesagentur für Arbeit annimmt, dass es in den nächsten Jahren keinerlei Wanderungen mit dem Ausland gibt, weder Zu- noch Fortzüge. Und Auswirkungen der Rente mit 67 auf den Arbeitsmarkt werden ebenso ignoriert, wie das verkürzte Abitur und die Aussetzung der Wehrpflicht.
All das ist abstrus. Und trotzdem bestimmen solche Expertenzahlen die öffentliche Diskussion.
Wir sollten weniger gläubig den Meinungen von Experten folgen. Das eigene Nachdenken ist besser als das ehrfürchtige Nachbeten.
Journalisten sollten mehrfach erwischten Zahlenjongleuren keine Öffentlichkeit mehr schenken. Professoren sind keine Alleswisser und unabhängig von Interessen erst recht nicht.
Das bezweifeln Sie? Na hören Sie mal. Ich bin Experte.
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