1998 - Generalprobe für den Kollaps
Hans Böckler Stiftung
War die Gefahr eines Finanzmarktcrashs vor Ausbruch der Krise 2007 wirklich nicht absehbar? Eine Studie zeigt: Bereits 1998 beim Zusammenbruch des Hedge-Fonds LTCM traten die Schwächen der laxen Regulierung zutage. Gelernt hat die Politik daraus nichts.
An den Hedge-Fonds Long-Term Capital Management (LTCM) zu erinnern lohnt nicht nur, weil seine Anlagestrategie 1998 beinahe das US-amerikanische Bankensystem in den Abgrund gestürzt hätte. Aufstieg und Fall des Fonds seien auch deshalb eine wichtige Episode der Wirtschaftsgeschichte, weil sich unter den elf Direktoren zwei besonders prominente Wirtschaftswissenschaftler befanden, schreiben Nigel Allington, John McCombie und Maureen Pike vom Cambridge Centre for Economic and Public Policy in ihrer Fallstudie. Die beiden bekannten LTCM-Direktoren waren Robert C. Merton und Myron S. Scholes, die 1997 den Wirtschaftsnobelpreis für ihre Theorie zur Bewertung von Finanzderivaten bekommen hatten.
In den ersten drei Jahren seines Bestehens lieferte LTCM spektakuläre Renditen von 20, 43 und 17 Prozent. Das gelang vor allem durch den Einsatz von viel Fremdkapital. Anfang 1998 kamen zu den knapp fünf Milliarden Dollar Investoren-Einlage noch Kredite über fast 125 Milliarden Dollar hinzu, mit denen fleißig spekuliert wurde, so die Wissenschaftler. Im September 1998 war das Eigenkapital auf 600 Millionen Dollar geschrumpft, weil LTCMs Wetten auf die Kursentwicklung verschiedener Staatsanleihen nicht aufgegangen waren. Auf einen Dollar eigenen Geldes kamen nun 250 Dollar Schulden.
Rettender Staatseingriff. Da zu befürchten war, dass eine Pleite von LTCM eine Kettenreaktion auslöst, die das ganze US-Finanzsystem kollabieren ließe und die Weltwirtschaft erschüttern könnte, kam es schließlich zu einer groß angelegten Rettungsaktion unter Führung der US-Zentralbank. Ein Konsortium 14 großer Banken schoss 3,6 Milliarden Dollar Kapital nach und übernahm die Kontrolle über LTCM. Im Unterschied zu Lehman Brothers zehn Jahre später war LTCM zwar nicht "too big to fail", so Allington und seine Koautoren, aber "too interconnected to fail", also so stark vernetzt, dass eine Pleite im gesamten Finanzsystem Löcher gerissen hätte.
Lektion nicht gelernt. Die Probleme, die 2007 zur Immobilienkrise und bald zur Weltfinanzkrise führten, sind den Forschern zufolge im Fall LTCM schon klar erkennbar gewesen. Nämlich dass "Regulierung light" zu nahezu unbegrenzter kredtifinanzierter Spekulation mit kaum mehr durchschaubaren "Finanzinnovationen" führt - und dass am Ende staatliche Stellen einspringen müssen, um den Kollaps des Bankensystems zu verhindern. "Aber die Lektion fand keine Beachtung", konstatieren die Wissenschaftler. Jedenfalls gelte das für die Politik, die keine Anstrengungen unternahm, die Regulierung zu verbessern. Bei Investment-Bankern und den Managern von Hedge-Fonds habe das LTCM-Debakel die Risikofreude möglicherweise sogar noch etwas gesteigert. Denn nun sei klar gewesen, dass im Ernstfall mit Hilfestellung zu rechnen ist. So war es für Finanzinstitute - nicht nur für Hedge-Fonds - 2008 "völlig normal", mit dem Dreißigfachen des Eigenkapitals verschuldet zu sein.
Woher kommt das Vertrauen in unregulierte Märkte? Zwei ökonomische Hypothesen halten die Autoren der Studie für ausschlaggebend. Die eine ist die These von der Markteffizienz, die von den meisten wichtigen politischen Entscheidungsträgern, einschließlich Zentralbankchef Alan Greenspan "unkritisch akzeptiert" wurde. Die andere ist die Überzeugung, dass es an Finanzmärkten keine unberechenbaren Kursausschläge gibt. Die Wissenschaftler weisen in diesem Zusammenhang auf den eigentlich seit den 1920er-Jahren bekannten Unterschied zwischen Unsicherheit und Risiko hin. Unsicherheit bedeutet: Es ist definitiv nicht möglich zu sagen, ob und wann ein Ereignis, zum Beispiel ein Finanzcrash, eintreten könnte. Risiken dagegen lassen sich mithilfe der Wahrscheinlichkeitstheorie berechnen, etwa mit den quantitativen Modellen von Merton und Scholes. Die Grundlage für solche Berechnungen sind frühere Kursschwankungen.
Das Problem der Unsicherheit geriet in Vergessenheit. Und so kalkulierte man nur noch Risiken. Bei LTCM sollte beispielsweise das Risiko für einen Verlust von 10 Prozent des Fondsvolumens in einem Jahr bei 15 Prozent liegen. Was dann tatsächlich geschah - 85 Prozent Verlust in fünf Monaten - kam in den Risikoeinschätzungen gar nicht vor. Aber selbst wenn man versucht hätte, mit den üblichen Daten und Finanzmodellen die Wahrscheinlichkeit eines solchen Absturzes zu berechen: Dabei wäre herausgekommen, dass ein solches Ereignis "nur einmal im Leben mehrerer Universen" vorkommen würde, so Allington, McCombie und Pike.
Die gesamte Ausgabe "Böckler Impuls" 03/2013 finden Sie hier...
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