Armut darf keine Ware werden - 20 Jahre Tafeln in Deutschland und die Folgen
Von Stefan Selke
Das Jahr 2013 steht im Zeichen eines merkwürdigen Jubiläums. 1993 wurde in Berlin die erste Lebensmitteltafel Deutschlands gegründet. In der Folge haben sich in den letzten 20 Jahren die Tafeln zu einem privaten System mit monopolistischen Tendenzen entwickelt. Die Idee, Arme mit aussortierten Lebensmitteln zu versorgen, wird vordergründig gerne als „Erfolgsmodell“ tituliert. Ziel dieses Beitrages ist es, einen knappen Überblick über Hintergründiges zu liefern. Die Grundthese dabei lautet: Es geht immer seltener darum, Armut nachhaltig zu bekämpfen, weil es zu viele Profiteure gibt, die aus „Armut als Ware“ einen Nutzen ziehen.
Tafelkritik als Gesellschaftskritik
Die Beobachtung des Tafelsystems lässt sich grob in vier Phasen einteilen: Zunächst ging es in der „frühen Tafelkritik“ um die Gefahren des „volkspädagogischen“ Ansatzes, der in den „Mahlzeitnothilfen“ gesehen wurde. Zudem wurde befürchtet, dass Tafeln auf lange Sicht die Grenzen des Erträglichen durch den Konsum von Lebensmitteln unterhalb des üblichen Marktniveaus umdefinieren würden. In Tafeln wurde ein „vormodernes“ Almosensystem erkannt, verbunden mit der Warnung vor einer Refeudalisierung der Gesellschaft.
Diese frühe Kritik wurde rasch durch affirmative Beobachtungen und Berichte verdrängt, die die Motive der Ehrenamtlichen in den Mittelpunkt rückten und in den Tafeln ein Vorzeigeprojekt der Zivilgesellschaft sehen wollten. Nach dem Boom der Tafelgründungen — nach der Einführung von Hartz-IV 2005 — wurden die Tafeln primär von der Nachfrageseite her verstanden. Sie wurden als „soziale Bewegung“ etikettiert und gefeiert. Durch die (gefühlte) moralische Sicherheit, das Richtige zu tun und zur „guten Gesellschaft“ beizutragen, entstand der weit verbreitete Eindruck einer notwendigen, positiven und zugleich alternativlosen Entwicklung.
Erst 2008 gelang ein Paradigmenwechsel in der öffentlichen Debatte über Tafeln, als vermehrt interne Dissonanzen auf der Hinterbühne der Tafeln, latente Konflikte bei den Trägern der Tafeln, Interessen Dritter (Spender, Sponsoren, Politik) thematisiert wurden sowie die Eigenlogik des Systems in den Vordergrund rückte: Tafeln sind Teil eines Marktes, in dem symbolische und ökonomischen Gewinne aus Armut erzielt werden.
Aus dieser Tafelkritik erwuchs immer deutlicher eine „Tafelkritik als Gesellschaftskritik“. Im Mittelpunkt steht nun nicht länger die übliche Frage, ob Tafeln gut oder schlecht organisiert werden oder notwendig sind, sondern die Frage, wie das System der Tafeln überhaupt in dieser Gesellschaft möglich wurde.
Präsentationen und Gegenpräsentationen
Damit rücken andere Phänomene als Druckstellen beim Obst oder Motive der Helfer in den Blick. Ausgangspunkt ist die Paradoxie, dass durch Tafeln „das Gute“ in der Form positiv bewerteter und sozial erwünschter Handlungen repräsentiert werden soll und gleichzeitig belastende Scham- und Aberkennungserfahrungen im Kontext neuer Armuts-, Schatten- und Mitleidsökonomien zugelassen oder sogar institutionalisiert werden. Wie lässt sich die Gleichzeitigkeit der Akzeptanz positiv konnotierter Aufwertungslogiken (für freiwilliges und ehrenamtliches Engagement) und negativ konnotierter Abwertungserfahrungen (durch schambesetzte Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse, Individualisierung von Schuld und Selbstexklusion von Armutsbetroffenen) in einer Gesellschaft erklären?
Auffallend ist, dass bei der Evaluation der Tafelbewegung Konflikte nur selten überhaupt wahrgenommen oder gar artikuliert werden. 20 Jahre Tafeln in Deutschland haben eine Fülle juristischer, normativer, ästhetischer, sozialer und praktischer Referenzrahmen langsam aber stetig verschoben, so dass dieser Wandel kaum wahrgenommen wurde und kaum Proteste auslöste. In zwei Jahrzehnten konnten sich affirmative Präsentationslogiken der Tafelbewegung — in Politik, Wohlfahrtsverbänden, Wirtschaft und Medien, auch symbolisiert durch Schirmherrschaften — gegenüber nicht-affirmativen Gegenpräsentationen in alternativen Deutungsmilieus — bei Betroffenenverbänden, Nichtregierungsorganisationen, GrundeinkommensbefürworterInnen, einzelnen kritischen MedienvertreterInnen und innerhalb einer begleitenden kritischen Beobachtung der Tafelbewegung — durchsetzen. Zu erklären ist diese Gleichzeitigkeit von Auf- und Abwertung sowie die Dominanz des Affirmativen letztlich nur dadurch, dass sich die dominanten Präsentationen der Tafeln die schleichenden Grenzverschiebungen als nützliche Teilargumente einverleiben und damit Legitimationsgewinne erzielen konnten, während die nicht-affirmativen Gegenpräsentationen immer wieder Deutungs- und Legitimationsverluste hinnehmen müssen. Kurz gesagt: Die Tafeln repräsentieren den Zeitgeist in prototypischer Form und sind daher durch Kritik kaum angreifbar.
Armut als Ware
Dieses gesellschaftliche Driften in Richtung einer spektakulären Abspeisung als Ersatz für reale Armutspolitik machte Armut zu einer Ware innerhalb eines stetig wachsenden Marktes. Zu diesem Markt gehören existenzunterstützende Angebote wie Kleiderkammern, Suppenküchen, Sozialkaufhäuser oder eben auch Tafeln (in all ihren Mimikryformen wie Kinder-, Tier-, Medikamenten-, Brillen-, Sporttafeln usw.). Zu ihm gehören auch die (profitablen) Beratungsangebote der Wohlfahrtsverbände und die (entlastenden) Verschiebebahnhöfe der Arbeitsagenturen und Jobcenter.
Der armutsökonomische Markt zeichnet sich dadurch aus, dass Dritte dort von der Armut Anderer profitieren, dies (mit mehr oder weniger Inszenierung) als „Engagement“ ausweisen und so strukturelle Defizite verdecken. Es kommt zu einer Ökonomisierung zweiten Grades: Armut selbst resultiert aus der neoliberalen „Ökonomisierung des Sozialen“. Die Behandlung von Armut erfolgt aber nicht dort, wo die Ursachen herrühren, sondern durch die zeitgeistkonforme Auslagerung in private Agenturen, die ein Surrogat echter Politik darstellen. Das Skandalöse besteht darin, dass innerhalb dieses Surrogatsystems weiterhin nach genuin ökonomischen Logiken operiert wird. So entstehen neue Wertigkeiten, die aus unterschiedlichen Armutslagen von Menschen, unterschiedlich differenzierte Kunden- und Klientenbeziehungen erzeugen. Komplementär setzt sich gerade auch die „Ökonomisierung des Engagements“ durch flächendeckendes Freiwilligenmanagement („Engagementpolitik“) durch.
20 Jahre Tafeln in Deutschland zeigen, was passiert, wenn Armut in dieser Weise zur Ware wird. Der Impuls, darin einen gesellschaftlichen Skandal zu erkennen, geht beim Gedanken daran, welche schönen neuen „Projekte“ sich im armutsökonomischen Markt umsetzen ließen, restlos verloren. Die Kosten für diese Entwicklung sind allerdings bedenklich und aus meiner Sicht zu hoch.Ähnliche Artikel
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