Die Reichen werden reicher und die Reichsten der Reichen noch reicher
Über das Buch von Joseph E. Stiglitz, Der Preis der Ungleichheit, Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht, von Joachim Kasten
In der Vorstellung vieler Amerikaner sind die USA nicht nur ”the land of opportunity” sondern auch ein demokratischer Modellstaat. Die erste Bezeichnung ist „american folklore“ gebaut auf Anekdoten und die Zweite ist ein Klischee, das ersetzt werden sollte mit dem Motto „one dollar one vote“. Es sind aber zweifellos provozierende Thesen, die nun mit wissenschaftlicher Exaktheit untermauert werden, von Joseph E. Stiglitz in seinem neuen Buch „The Price of Inequality“. Der Autor ist nicht irgendjemand sondern ein globaler Celebrety.
Er war u. a. Wirtschaftsberater des US-Präsidenten Bill Clinton und Chefökonom der Weltbank. Den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt er 2001. Das Time Magazine listete ihn 2011 zu den hundert einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt. Aktuell wirkt er als Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Columbia Universität New York.
Das Wachstum der Armut
Bereits 2007 lädt der Wall Street Journal-Reporter Robert Frank zu einer vielbeachteten Reise durch ”Richistan” ein. In porträtartigen Erzählungen schildert er, wie eine dünne Elite aus Multimillionären ihre Interessen zur Mehrung des Reichtums steuert. Eine breitere und in Bezug auf die in den USA herrschende Kapitalismusvariante auch härtere Kritik, prägt indessen die Analyse von Joseph E. Stiglitz. Sein besonderer Focus liegt auf der These, wonach die USA eine Regierung „of the 1 percent, by the 1 percent, and for the 1 percent” haben. Die Occupy Wall Street Bewegung behauptet die Stimme der „99 Prozent“ zu sein. Der Autor stimmt zu und bietet seinen Lesern dafür zahlreiche Belege auf ökonomischer und politischer Ebene.
Nach dem amerikanischen Ideal führen freie Unternehmertätigkeit und unregulierte Märkte zu Wachstum und Wohlstand für alle. Vor einem Horizont globalisierter Volkswirtschaften sowie tristen Erfahrungen mit verantwortungslosen Spekulationsorgien der Banken- und Finanzwelt, sind derartige Annahmen heute indessen kaum mehr als naive Glaubensvorstellungen. Relevante Wachstumsraten gibt es - jedenfalls in den USA - hauptsächlich bei der Armut. Joseph E. Stiglitz spricht zuspitzend von einer „Abwärtsspirale“. Als eklatanteste Fehlleistung des Marktes gilt für ihn die Arbeitslosigkeit. Immerhin suchten 2012 gut 24 Millionen Amerikaner einen Vollzeitjob. Keiner Erwerbstätigkeit nachgehen zu können, ist eine schwere Belastung in allen Ländern. In den USA ist es aber besonders hart. Dort geraten Arbeitslose schnell an den Rand des persönlichen Ruins. Die gewährte Arbeitslosenunterstützung ist kaum ihren Namen wert. Betroffene erhalten „foodstamps“ oder gespendete Lebensmittelrationen. Außerdem bedroht sie der Verlust der vom Arbeitgeber gedeckten Krankenversicherung. Durch offene Arztrechnungen rutschen oftmals ganze Familien ins soziale Elend. Im Gegensatz zu den meisten Ländern Europas zählt eine angemessene Gesundheitsversorgung in den Vereinigten Staaten nicht zu den grundlegenden Menschrechten, das kritisiert Joseph E. Stiglitz in seinem Buch.
”The land of the free” ist weder für freigestellte noch beschäftige Arbeitnehmer ein Traumland. Allenfalls träumen sie von einer Zeit, als die Beschäftigung sicherer war und Löhne noch anstiegen. Wenn sie heute erwachen, sehen sie den umgekehrten Trend. Der amerikanische Ökonom präsentiert in seinem Buch eindrucksvolle Zahlen. So sank das reale Einkommen junger Männer zwischen 25 und 35 Jahren mit geringer Bildung seit Ende der 80er um etwa ein Viertel. In Haushalten mit Bachelor oder höheren-Uniabschlüssen betrug der Verlust zwischen 2000 und 2010 immerhin noch ein Zehntel.
Die Kluft wächst und der Glaube an die „Mittelstandsgesellschaft“ nimmt ab. Die amerikanische Rechte pflegt das System der Ungleichheit mit der Theorie einer ”trickle-down-economy” zu verteidigen. Dafür, dass die Gesellschaft insgesamt von den herunterfallenden „Brotkrumen“ der Reichen profitiert, gibt es nach Joseph E. Stiglitz indessen keinen Beleg. Richtig sei allenfalls das genaue Gegenteil
Der Reichtum der Reichen wächst
Die USA waren in ihrer gesamten Wirtschaftsgeschichte schon immer das gelobte Land des Kapitalismus und geprägt von großen Einkommensunterschieden. Das gegenwärtig hohe Niveau der Ungleichheit ist jedoch absolut neu. Vor dreißig Jahren verdiente die oberste Schicht von einem Prozent der Bevölkerung zwölf Prozent des US-Einkommens. Eine unakzeptable Ungleichverteilung, nennt es Joseph E. Stiglitz und dokumentiert das dramatische Wachstum dieser Disparität: Seit 2007 erhalten die Spitzenverdiener durchschnittlich 1,3 Millionen Dollar im Jahr nach Steuern. Die untersten 20 Prozent müssen sich mit 17.800,- Dollar begnügen. Die reichsten 0,1 Prozent erzielen außerdem in eineinhalb Tagen den gleichen Betrag den 90 Prozent in einem Jahr verdienen. Seine Statistik der Ungleichheit beendet Stiglitz mit der Angabe, dass die reichsten 20 Prozent nach Steuern den gleichen Anteil beziehen wie die restlichen 80 Prozent der Bevölkerung zusammen. ”The rich are getting richer and the richest of the rich getting still richer!”, lautet seine einfache Schlussfolgerung. Die USA haben damit eine größere Ungleichheit und schlechtere Einkommensmobilität als nahezu alle europäischen Länder sowie Kanada und Australien, hält der Columbia-Professor fest.
Die Politik ist entscheidend
Die triste Lage in den Vereinigten Staaten ist für Joseph E. Stiglitz keine zufällige Entwicklung, sondern eine bewusste Kreation. Das Wahlkampfmotto des ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton ”It´s the economy, stupid!” formuliert er um in ”It´s the politics, stupid!”. Verursacher sind interessengesteuerten Akteure der Politik. Triebkräfte und Gewinner der Ungleichheit sind eine elitäre Schicht. Den Preis bezahlen die mittleren und niedrigen Einkommensbezieher. Verantwortlichkeiten zu benennen und unterschiedliche Faktoren zu analysieren und bewerten, ist ein Grundanliegen von Joseph E. Stiglitz Buch.
Die meisten Entscheidungen fallen durch ein Zusammenspiel vom Präsidenten und der Legislative im Kongress. So hinterließ die „Reagan-Revolution“ mit Deregulierungen und Sozialabbau tiefe Wunden in der US-Gesellschaft. Hinzu kamen Steuerreformen zu Gunsten von Unternehmen und Vermögenden. US-Präsident George W. Bush setzte die Umverteilung öffentlicher Mittel durch seinen Privatisierungseifer ungebremst fort. Ein befreiter und unkontrollierter Bankensektor betrieb schließlich eine schonungslose Profitjagd mit den bekannten Folgen der globalen Finanzkrise und den enormen Kollateralschäden für einfache Arbeitnehmer. Verantwortliche Finanzmanager, welche die Immobilienblase erst kräftig aufgepumpt haben, kamen meist ungeschoren davon. Die Opfer der skrupellosen Kredithändler wurden zahllose Lohnempfänger, die ihre Häuser und Ersparnisse verloren.
Besitzer von Unternehmenskapital genießen insbesondere in den USA bessere Rechte als Personen, die lediglich ihre Arbeitskraft verkaufen. Dazu beigetragen haben bewusste Anstrengungen, den Einfluss der Gewerkschaften zu brechen. Erneut verurteilt Stiglitz in diesem Zusammenhang Ronald Reagan und die Republikanische Partei als ehrgeizige Antreiber dieser Politik. Diese Strategie hatte Erfolg. Dem Autor zufolge sank der gewerkschaftliche Organisationsgrad amerikanischer Arbeitnehmer von 20,1 Prozent 1980 auf bloße 11,9 Prozent im Jahr 2010. Daraus folgt eine noch schlechtere Parität in der Verhandlungsmacht mit organisierten Unternehmensinteressen. "Starke Gewerkschaften halfen früher die Ungleichheit zu senken, während schwache Arbeitnehmervertretungen im Interesse der Vorstände sind“, schreibt der Nobelpreisträger Stiglitz.
Korrumpierte Demokratie
Viele Amerikaner sind stolz auf ihr politisches System. Durch die scharfe Brille von Joseph E. Stiglitz betrachtet, kommt man allerdings zu anderen Ergebnissen. Sein Vorwurf lautet u. a. dass die Behörden potentielle Wähler von der Wahl abhalten. Wie sonst soll man eine merkwürdige Realität deuten, nach der gut 51 Millionen Bürger unregistriert und somit vom Stimmrecht ausgeschlossen sind. Woher kommt dieses Unvermögen eine akzeptable demokratische Partizipation zu organisieren? Seine Antwort lautet, dass eine Reform offensichtlich nicht im Interesse der ”ein Prozent” liegt.
Dieser Zustand wird dadurch untermauert, dass eine dünne Schicht von Milliardären die Kontrolle über die Gesetzgebung dominiert. Ein Beispiel hierfür ist, wie der Spruch des Supreme Courts im Fall ”Citizens Unitied v. Federal Election Commission” lautete. Darin bestätigen die Richter ein uneingeschränktes Recht von Unternehmen und Organisationen Kandidaten für den Kongress und andere demokratische Wahlen zu sponsern. Joseph E. Stiglitz nennt das Urteil ”einen Meilenstein in der Entmachtung normaler Amerikaner”. Die Superreichen behalten damit das Privileg, eindimensional für ihre Profitinteressen Lobbyismus zu betreiben, meint der frühere Präsidentenratgeber.
Auch in der bekannten deutsch-dänischen TV-Dokumentation „740 Park Avenue“ wurden dazu anschauliche Belege präsentiert. Sie zeigt auf dramatische Weise, wie eine steinreiche Milliardärsoligarchie den größten Teil der Kongressabgeordneten mit finanziellen Mitteln stützt. Das Geld wird niemals gratis gegeben. Zur Gegenleistung gehört nicht zuletzt eine Gesetzgebung nach der Abgaben für Millionäre um 25 und für 400 Spitzenverdiener um 50 Prozent sanken. Joseph E. Stiglitz kritisiert in diesem Zusammenhang, dass dem durchschnittlichen Steuerzahler eine vergleichsweise höhere Belastung zugemutet als den Superreichen der USA. Den Preis, den das Land für die soziale Ungleichheit zu tragen hat, ist hoch. Einerseits gibt es ummauerte und bewachte Villengebiete für Millionäre und andererseits gewaltsame Konflikte durch Armut. Besonders Makaber ist die Erkenntnis von Joseph E. Stiglitz, dass auch die amerikanische Waffenindustrie ein Interesse daran hat, das derzeitige System aufrechtzuerhalten.
Ein ”amerikanischer Frühling”?
Wenn Warren Buffet von den „Massenvernichtungswaffen“ der Finanzindustrie spricht, so fordert Joseph E. Stiglitz als Konsequenz eine „Entwaffnung“ durch Kontrolle und Regulierung. Weitere Maßnahmen, die ganz oben auf seiner Agenda stehen, sind Bonus-Begrenzungen, da sie zu exzessiven Risikogeschäften beitragen. Außerdem brauch die USA eine Steuerreform mit größerer Progression und die Schließung von Schlupflöchern. Steuerparadiese wie die Cayman-Islands sollten verboten werden. Diese Reformen würden die Hoffnung auf einen „amerikanischen Frühling“ eröffnen, so jedenfalls lautet Joseph E. Stiglitz Analogie zum „arabischen Frühling“. „Eine andere Welt ist möglich!”, schreibt der Autor optimistisch. In seinem Schlusskapitel wird er dann doch etwas tastender und fragt: ”Gibt es Hoffnung?” Ein Teil der Antwort liegt sicher bei den Medien der USA. Sie verurteilen in den meisten Fällen Joseph E. Stiglitz kritische Argumentationslinien als unamerikanisch
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