Ein Troika-Programm für die Ukraine
Von Joachim Bischoff
Für die ukrainische Übergangsregierung (Neuwahlen sind für Ende Mai geplant) stellte Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk fest: »Die Ukraine steht am Rande des wirtschaftlichen und finanziellen Bankrotts«. Das Land stehe vor dramatischen Veränderungen und schmerzhaften Einschnitten. Seine Regierung erwarte einen »Kamikaze-Einsatz«.
Dies ist keine neue Entwicklung. Die Auseinandersetzungen um die Ostorientierung oder die Assoziierung an die EU, der Sturz des Regimes unter Präsident Janukowitsch sowie die Autonomie oder Sezessionsbestrebungen von Regionen (herausgehoben die Krim) haben als Hintergrund die schwere Wirtschafts- und Gesellschaftskrise, die sich in einen Zerfall der politisch-staatlichen Strukturen umsetzte (»failing state«).
Das Parlament in Kiew hatte Monate zuvor in Übereinstimmung mit der Administration von Janukowitsch die vom Internationalen Währungsfonds (IWF) geforderten »Strukturreformen« abgelehnt. Jetzt hat das Parlament in einem zweiten Anlauf die massiven Eingriffe in die Verteilungsverhältnisse beschlossen.
Der amtierende Ministerpräsident macht das Regime Janukowitsch für den katastrophalen Zustand der Wirtschaft verantwortlich. In der Tat sind grundlegende Reformen unterblieben und die Gesellschaft ist durch die massive Bereicherung der politischen Funktionsträger aus den öffentlichen Finanzen geschädigt worden. Angesichts des drohenden Bankrotts akzeptieren das Übergangsparlament und die amtierende Regierung alle IWF-Bedingungen, um eine Finanzhilfe zu erhalten.
Das jetzt politisch eingespeiste Sanierungsprogramm hat folgende Komponenten:
- Massive Kürzungen bei den öffentlichen Ausgaben; das Haushaltsdefizit hatte 2013 4% der Wirtschaftsleistung betragen und soll bis 2016 auf 2,5% reduziert werden. Dazu werden sofort knapp 10% der Beschäftigten des öffentlichen Sektors entlassen. Die Verwaltung der Regionen soll dezentralisiert und in Kooperation mit den »Oligarchen« erneuert werden.
- Es werden Steuererhöhungen etwa für die Erdöl- und Erdgasförderung, Alkohol oder Neuwagen eingeführt.
- Der Preis für Erdgas, das bisher für Privathaushalte stark subventioniert worden war, soll um 50% erhöht werden. Abgefedert werden soll dies mit gezielten Sozialmassnahmen, auf die rund 30% der Bevölkerung Anspruch haben sollen.
- Ein Großteil der Sozialtransfers werden neu festgesetzt (Renten, Stipendien). Die Regierung will das Existenzminimum nicht antasten. Den oft in ärmlichen Verhältnissen lebenden RentnerInnen wird ein Ausgleich für die Inflation in Aussicht gestellt, die im laufenden Jahr mit bis zu 14% taxiert wird.
- Das noch im öffentlichen Eigentum befindliche Unternehmensvermögen soll radikal privatisiert werden.
Im Gegenzug zu dieser sozialpolitischen Rosskur soll die Ukraine unter Führung des IWF ein Finanzpaket von 14 Mrd. bis 18 Mrd. US-Dollar erhalten. Die Vereinbarung mit dem IWF ist Voraussetzung dafür, dass auch aus anderen Quellen Geld ins Land fließt, um den Staatshaushalt zu stabilisieren. Dem IWF zufolge liegt der Gesamtbetrag der Hilfen damit in den kommenden zwei Jahren bei 27 Mrd. US-Dollar. Die Europäische Union hatte Hilfe im Volumen von 11 Mrd. Euro an eine solche Vereinbarung geknüpft.
Unter dieser Voraussetzung will die EU neben einer beschlossenen Finanzhilfe von 610 Mio. Euro ein weiteres Darlehen in Höhe von einer Mrd. Euro bereitstellen. Hinzu kommen soll Entwicklungsunterstützung in Höhe von insgesamt 1,6 Mrd. Euro bis 2020. Außerdem sollen Darlehen der Europäischen Investitionsbank und der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung fließen. Diese sollen eine Gesamtsumme von rund 8 Mrd. Euro haben.
Weitere finanzielle Unterstützung haben die USA versprochen, es sind Kreditgarantien in Höhe von 1 Mrd. US-Dollar geplant. Auch Japan hatte einen Beitrag in Aussicht gestellt. Die Summe der avisierten Finanzmittel von 27 Mrd. US-Dollar entspricht annähernd dem Finanzbedarf, der von ukrainischen Führern nach dem Sturz von Präsident Janukowitsch als erforderlich bezeichnet wurde, um das Land mittelfristig zu stabilisieren.
Mit dieser Konzeption soll über die Neuwahlen Ende Mai eine Erneuerung des politisch-staatlichen Systems erreicht werden. Die neue Regierung hofft dann eine Stabilisierung der Ökonomie auf den Weg zu bringen. Die Ukraine könne unter diesen Bedingungen für 2014 mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung von 3% davonkommen. Ohne Sanierungsbemühungen sehe man sich einer Rezession in der Größenordnung von 10% gegenüber. Die Wahrscheinlichkeit einer gesellschaftlichen Stabilisierung tendiert bei einer massiven Rezession gegen Null.
Die Vereinbarung zwischen dem IWF und der Ukraine soll im April vom Direktorium des Fonds genehmigt werden. Für die deutsche Bundesregierung erklärt Finanzminister Schäuble, dass auch der Ausgang der Wahlen Ende Mai ein Zeitpunkt für die Freischaltung des Sanierungsprogramms sei. Der deutsche Finanzminister unterstreicht, ein umfangreiches Hilfsprogramm für die Ukraine stehe erst nach den dortigen Wahlen am 25. Mai an, denn das Land brauche eine demokratisch legitimierte Regierung. Vor den Wahlen könne es »nur um Soforthilfen« gehen.
In der Tat ist eine legitimierte Regierung und eine mindestens teilweise Erneuerung des politischen Systems und der Administration eine wesentliche Bedingung für einen Stabilisierungsprozess. Zu bedenken ist weiterhin, dass die politischen Spannungen zwischen Russland und der jetzt nach Westen ausgerichteten Ukraine zusätzliche Belastungen für Wirtschaft und Finanzen schaffen werden.
Mit Massenentlassungen und schmerzhaften sozialen Einschnitten will ein Teil der der ukrainischen Elite die Weichen für dringend benötigte internationale Milliardenhilfen stellen. Wir wissen aus Erfahrung: Nur ein Bruchteil der Finanzmittel wird in den Erhalt und die Erneuerung der Ökonomie gesteckt.
Die ukrainische Bevölkerung wird die negativen Auswirkungen umgehend zu spüren bekommen. Während auf der Krim die Altersrenten durch die Putin-Administration verdoppelt werden und ein Programm zur wirtschaftlichen Entwicklung implementiert wird, soll sich die ältere Bevölkerung in der Ukraine auf eine weitere Absenkung des Lebensstandards einstellen.
Ob der Systemwechsel in der Ukraine gelingt, hängt entscheidend von der Belebung der Wirtschaft und der Verteilung der Sanierungslasten ab. Ohne eine wirksame breite Beteiligung der Bevölkerung an diesem Transformationsprozess wird es weder eine Kontrolle noch eine unvermeidlich Nachjustierung der Umverteilungsmaßnahmen geben. Wird die Bevölkerung also nur unzureichend beteiligt, ist die Gefahr der Plünderung der öffentlichen Kassen weiterhin groß.
Wirtschaftlich und politisch ohnehin schon in einer desolaten Lage, droht die Ukraine durch den Konflikt mit Russland noch mehr unter Druck zu kommen. Von einem Handelskrieg mit Russland, wie er aufgrund der zugespitzten Lage zwischen Kiew und Moskau derzeit keineswegs auszuschließen ist, hat die Ukraine im kurzfristigen Horizont vor allem Negatives zu erwarten. Erstens durch höhere Energiepreise, denn der Preisabschlag bei Erdgas, den Gazprom im Dezember dem damaligen Präsidenten Janukowitsch gewährt hatte, um dessen Regime näher an Russland zu binden, dürfte wieder gestrichen werden. Und zweitens ist zu erwarten, dass sich der Zugang der ukrainischen Exporteure zum Markt des östlichen Nachbarn erschwert.
Die Schwierigkeiten mit den Kohle- und Stahlrevieren in der östlichen Ukraine werden unvermeidlich zu nehmen und die politische Administration in größere Turbulenzen bringen. Es ist kaum davon auszugehen, dass die wirtschaftliche Verflechtung der Montanindustrie mit Russland stabilisiert werden kann.
Die ukrainische Stahlbranche war bislang über Jahre der zentrale Exportfaktor und trug bis zu 30% zu den Deviseneinkünften des Landes bei. Doch laut Experten produziert die überalterte und energieintensive Stahlindustrie gegenüber moderneren Anlagen in anderen Ländern inzwischen zu teuer und verliert deshalb Marktanteile. Jetzt werden politische Hindernisse dazu kommen, die den Niedergangbeschleunigen können.
Bundesfinanzminister Schäuble hat Russland vor einer Verschärfung der Krise in der Ukraine gewarnt. Dies ist eine eigentümliche Sichtweise. Ein Land, das am Abgrund entlang taumelt, soll von einer wenig legitimierten Elite mit einer Rosskur und neuen Krediten saniert werden. Russland soll die gesellschaftliche Transformation – nach der Abspaltung der autonomen Region Krim – tolerieren. Notfalls – so Schäuble - werde es weitere Sanktionen geben. Bei einer Eskalation werde der Westen tun, was getan werden müsse.
Diese Linie erscheint wenig plausibel. Selbst wenn es zügig, also noch vor den Wahlen in der Ukraine, zum Einsatz von Finanzmitteln aus dem Sofortprogramm kommt, werden sich die Effekte auf Wirtschaft und Lebensverhältnisse in Grenzen halten. Die Neuerfindung der staatlichen Institutionen ist in einer Situation des ökonomischen Bankrotts eine Gratwanderung. Unter diesen Rahmenbedingungen eine neoliberale Rosskur zur Sanierung der Ökonomie durchzusetzen zu wollen, ist in der Tat eine »Kamikaze-Aktion«, bei der die Chancen des Erfolges äußerst gering sind.
Sicherlich können die westlichen Verfechter einer europäischen Einbindung der Ukraine darauf setzen, dass auch die Wirtschaft Russlands mit erheblichen Krisenrückwirkungen – auch ohne Verschärfung der Sanktionen – zu kämpfen haben wird. Es spricht gegenwärtig viel dafür, dass die Ukraine noch geraume Zeit als gefährlicher Krisenfaktor erhalten bleibt.
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