Historische Entscheidung oder homöopathische Dosis? EZB senkt Leitzinsen auf 0,15%
Von Joachim Bischoff
Mario Draghi, der Chef der Europäischen Zentralbank (EZB), hat die Leitzinsen in Europa auf den historischen Tiefstand auf 0,15% gesenkt. Die BILD-Zeitung, immer noch ein wichtiges Blatt für die Information der breiten Bevölkerung, ist dies eine eindeutige Schlagzeile wert: »Draghi holt die Zins-Keule raus… Um 13:45 Uhr erfuhren die Deutschen, dass sie weiter enteignet werden.«
Faktisch ist die »Keule« eher ein Wattebausch. Denn der Leitzins wird von 0,25 auf 0,15% gekappt, teilte die Notenbank mit. Zudem müssen Banken künftig einen Strafzins bezahlen, wenn sie Geld bei der EZB anlegen. Dafür wird der Einlagezins erstmals unter die Nulllinie auf minus 0,10% reduziert. Den gleichen Effekt der Verstärkung von Krediten an Unternehmen hat die Absenkung des Zinssatzes für kurzfristige Ausleihungen bei der Notenbank von 0,75 auf 0,40%.
Die EZB will den Banken in der Euro-Zone noch mindestens bis Ende übernächsten Jahres – also bis 2016 – so viel Liquidität zum Festzins zur Verfügung stellen, wie diese bei ihr abrufen. Durch diese Maßnahmen sollen die Kredithäuser gedrängt werden, ihre Gelder lieber in Form von Darlehen an Unternehmen zu vergeben. Der niedrige Zinssatz soll Investitionen und Konsum ankurbeln. Ein Sprecher kündigte zudem »weitere unkonventionelle Maßnahmen« an. Details dazu sollen später verkündet werden.
Die Reaktionen der Märkte auf diese wenig überraschende Entscheidung: Der Dax, der bundesdeutsche Aktienindex, kletterte erstmals über die Marke von 10.000 Punkten. Der Euro-Kurs fiel leicht unter 1,36 Dollar. An den Anleihemärkten verzeichneten Schuldtitel nahezu aller Euroländer leichte Kursgewinne und sinkende Renditen.
Entgegen der Boulevard-Rhetorik von der Zins-Keule und der Fortsetzung der Enteignung der Sparer halten sich die absehbaren Effekt in Grenzen. Der Großteil der Ökonomen rechnet nicht mit einer spürbar steigende Kreditvergabe alleine durch diese Maßnahmen. Erstens wird die Kreditvergabe in Europa nicht durch den Mangel an Liquidität begrenzt, sondern durch zu geringe Nachfrage von potenziellen Kreditnehmern mit guter Bonität. Dahinter stehen letztlich beschränkte Erwartungen über eine Ausweitung der Absatzmärkte. Zweitens werden die Banken durch regulatorische Vorgaben dazu gezwungen, ihre in den vergangenen Jahren aufgeblähten Bilanzen zu verkürzen.
Beides zusammen lässt starke Zweifel daran aufkommen, ob die geldpolitischen Maßnahmen der EZB viel bewirken können. »Für sich betrachtet sind die Zinssenkungen und der negative Einlagenzins eher symbolische Maßnahmen: Sie werden weder die Kreditvergabe in den Krisenländern maßgeblich verbessern noch das Deflationsrisiko deutlich mindern«, kommentierte der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Marcel Fratzscher.
Insofern wird die Hoffnung der Euro-Länder mit schleppender Konjunktur auf eine Trendwende Illusion bleiben. Beispiel Frankreich: Der französische Präsident Francois Hollande hat die historische Zinssenkung in der Euro-Zone begrüßt. Der Schritt der Europäischen Zentralbank (EZB) werde das Wachstum ankurbeln.
Eine Ankurbelung des Wachstums ist jedoch mit deutlichen Fragezeichen versehen. Die Maßnahmen sind mit den Risiken verbunden, dass die expansive Notenbankpolitik weiterhin eine Förderung für Anlage auf den Wertpapierbörsen und im Immobilienbereich darstellt, also die Ausbildung von Vermögenspreisblasen begünstigt. Notwendig wäre angesichts der schleppenden Konjunktur in der Euro-Zone aber eine Ausweitung der Produktion.
In allen Euro-Ländern gibt es massive Unterfinanzierung und damit einen Investitionsrückstand in der öffentlichen Infrastruktur. Dieser gesamtwirtschaftliche Substanzverlust lässt sich mit einer rabiaten Fiskalpolitik nicht beheben. Gefordert wäre daher ein offensives europäisches Investitionsprogramm, zu dem die europäische Notenbank auch einen unkonventionellen Beitrag leisten könnte.
Weil die EU-Kommission und die meisten Regierungen in Euro-Land aber aus der Logik der Rückführung öffentlicher Schulden politisch nicht herauskommen, fällt die Steuerungsaufgabe weiterhin vor allem der EZB zu. Sie versucht, der niedrigen Inflation – und damit einer Spirale aus sinkenden Preisen, sinkenden Gehältern, geschmälertem Wachstum und steigender Arbeitslosigkeit – zu entkommen.
Um die Wirtschaft im Euroraum zu beleben, ist weniger die Geldpolitik als die Finanzpolitik gefordert. Die europäische Notenbank hat sich – trotz des Wissens um die Risiken (siehe auch den Beitrag Wer bekommt den schwarzen Peter? vom 1.6.2014) – zu einer Fortführung der expansiven Geldpolitik entschlossen. Allerdings wäre es noch riskanter und eine deutlich schlechtere Option gewesen, wenn die EZB nichts unternommen hätte.
Schlussfolgerung: Die minimale Zinssenkung ist die Ausschöpfung des kleinen Handlungsspielraumes, die Ausweitung der Investitionen den Unternehmensbereichen bleibt Wunschtraum, aber das Risiko einer Begünstigung der Finanzanlagen steigt. Richtig ist auch: Die Niedrigzinspolitik bewirkt konjunkturell wenig, verfestigt aber die Umverteilungspolitik, denn Niedrigzinsen schädigen Sparer und reißen Lücken in die Altersvorsorge künftiger Rentner. Gleichwohl: Angesichts der aktuell niedrigen Inflation und der Untätigkeit der Politik musste die EZB handeln.
Die Banker der EZB hatten bereits seit Wochen die Märkte und Finanzinvestoren auf eine weitere Lockerung der Geldpolitik vorbereitet. Mario Draghi verwahrte sich zwar gegen Einmischungen und betonte die Unabhängigkeit der Zentralbank. Der EZB-Präsident räumte aber ein, der stabile Eurokurs sei im Zusammenhang mit der niedrigen Inflation ein Grund zu ernsthafter Sorge.
Im Mai ging die Preissteigerungsrate im Euroraum auf 0,5% zurück, die Notenbank strebt eigentlich eine Inflationsrate von knapp 2% an, ist von diesem Ziel derzeit aber weit entfernt. Dazu kommt, dass in den südlichen Euro-Mitgliedsländern die Kreditversorgung der Unternehmen und vor allem der mittelständischen Bereiche seit Monaten rückläufig ist.
Manche Experten fürchten für den Euro-Raum sogar einen Preisverfall, der als gefährlich gilt, weil Verbraucher dann meist weniger konsumieren und Unternehmen ihre Investitionen auf die lange Bank schieben. Die Schlussfolgerung war: Die EZB im Juni müsse die expansive Geldpolitik ausweiten und damit auch einen sanften Druck gegen die Eurostärke auslösen.
Der wachsende Druck auf die EZB, ihre ohnehin lockere Geldpolitik weiter zu lockern, ist auch deshalb bemerkenswert, weil Deutschland zuletzt eher wegen seiner Exportstärke in der Kritik stand und sich der Forderung ausgesetzt sah, seinen Außenhandelsüberschuss zu verringern – ein anhaltend starker Euro könnte dazu beitragen. Wenn hingegen auch die EZB in den schleichenden Abwertungswettlauf mit eingreift, würde dies der bundesdeutschen Wirtschaft sicherlich zu weiterer Stärke verhelfen.
Zuletzt hatten die Industrieländer-Organisation OECD und der Internationale Währungsfonds (IWF) Europas Währungshüter zum Handeln gedrängt. Auch der US-Ökonom Paul Krugman hatte auf der kürzlich stattgefundenen Konferenz der EZB deutliche Kritik an der Politik in Europa ausgesprochen. Bei Zentralbankern gäbe es heftigen Widerstand gegen einen Regimewechsel selbst nach mehr als fünf Jahren bei der Null-Prozent-Untergrenze.
»Das zeigt, dass die Art von politischem Stillstand, die Japan seit knapp zwei Jahrzehnten zu schaffen macht, mehr oder weniger ein universelles Phänomen ist«, sagte Krugman. »Solange die Preise stabil bleiben, werden einige Verantwortliche argumentieren, dass die Geldpolitik ihren Job macht, dass jegliche noch verbleibenden Wirtschaftsprobleme durch Strukturreformen angegangen werden müssen«, so Krugman weiter.
»Und sagen wir es unverblümt, es gibt bereits sichtbare Tendenzen für ähnliche Einbußen an Entschlossenheit in Europa, beispielsweise Erklärungen von Notenbankern, dass eine niedrige Inflation nicht wirklich ein Problem ist, weil sie in erster Linie von den notwendigen Anpassungen bei Schuldnerländern getrieben wird.«
Nach den Europa-Wahlen kommentierte Krugman zudem völlig zu Recht: »Wenn ich hier in dem Raum sitze und mir anhöre, wie die EU-Vertreter auf die Wahlen zum Europaparlament reagieren, scheint es mir, dass sie stark die Wahrheit nicht sehen wollen. Die Möglichkeit, dass die Dinge so schlecht liegen – und Radikale gestärkt wurden –, weil die Politik fundamental falsch ausgerichtet ist, scheint nicht in Betracht gezogen werden.«
In der Tat: Es gibt extrem hohe Erwartungen an die EZB. Nach den Wahlsiegen von Rechtspopulisten in Europa, die die Unzufriedenheit mit den etablierten Parteien spiegeln, verstärkt sich die Forderung mit Blick auf die Konjunktur »Gas zu geben«. Auch die Amerikaner üben vor dem Hintergrund ihrer schleppenden Ökonomie massiv Druck auf die EZB aus. Viele Zahlen (Handelsbilanz; in Europa fallende, in den USA deutlich steigende Produzentenpreise bzw. Inflationsaussichten sowie noch immer 45 Mrd. $ neu gedrucktes US-Geld pro Monat) sprechen mittelfristig eher für den Euro.
International dürften sich die Aufwärtstrends – wenn auch nur weiterhin im Scheckentempo – langsam fortsetzen. Realistischer wäre es wohl, von anhaltender Stagnation zu sprechen. Die wichtigen Notenbanken werden alles daransetzen, die Zinsen tief zu halten. Positiv ist, wie gut die Weltbörsen bisher die geopolitischen Erschütterungen (Ukraine, Asien) überstanden haben: Die Anleger wollen aussichtsreiche Aktien (am besten mit guter Dividende) und keine fast zinslosen Staatsanleihen oder die Sicherheitsanlage Gold.
Entscheidend wird für die nächste Zeit sein, ob eine kohärente Geldpolitik zwischen der US-Notenbank Federal Reserve (FED), der Bank of Japan, der Bank of England und der EZB festgeschrieben werden kann. Um das Ziel einer besseren Koordination der Geldpolitik zu erreichen, ist für die IWF-Direktorin Christine Lagarde vor allem eine bessere und aktivere Kommunikation der wichtigen Zentralbanken in den Industrienationen nötig, insbesondere zwischen der EZB und der FED.
»Die Industrieländer können helfen, dass es zu geringeren Schwankungen an den Finanzmärkten kommt, in dem sie den Kurs ihrer Geldpolitik klarer kommunizieren.« Die IWF-Chefin drängt deshalb auf eine intensivere Zusammenarbeit der Zentralbanken der großen Industrie- und Schwellenländer in einer immer enger verflochtenen Welt: »Wenn die Geldpolitik nur mit einer nationalen Brille praktiziert wird, könnten wir am Ende eine Welt bekommen, die von ad hoc-Aktionen gekennzeichnet ist und in der genau das Gegenteil von Finanzstabilität in andere Länder exportiert wird.« sagte Lagarde.Und die frühere französische Finanzministerin fügt hinzu: »Dies wäre dann eine Welt mit potenziell großen Wohlstandsverlusten, in der es nicht nur Ansteckungseffekte von Industrie- auf Schwellenländer gibt, sondern auch Rückkopplungen von aufstrebenden Volkswirtschaften auf die Industrienationen. … Ist das eine Welt, in der wir leben wollen? Ich hoffe nicht.«
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