Das Scheitern eines flächendeckenden Mindestlohns ist ein Desaster für das Niedriglohnland Deutschland
Von Gaby Gottwald, Koordinatorin des Arbeitskreises Wirtschaft, Arbeit und Finanzen der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag
Am Wochenende hat die Koalition weitere Ausnahmen beim Mindestlohn vereinbart, die einer flächendeckenden gesetzlichen Untergrenze in der Entlohnung nun endgültig die Zähne ziehen. Der Gesetzentwurf enthält die Auflage, dass grundsätzlich eine Unterschreitung des Mindestlohns nur möglich ist, wenn ein Tarifvertrag vorliegt. Zudem sollen weiterhin folgende Ausnahmen und Sonderregelungen gelten: Keinen Mindestlohn erhalten Jugendliche unter 18 Jahren, Langzeiterwerbslose während der ersten 6 Monate der neuen Beschäftigung und Praktikanten für die ersten drei Monate. Zeitungszusteller sollen bis 2017 generell vom Gesetz ausgenommen werden und 2015 bis zu 25 Prozent unter dem Mindestlohn vergütet werden und 2016 bis zu 15 Prozent - dies auch ohne Tarifvertrag. Die sozialabgabenfreie Saisonarbeit wird von 50 auf 70 Tage ausgedehnt. Zukünftig können Kost und Logis auf den Mindestlohn angerechnet werden.
Am 30. Juni fand die parlamentarische Anhörung des Gesetzentwurfes und des Antrags der LINKEN statt – sehr symbolträchtig im Fraktionssaal der CDU/CSU. Es lagen keinerlei schriftliche Ausführungen dazu vor, wie denn die zusätzlichen Sonderregelungen im Gesetz verankert werden sollten, die aus der Presse bekannt geworden sind.
Die Koalitionsfraktionen gaben auch ihr Bestes, das heiß umkämpfte Thema Mindestlohn vollends zu entpolitisieren, und blendeten alle unangenehmen Fragen zu den heiklen Sonderregelungen aus. Doch vor allem durch die Fragen der LINKEN wurden die Verwerfungen des neuen Gesetzes deutlich: Die Sonderregelung für Zeitungszusteller wurde von einem Sachverständigen als „Produkt eines außerordentlich intensiven Lobbyismus“ bezeichnet, für das „keinerlei sachlich valide Grundlage zu erkennen sei“. Im Gesetzentwurf der Bundesregierung ist eine Unterbietung des Mindestlohns nur möglich, wenn ein Tarifvertrag vorliegt. Die nun vereinbarte Regelung, für die bis dato keinerlei schriftliche Fassung in der Anhörung vorlag, nimmt einzig die Zeitungsverleger davon aus. Sie hatten einen Tarifvertrag verweigert und werden nun dafür belohnt. Diese „Lex Springer“ wurde von Sachverständigen rechtlich in Frage gestellt. DIE LINKE interpretiert das Geschenk an die Verleger als Beleg dafür, dass hier die Politik in eigener Sache agiert. Nach der Causa Wulff zeigt sich die Bundesregierung wohlfeil gegenüber den mächtigen Verlagshäusern. Sie pflegt mehr ihren Ruf als die Arbeitsbedingungen der Zeitungsausträger.
Die Sonderregelungen für Saisonarbeit (in der Agrarwirtschaft) verstoßen gegen das Nichtdiskriminierungsgebot, da sie osteuropäische Erntehelfer deutlich schlechter stellen. Da es keinerlei Sachgründe für eine Sonderbehandlung von Erntehelfern aus Osteuropa gibt, handelt es sich um die Diskriminierung einer Gruppe von bis zu 300 000 Menschen aufgrund der Staatsangehörigkeit. Dies widerspricht dem Europarecht.
Die Verlängerung der Nichtversicherungspflicht der Saisonarbeit von 50 auf 70 Tage bietet einen Anreiz zur Ausdehnung der Regelung auf alle Branchen, für die Saisonarbeit typisch ist - beispielsweise der Hotel- und Gaststättenbereich sowie die Tourismusbranche. Dies wurde von Sachverständigen als sozialpolitisch äußerst bedenklich eingestuft und betrifft potentiell bis zu 800 000 Beschäftigte. Das Vorhaben, zukünftig Kost und Logis mit dem Mindestlohn zu verrechnen, öffne Missbrauch Tür und Tor und entziehe sich jeder Kontrolle. Man möge sich nur kurz die zahlreichen Skandale über die Unterbringung von Saisonarbeitskräften vor Augen halten und dann selbst bewerten, ob es ein gutes Gefühl gibt, diese Arbeitgeber die Kosten für Kost und Logis gegen den Mindestlohn rechnen zu lassen.
Der Totalausschluss von Jugendlichen unter 18 Jahren, den es so nirgends in Europa gibt, wurde von Sachverständigen ebenfalls als Diskriminierung einer Gruppe angesehen. DIE LINKE hält die Regelung für verfassungswidrig, da die arbeitsmarktpolitische Begründung, der Mindestlohn solle Ausbildung nicht unattraktiv machen, vorgeschoben ist. Daten der Bundesregierung selbst belegen: Es gibt die Gruppe von Jugendlichen nicht, die davor geschützt werden müsste, einen Ausbildungsplatz zu verweigern. Es werden vor allem Schüler bestraft, die einen Minijob oder Ferienjob haben.
Als besonders problematisch wurde die Überprüfbarkeit der Einhaltung des Mindestlohnes gesehen. Betont wurde, dass die Kontrollen umso schwieriger würden, je mehr Ausnahmen es gäbe - und diese seien zahlreich. Ebenso fehle eine Definition des Mindestlohns, was ebenfalls eine Überprüfung erschwere. Gilt als Mindestlohn nur der Grundlohn oder können auch Zuschläge oder Sonderzahlungen mit eingerechnet werden? Fragen, die der Gesetzentwurf unbeantwortet lässt. Es wurde auch bezweifelt, dass die Höhe von 8,50 Euro existenzsichernd sei. Zumindest in Metropolen sei dies durch hohe Mietkosten nicht gewährleistet. DIE LINKE fordert daher einen Mindestlohn von 10 Euro.
Klaus Ernst fasst zusammen: "Mit dem Gesetz konterkariert die Koalition das Vorhaben, durch eine gesetzliche Untergrenze für Alle Lohndumping zu beenden. Über eine Fülle von willkürlichen Sonderregelungen schafft sie geradezu den Anreiz für weitere Unterbezahlung genau in den Bereichen, die mit der Auslöser für den Mindestlohn waren. Das Scheitern eines flächendeckenden Mindestlohns ist ein Desaster für das Niedriglohnland Deutschland. Die SPD hat sich zum Hampelmann der Koalition degradiert."