Neuregelung föderaler Finanzbeziehungen
Brief der Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) an die Mitglieder des Deutschen Bundestages
Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren,
die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft schaut mit großer Sorge auf die Neuregelung der föderalen Finanzbeziehungen. Die „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ ist eines der obersten Ziele der Politik und Grundvoraussetzung für die Chancengleichheit in unserem Land. Dieses Ziel sichert in besonderem Maße sozial bedürftige Menschen, die auf Schutz und Förderung angewiesen sind. Die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse zu erhalten und auch für die Zukunft zu gewährleisten, ist Aufgabe der anstehenden Neuregelung der föderalen Finanzbeziehungen.
Wir bedauern, dass die Diskussion um die Neuregelung nicht öffentlich geführt wird. In den vergangenen zwei Jahren gerieten verschiedene Ansatzpunkte zur Neuregelung in Umlauf, die meist nicht den Status von offiziellen Vorschlägen besaßen. Seit Dezember 2015 existiert ein gemeinsamer Vorschlag der Länder, dem wiederum eine Antwort mit dem Titel „Forderungen des Bundes“ gegenübersteht. Leider ist auch jetzt nicht klar, wer mit wem über einen möglichen Kompromiss zwischen diesen beiden Papieren verhandelt. Wir möchten Sie als Entscheidungsträger insbesondere auf die folgenden drei Themenbereiche ansprechen, die im Rahmen der vorliegenden Positionen zur Entscheidung anstehen: 1. Mehr Gesetzgebungskompetenz für die Länder, 2. Privatisierung der öffentlichen Infrastruktur und 3. Finanzielle Handlungsfähigkeit von Ländern und Kommunen.
1. Mehr Gesetzgebungskompetenz für die Länder
Ein Aspekt in beiden Papieren ist die Regionalisierung bzw. die Finanzverantwortung der Länder bei Sozialausgaben, die erhebliche Auswirkungen hätte. Im Ländervorschlag ist sie als Prüfauftrag formuliert, in den „Forderungen des Bundes“ sind „Abweichungsrechte für Art und Umfang der Leistungsgewährung“ für die Kinder- und Jugendhilfe sowie für die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen explizit vorgesehen.
Durch eine solche Entscheidung könnte künftig jedes Land für sich über Art und Umfang der Eingliederungshilfen und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe entscheiden. Dies würde zum einen die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Frage stellen. Zum anderen wäre eine einheitliche Rechtslage und -anwendung im Bundesgebiet gefährdet. Nach unserer Meinung würde eine solche Regelung der „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ eklatant entgegenwirken. Faktisch hätte dies Sozialpolitik nach Kassenlage zur Folge. Das kann doch wirklich niemand wollen!
Es steht zu befürchten, dass Leistungen, zu denen der Bund die Länder und Kommunen durch das SGB VIII verpflichtet hat, zumindest in einigen Ländern eingeschränkt oder abgeschafft werden könnten. Der Anspruch auf Förderung in Tageseinrichtungen und in Kindertagespflege nach § 24 SGB VIII müsste auf Landesebene nicht mehr umgesetzt werden. Demgegenüber hat jedoch jüngst das Bundesverfassungsgericht die Bedeutung des Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz für die Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit in Deutschland noch einmal deutlich unterstrichen.
Ebenso wären weitere Bemühungen des Bundes um die Etablierung von bundeseinheitlichen Qualitätsstandards für Kindertageseinrichtungen sowie eine dauerhafte Finanzierungsbeteiligung am qualitativen Ausbau der Kindertagesbetreuung nicht mehr erforderlich. Dies kann nicht im Interesse des Bundes sein. Der Ausbau der Kindertagesbetreuung hat in den vergangenen Jahren einen wesentlichen Beitrag zur Stärkung der frühen Bildung und der Erwerbstätigkeit von jungen Müttern geleistet. Dies haben auch die Sozialpartner stets gewürdigt und unterstützt.
Die Sozialpolitik darf nicht von der Kassenlage des jeweiligen Landes abhängig sein.
2. Privatisierung der öffentlichen Infrastruktur
Im Positionspapier des Bundes wird eine Verkehrsinfrastrukturgesellschaft des Bundes gefordert, mit der Möglichkeit einer Privatisierung der Infrastruktur, beziehungsweise der Beteiligung privater Geldgeber (Stichworte: Bundesfernstraßengesellschaft/ Bundesautobahngesellschaft).
Im Sinne der Daseinsvorsorge hat der Staat die Verantwortung für eine auskömmliche Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur. Erhalt, Neu- und Ausbau von Bundesfernstraßen sowie der Betrieb der Bundesverkehrswege sind Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge. Der Bund möchte nun die sogenannten Landesauftragsverwaltungen in eine Bundesinfrastrukturgesellschaft überführen, um mit privaten Geldgebern die erforderlichen Investitionen im Bundesfernstraßennetz zu tätigen und weil sich dadurch Effizienzgewinne ergeben könnten.
ver.di lehnt, wie die Verkehrsministerkonferenz und die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten auch, die Gründung einer Verkehrsinfrastrukturgesellschaft auf Bundesebene ab. Wir plädieren vielmehr für die Beibehaltung und Weiterentwicklung der Auftragsverwaltungen der Länder. Wir sehen keinerlei positive Effekte in den Vorschlägen des Bundes, zumal es jetzt um die erforderlichen Investitionen geht und ein aufwendiger organisatorischer Umbau der vorhandenen Strukturen mit der erforderlichen Änderung des Art. 90 Grundgesetz dies weiter verzögern würde. Die Auftragsverwaltungen der Länder und eine Infrastrukturgesellschaft des Bundes würden nebeneinander existieren und eine effiziente Verwendung der ansteigenden Investitionsmittel des BMVi verhindern: Es drohen Doppelstrukturen, Verlust von Synergieeffekten und Effizienzvorteilen, Vernachlässigung von lokalen und regionalen Belangen und Mitwirkungsmöglichkeiten der Länder, Zeitverluste und hohe Transaktionskosten. Wir sehen in einer Bundesgesellschaft die bislang übergreifende Verkehrsplanung der Länder gefährdet. Wir befürchten den weiteren Abbau von Arbeitsplätzen, und dies vor dem Hintergrund, dass heute schon durch den bereits vollzogenen Personalabbau Kapazitäts- und Know-how-Verlust zu verzeichnen ist.
Wir sprechen uns eindeutig gegen eine Privatisierung des Bundesfernstraßenmanagements, der öffentlichen Infrastruktur sowie gegen die Beteiligung privater Geldgeber an der öffentlichen Infrastruktur aus. In einer Niedrigzinsphase ist es unverantwortlich, statt Kredite zum Nulltarif aufzunehmen, privaten oder institutionellen Geldgebern höhere Renditezusagen machen zu wollen.
Mit der Beibehaltung und Weiterentwicklung der Landesauftragsverwaltungen innerhalb des bestehenden Systems wären Verbesserungen auch ohne Grundgesetzänderungen möglich. Durch eine Prozessoptimierung in den Auftragsverwaltungen können die von der Bundesregierung formulierten Reformziele für das Management der Bundesfernstraßen in vollem Umfang und sogar besser und schneller erreicht werden als durch eine Bundesgesellschaft. Die Vorschläge der sogenannten Bodewig-II-Kommission werden von uns – wie von der Verkehrsministerkonferenz – weitgehend getragen.
Die Verantwortung für die öffentliche Infrastruktur muss in öffentlicher Hand bleiben und die Mitwirkungsrechte der Parlamente müssen erhalten werden. Das betrifft nicht zuletzt das Königsrecht der Parlamente: Entscheidung über den öffentlichen Haushalt. Die Finanzierung muss primär aus Haushaltsmitteln und kann zusätzlich durch Nutzerentgelte erfolgen. Dabei muss sichergestellt sein, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht zusätzlich belastet werden.
3. Finanzielle Handlungsfähigkeit von Ländern und Kommunen
Bund und Länder haben „Anspruch auf Deckung ihrer notwendigen Ausgaben“, heißt es in Artikel 106 Absatz 3 des Grundgesetzes. Wenn die Gleichwertig keit und Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse gesichert, kein Land finanziell schlechter gestellt werden soll und die notwendigen Investitionen finanziert werden sollen, erfordert dies Finanzmittel. Hinzu kommt, dass Länder und ihre Kommunen momentan bei der Aufnahme und Integration geflüchteter Menschen dringend auf verlässliche Einnahmen und Planungssicherheit für die nächsten Jahre angewiesen sind. Der finanzielle Spielraum wäre ausreichend vorhanden: Sinnvoll wäre eine Entscheidung, die Ausgaben für Aufnahme und Integration der Geflüchteten von der Schuldenbremse auszunehmen. In Artikel 109 Absatz 3 ist eine Ausnahmeregelung für die Schuldenbremse „für Naturkatastrophen oder außergewöhnliche Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen“ formuliert. Genau dies trifft unseres Erachtens im Zusammenhang mit den Fluchtbewegungen zu.
Darüber hinaus sollte auch die Finanzierung gesellschaftlich notwendiger Investitionen im Zusammenhang mit der Schuldenbremse überdacht werden. Das Problem der zu niedrigen Investitionen etwa beim Wohnungsbau, im Bildungsbereich, im Öffentlichen Personennahverkehr oder im Gesundheits- und Pflegesektor ist eklatant. Das wird eindringlich von der Fratzscher-Kommission der Bundesregierung dargelegt.
Wir appellieren an Sie: Setzen Sie sich dafür ein, dass es zu einem zukunftsfähigen Finanzausgleich kommt, der Länder und Kommunen dauerhaft und zuverlässig in den Stand versetzt, ihre finanziellen Handlungsmöglichkeiten zu behalten. Das föderale System stellt hohe Anforderungen an Bund und Länder. Um sie erfüllen zu können, ist eine sinnvolle Neuaufteilung der Finanzierungsstrukturen Voraussetzung.
Stimmen Sie einem Kompromisspaket nur zu, wenn:
- die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse garantiert wird – auch im Sinne von Chancengleichheit – und in Zukunft Sozialpolitik nicht von der Kassenlage abhängt;
- Länder und ihre Kommunen dauerhaft in den Stand versetzt werden, ihre finanziellen Handlungsmöglichkeiten zu behalten; dazu gehört eine Lösung für die Frage der Altschulden, mindestens aber die Möglichkeit der Verlängerung bestehender Kredite der Länder gemeinsam mit dem Bund; dazu gehört auch eine Anschlussregelung für die Entflechtungsmittel (in Höhe von über 1,3 Mrd. Euro) nach dem Jahr 2019, die sicherstellt, dass die entsprechenden Mittel zweckgebunden für den Nahverkehr an die Kommunen weitergegeben werden;
- ein Kompromiss nicht mit Vorhaben wie der Forderung nach einer Verkehrsinfrastrukturgesellschaft in Bundesverwaltung verbunden wird, die ansonsten keine politische Mehrheit finden würde.
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