Die Politik der Vielen
Neue ISM-Broschüre u.a. mit einem Interview mit Axel Troost
Wir befinden uns zum Zeitpunkt dieser Veröffentlichung in einer Zeit des Umbruchs, der Krise, der radikalen Infragestellung einer nicht zum ersten Mal instabil erscheinenden globalisierten neoliberalen Weltordnung, der wir schon lange lokal, bundesweit, europäisch, weltweit emanzipatorische Ideen für eine solidarische Gesellschaft von morgen entgegenstellen. Die Bedrohung durch die Corona-Pandemie hat im Institut Solidarische Moderne Diskussionen angeregt, Unsicherheit und Ambivalenzen ausgelöst. Sie hat uns aber vor allem darin bestätigt, gerade jetzt die richtigen Fragen zu stellen, begonnene Kämpfe weiterzuführen, uns im linken Mosaik zu ermächtigen, progressive Antworten zu finden und unserer selbsternannten Aufgabe als linker Programmwerkstatt für einen sozial-ökologischen Wandel gerecht zu werden.
Wir müssen dabei nicht neu beginnen. Am 31. Januar 2020 ist das ISM zehn Jahre alt geworden. In unserem Gründungsaufruf schreiben wir: „Die Zeit ist reif für einen neuen Politikentwurf. Die existenziellen gesellschaftlichen Gefahren verlangen politisch realisierbare Antworten. Die Probleme unserer Welt sind offenkundig: von den ökologischen und wirtschaftlichen Grenzen des bisherigen ressourcenvernichtenden Wachstums bis zum gravierenden Gefälle zwischen individueller Reichtumsanhäufung und um sich greifender Armut, von der alltäglichen Missachtung der Menschenrechte bis zu vielen neuartigen Konflikten und Friedensgefährdungen.“
Positiv formuliert sind wir unserem Gründungsgedanken treugeblieben, negativ betrachtet haben sich viele Gründe für unseren Zusammenschluss leider nicht zum Positiven verändert und zeigen sich aktuell in ihrer bedrohlichsten Gestalt. Progressive, emanzipatorische Veränderung braucht in unserem Verständnis eine politische Kultur und einen gesellschaftlichen Dialog innerhalb dessen, was wir als linkes Mosaik bezeichnen. Wir bringen Menschen aus gesellschaftlichen Organisationen
und politischen Parteien, aus akademischer Wissenschaft und aus sozialen Bewegungen zusammen, sowohl innerhalb unserer eigenen Reihen als auch in den von uns organisierten Veranstaltungen und gesponnenen Netzwerken. Dabei geht es nicht darum, Unterschiede einzuebenen, sondern diese fruchtbar zu machen, neue Perspektiven einzunehmen und Übersetzungsarbeit zu leisten.
Vor diesem Hintergrund haben wir im Juni 2019 eine Konferenz mit dem Titel "Die Politik der Vielen" in Berlin organisiert, aus der die hier veröffentlichten Texte und Interviews hervorgegangen sind. Dabei haben wir die Frage gestellt, welche sozialen Bewegungen von „unten“ gerade stark und wirksam werden und warum eigentlich „oben“ nicht so viel davon ankommt, im Regierungshandeln keine Rolle spielt. Denn: Zahlreiche neue soziale Bewegungen und solidarische Praktiken haben in den letzten Jahren soziale, ökologische, ökonomische, kulturelle, feministische und migrantische Perspektiven verbunden, ohne dabei in nationalen Grenzen zu verharren. Ob in den Frauenstreiks, im Hambacher Forst, in den Solidarity Cities oder der solidarischen Landwirtschaft und Ökonomie – hier liegen Impulse und Potenziale für einen linken politischen Aufbruch. Ein gemeinsames, gegenhegemoniales politisches Projekt, das eine sozial-ökologische Transformation in Angriff nehmen könnte, steht jedoch nicht am Horizont. Weder den Bewegungen noch der politischen Linken gelingt die Übersetzung in eine gemeinsame Strategie und Programmatik. Die Machtfrage, die sich heute in Deutschland und Europa von links stellen müsste, bleibt so weiterhin ungelöst; die sozialen Kämpfe der Vielen bleiben fragmentiert und diffus; und es ist zu befürchten, dass die aktuelle Corona-Krise alle bisherigen Erfolge und Bewegungen zurückwerfen wird.
Anlässlich unseres diesjährigen Jubiläums hatten wir euch im April diesen Jahres zu einer Veranstaltung mit dem Titel Demokratisiert euch! eingeladen, bei der wir die grundlegende Frage nach demokratischer Erneuerung mit euch diskutieren und gleichzeitig auf die letzten zehn Jahre der politischen Kämpfe zurückblicken wollten. Diese Einladung, mit euch zu diskutieren, zu streiten und zu feiern, mussten wir leider absagen und können wir in absehbarer Zeit nicht nachkommen. Aber wir wollen und können uns keinen Stillstand leisten – wir organisieren uns vorerst im digitalen Raum und werden auch dort neue Einladungen an euch aussprechen.
Diese Broschüre ist ein Dankeschön an alle unsere Mitglieder und Mitstreiter*innen und eine Einladung an alle Interessierten und Kritiker*innen, die virulenten politischen Fragen anzugehen, die schon vor dem Virus da waren und die nach dem Virus noch mehr Menschenleben, Existenzen und Kämpfe angehen werden.
Alle Texte findet ihr in unserer neuen Broschüre zum lesen, diskutieren und streiten.
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