Deutschland wird zum Sozialfall
Kluft zwischen Arm und Reich vergrößert sich schneller als in anderen OECD-Ländern
Das Armutsrisiko in Deutschland ist nach einer OECD-Studie auf rund elf Prozent gestiegen. Die Einkommen sind so ungleich wie nie zuvor verteilt. Besonders seit 2000 hat sich der Studie zufolge die soziale Situation stärker als in jedem anderen OECD-Staat zugespitzt.
Die Bundesrepublik Deutschland hat ein gewaltiges Armutsproblem. Dieses wurde von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in der Studie »Mehr Ungleichheit trotz Wachstum? Einkommensverteilung und Armut in OECD-Ländern« nachgewiesen, die gestern in Paris vorgestellt wurde. Das Ergebnis: In der Bundesrepublik haben Armut und Einkommensunterschiede deutlich schneller zugenommen als in den meisten anderen OECD-Mitgliedsstaaten. Der Anstieg zwischen 2000 und 2005 übertraf in Deutschland jenen in den gesamten vorigen 15 Jahren und war im OECD-Vergleich einzigartig.
Der Anteil der Deutschen, die in relativer Armut leben – d. h. derjenigen, die mit weniger als der Hälfte des Durchschnittseinkommens auskommen müssen – liegt laut Studie knapp über dem Durchschnitt der OECD-Staaten. Anfang der 90er Jahre war die Armutsquote noch rund ein Viertel geringer als das OECD-Mittelmaß. Die Gesamtarmutsrate der Bundesrepublik stieg nach Zahlen der Organisation von 6 auf 11 Prozent, jene der Kinder von 7 auf 16 Prozent. Die Altersarmut dagegen blieb stabil. Sie betrug für 66- bis 74-Jährige 7 und für jene über 75 Jahren rund 11 Prozent.
Die Einkommensunterschiede haben beinahe OECD-Niveau erreicht. Besonders durch einen »überproportionalen Anstieg der höheren Einkommen seit der Jahrtausendwende« klaffte die Schere zwischen geringem und hohem Einkommen auseinander. Neben Deutschland nahm die Einkommensungleichheit besonders in Norwegen, Kanada und den USA zu.
Nach Auffassung von Michael Förster, eines der Hauptautoren der Studie, ist diese Entwicklung nicht auf die »Reformagenda« von Gerhard Schröder zurückzuführen. Die Hartz-Gesetze hätten nicht zu einer Verschärfung der sozialen Situation geführt, sondern »zu einem Rückgang des Armutsrisikos« beigetragen. Nicht allein die Politik sei zur Verantwortung zu ziehen, bekräftigte Markus Grabka, Ökonom vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung.
Die Arbeitslosigkeit ist für Förster die eigentliche Ursache für die soziale Zuspitzung. Daneben haben Veränderungen der Haushaltsstruktur, insbesondere die Zunahme von Single-Haushalten und Alleinerziehenden, zu Einkommensungleichheit und Armut geführt. Auch benennt die Studie als Ursache eine »zunehmende Spreizung der Markteinkommen«.
Die sozialpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, Katja Kipping, widerspricht der Ansicht Försters und bezeichnet die Entwicklung als »Ergebnis einer verfehlten Politik«. »Wer von oben nach unter umverteilt, erntet wachsende Armut. Wer prekäre Beschäftigung fördert, erntet drastische Einkommensungleichheit«, so Kipping gestern. Ihr Fraktionskollege Wolfgang Neskovic nennt die von der Studie konstatierte Situation eine »Verletzung des Sozialstaatsprinzips des Grundgesetzes«. Als »Resultat einer systematischen Umverteilung« beurteilt auch Bernd Niederland, Bundesgeschäftsführer des Sozialverbandes Volkssolidarität, die ansteigende Armut in der Bundesrepublik.
Da die vorgelegte Studie mit dem Erwerbsjahr 2004 endet, werden die jüngsten Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt nicht berücksichtigt. Nach Meinung von Grabka habe sich die Entwicklung 2006 weiter verschärft. Hingegen sei vergangenes Jahr durch den Wirtschaftsaufschwung eine »nachträgliche Verbesserung« eingetreten, die voraussichtlich auch im kommenden Jahr anhalten werde.
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