Oskar Lafontaine: Alternativen zum Neoliberalismus
Oskar Lafontaine in der "Elefantenrunde", der Debatte zum Einzelplan 04 des Haushalts 2009.
Herr
Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Auch nach der Diskussion der letzten Wochen bleiben wir dabei: Es handelt sich bei der Finanzmarktkrise nicht um eine technisch-ökonomische Krise. Es handelt sich um eine Krise unserer Wirtschafts- und Sozialordnung. Diese Bemerkung bezieht sich nicht allein auf die Volkswirtschaft der Bundesrepublik Deutschland, sondern auf die Weltwirtschaft.
(Beifall bei der LINKEN)
Wenn ich von einer Krise der Wirtschafts- und Sozialordnung spreche, dann geht es nicht nur um ökonomisch-technische Vorgänge. Es geht auch um die Wertorientierung der Gesellschaft. Daher ist es zu begrüßen, dass jetzt auch in anderen Parteien und Fraktionen eine Debatte darüber beginnt, ob die Wertorientierung der Gesellschaft in den letzten Jahren überhaupt gestimmt hat. Wenn beispielsweise wieder die Grundsätze des ehrbaren Kaufmannes beschworen werden, dann kann man wohl eines sagen: Auf den internationalen Finanzmärkten herrschten vielleicht viele Grundsätze, aber niemals die Grundsätze des ehrbaren Kaufmannes.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir hatten in den letzten Jahrzehnten die Ausbreitung einer gesellschaftlichen Philosophie, der Philosophie des Neoliberalismus. Der Neoliberalismus ist eine Einstellung, eine Art Alltagsreligion. Diese Alltagsreligion beruht auf bestimmten Denkfiguren und auf Denktraditionen, die heute noch lange nicht überwunden sind. Wenn öffentlich kommentiert wird, der Neoliberalismus sei gescheitert, dann stimme ich dem, bezogen auf die Ergebnisse, zu.
(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Können Sie mir einmal erklären, was das ist?)
Ich stimme aber niemals der Auffassung zu, seine Denktraditionen und seine Denkfiguren seien bereits gescheitert, denn Denktraditionen und Denkfiguren, die über Jahrzehnte geprägt wurden, können nicht von heute auf morgen überwunden werden. Deshalb ist die Kernfrage heute die, ob wir denn die Grundsätze und Leitsätze haben, die uns in die Lage versetzen, die jetzige Krise zu überwinden. Über diese Kernfrage muss heute debattiert werden.
(Beifall bei der LINKEN)
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben eben sehr richtig darauf hingewiesen,
dass man Grundsätze und Leitsätze haben muss, um eine solche Krise zu
überwinden. Wir sind aber der Überzeugung, dass Sie die falschen
Grundsätze und Leitsätze haben und dass Sie daher nicht in der Lage
sind, diese Krise zu überwinden. Das prognostiziere ich hier.
(Beifall bei der LINKEN)
Ich möchte dies an dem Ergebnis des Gipfels der G 20 beleuchten.
Natürlich war dort die Absicht, zu regulieren. Natürlich hat man näher
hingeschaut: Was wird denn jetzt das Ergebnis dieses Gipfels sein?
Natürlich hat man nicht erwartet, dass dort bereits ein Ergebnis wie
nach dem Gipfel von Bretton Woods vorliegen würde. Aber es gab zwei
Feststellungen, die sehr bedenklich sind und die ich hier werten
möchte. Die eine Feststellung im Hinblick auf die Ordnung der
Finanzmärkte ist: Wir müssen weiterhin marktwirtschaftliche Grundsätze
berücksichtigen. Die andere Feststellung ist: Wir werden weiter am
freien Kapitalverkehr festhalten.
Dazu möchte ich Ihnen Folgendes sagen: Wenn Sie weiterhin dem Irrtum
unterliegen, dass Finanzmärkte genauso wie Gütermärkte zu behandeln
seien, dann wird die Krise nicht überwunden werden können. Wenn Sie am
freien Kapitalverkehr festhalten, dann legen Sie schon jetzt die
Grundlage dafür, dass es in einiger Zeit die nächste Finanzmarktkrise
mit allen Folgen geben wird. Mit diesem Problem sind wir heute
konfrontiert.
(Beifall bei der LINKEN)
Grundlage dieser Fehlentscheidungen ist aber der Neoliberalismus. Der Neoliberalismus hat zu der heutigen Krise geführt.
(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Jetzt sagen Sie einmal, was das ist!)
Der Neoliberalismus beruhte auf drei Prinzipien: Erstens forderte er die Deregulierung. Heute reden alle von Regulierung. Zweitens forderte er die Privatisierung. Wir fordern wieder öffentliche Verantwortung für die Bereiche der Daseinsvorsorge. Statt Privatisierung fordern wir eine Wirtschaftsdemokratie mit Mitbestimmung und Belegschaftsbeteiligung. Das ist ein anderes gesellschaftliches Konzept.
(Beifall bei der LINKEN)
Drittens und vor allen Dingen forderte der Neoliberalismus die Flexibilisierung. Wir fordern stattdessen Arbeitsplätze - jetzt kommt das Entscheidende; davon war heute aber noch gar nicht die Rede -, auf deren Grundlage man das eigene Leben planen kann, eine Familie gründen und auch ernähren kann. Das ist die Herausforderung, über die wir heute sprechen müssen.
(Beifall bei der LINKEN)
Nun komme ich zum ersten Punkt, zur Deregulierung. Was hat man in den letzten Jahren alles dereguliert! Zunächst wurden die Wechselkurse freigegeben. Dazu höre ich von dieser Regierung seit Wochen überhaupt nichts. Man hat den Eindruck, als habe sie gar nicht begriffen, dass wir derzeit weltweit Währungskrisen haben, die auch auf die deutsche Volkswirtschaft zurückschlagen. Wenn es nicht gelingt, diese Währungskrisen einzudämmen, dann werden wir in Zukunft immer wieder solche Währungskrisen erleben. Ich verstehe einfach nicht, dass die Bundesregierung keine Vorschläge vorlegt, um diese Krisen zumindest einzudämmen, wenn nicht gar zu bewältigen.
(Beifall bei der LINKEN)
Zweitens: Der Kapitalverkehr wurde freigegeben. Da man daran festhalten
will, stellt sich die Frage: Wie will man bei freiem Kapitalverkehr
verhindern, dass zum Beispiel die Krise einer amerikanischen Großbank
auf die ganze Welt übergreift? Ich war gestern bei einer Veranstaltung,
auf der die These geäußert wurde, dass man Lehman Brothers pleitegehen
ließ, weil man wusste, dass diese Großbank am intensivsten mit den
Volkswirtschaften anderer Länder verflochten ist.
Ist denn niemand auf die Idee gekommen, dass man auch Brandschneisen
braucht, wenn man einen Flächenbrand verhindern will? Wie sollen diese
Brandschneisen im internationalen Finanzsystem aussehen? Reicht es aus,
ständig nur alte Forderungen, beispielsweise nach mehr Transparenz und
besserer Kontrolle, wiederzukäuen, ohne konkret zu werden?
(Beifall bei der LINKEN)
Die dritte Deregulierung, die durchgeführt wurde - sie ist nach wie vor vorhanden -, betrifft die Steueroasen. Sie können auf nationalstaatlicher Ebene so viel regeln und festlegen, wie Sie wollen. Wenn Sie die Steueroasen weiterhin nicht stilllegen, dann wird es in Zukunft so weitergehen wie in den vergangenen Jahren. Dann werden Sie nichts erreichen. Ich wundere mich, dass davon überhaupt nicht die Rede ist.
(Beifall bei der LINKEN)
- Es ist ziemlich unhöflich, dass auf der Regierungsbank gequatscht wird, wenn man hier versucht, ein anderes Konzept vorzustellen; das will ich in aller Klarheit sagen.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Steffen Kampeter (CDU/CSU): Und das aus Ihrem Mund!)
Wir haben im Parlament gewisse Spielregeln.
(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Allerdings! Das müssen wir uns von Ihnen nicht erklären lassen!)
Es wäre wünschenswert, dass auch Sie etwas zu Wechselkursen, freiem Kapitalverkehr oder Steueroasen sagen würden.
Man hat Ratingagenturen zugelassen, und man hat zugelassen, dass diese
Ratingagenturen von denen finanziert werden, die die Nutznießer der
Testate sind. Welche Konsequenz hat man aus der Feststellung, dass dies
schiefgegangen ist, gezogen? Ende der 80er-Jahre wurden bei uns die
Prüfmechanismen abgeschafft, die die Kundinnen und Kunden der Banken
davor geschützt haben, dass ihnen ein Vertreter falsche Papiere andreht.
(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Ich glaube, es war wirklich gut, dass Sie damals zurückgetreten sind!)
Welche Konsequenz ziehen wir heute daraus? Vor einiger Zeit hat die Vorgängerregierung ein Gesetz vorgelegt, durch das diejenigen geschützt werden sollten, denen falsche Papiere angeboten wurden. Dieses Gesetz ist aber auf Druck der Finanzindustrie zurückgezogen worden. Angesichts der schlechten Erfahrungen, die insbesondere alte Leute, denen man Lehman-Brothers-Papiere und Ähnliches angedreht hat, gemacht haben, wäre es an der Zeit, dieses Gesetz jetzt erneut vorzulegen.
(Beifall bei der LINKEN)
In diesem Zusammenhang geht es um zwei Punkte: Erstens. Solche Papiere müssen wieder testiert werden, und zwar von staatlicher Seite, nicht von Agenturen, die von den Banken bezahlt werden. Zweitens. Was die Verjährungsfrist betrifft, kann man gerade bei Produkten, die zur Altersvorsorge erworben werden, nicht von einem Jahr ausgehen, sondern man muss eine Verjährungsfrist von mindestens drei, wenn nicht sogar von zehn Jahren einführen, um die Kundinnen und Kunden zu schützen.
(Beifall bei der LINKEN)
In Deutschland wurde auf nationaler Ebene eine ganze Reihe von
Deregulierungsmaßnahmen durchgeführt. Dazu hört man von Ihnen kein
einziges Wort. Ihre ganzen Bekenntnisse zur Regulierung sind völlig
unglaubwürdig. Wir haben Sie gefragt: Was haben Sie für mehr
Deregulierung unternommen? Daraufhin haben Sie eine ganze Reihe von
Maßnahmen vorgetragen aus Zeitgründen nenne ich nur einige : die
Zulassung der Hedgefonds, die Zulassung der Verbriefungen und die
Zulassung der Zweckgesellschaften.
Würden Sie eine Lehre aus den jüngsten Entwicklungen ziehen dass Sie dies nicht tun, ist bedauerlich -,
(Beifall bei der LINKEN)
dann würden Sie jetzt ankündigen, dass Sie diese Deregulierungsmaßnahmen zurücknehmen. Sonst sind all Ihre Bekenntnisse zur Regulierung völlig unglaubwürdig. Es wäre das Einfachste von der Welt, diese Gesetze jetzt einzukassieren, nachdem wir festgestellt haben, dass diese Mechanismen nicht funktionieren.
Der nächste Punkt ist die Privatisierung. Ich habe die öffentliche Verantwortung für die Bereiche der Daseinsfürsorge und eine Wirtschaftsdemokratie mit Mitbestimmung und Belegschaftsbeteiligung dagegengestellt. Das ist ein ganz anderer gesellschaftspolitischer Ansatz.
Sie haben die öffentlichen Einrichtungen in großem Umfang privatisiert, und die Bundeskanzlerin hat hier gesagt - deswegen sage ich, dass Sie weiterhin auf der Basis der Grundsätze des Neoliberalismus operieren -, dass Sie zum Beispiel bei der Bahn die Privatisierung fortsetzen wollen. Das heißt, Sie nehmen die Konsequenzen überhaupt nicht wahr; denn Privatisierung bedeutet eine massive Verschlechterung der Arbeitsbedingungen für die Menschen, die in den privatisierten Unternehmen beschäftigt sind.
(Beifall bei der LINKEN)
Wenn man diese Konsequenzen nicht wahrnimmt, dann kann man natürlich weiterhin an diesen Vorstellungen festhalten.
Das Fatalste war - das möchte ich hier einmal ansprechen - die
Privatisierung der Sozialversicherungssysteme. Ich habe bei der letzten
Debatte gehört - ich will das gar nicht an bestimmten Namen abarbeiten
-, dass die Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme nichts mit
der Finanzmarktkrise zu tun habe. Wer übersieht, dass die Ansammlung
von Geld in privaten Fonds weltweit eine der Ursachen der
Finanzmarktkrise ist, der hat überhaupt nichts verstanden.
(Beifall bei der LINKEN)
Diese Privatisierung der Sozialversicherung ist unverzüglich zurückzunehmen - das ist die Forderung unserer Fraktion -, weil sie nicht nur in Chile, Argentinien oder den Vereinigten Staaten zu nachteiligen Entwicklungen führt, wo plötzlich viele ältere Leute mit leeren Händen dastehen -, sondern auch bei uns, weil die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über Gebühr belastet werden, und weil ihnen letztendlich keine sichere Basis für das Leben im Alter gegeben wird. Deshalb ist die Privatisierung der Sozialversicherungssysteme zurückzunehmen.
(Beifall bei der LINKEN)
Sie haben die Steuerfreiheit der Veräußerungsgewinne beschlossen. Das war nicht die jetzige Mehrheit, sondern das war eine andere Mehrheit. Mittlerweile hat man dankenswerterweise erkannt - das taucht in einigen Papieren auf -, dass das ein Fehler war. Wenn man das erkannt hat, dann sollte man aber auch die entsprechenden Konsequenzen daraus ziehen.
(Joachim Poß (SPD): Nein! Weil man die Verluste nicht gegenrechnen wollte!)
In einer Welt, in der Private-Equity-Gesellschaften Unternehmen kaufen und wieder verkaufen und in der Hedgefonds Unternehmen kaufen, ausschlachten und wieder weiter verkaufen, können wir die Gewinne aus diesen Verkäufen nicht auch noch steuerfrei stellen. Damit reizen wir diesen Menschenhandel doch gerade erst an. Deshalb ist die Steuerfreiheit zurückzunehmen.
(Beifall bei der LINKEN)
Sie haben die Vermögensteuer abgeschafft. Das hat natürlich Konsequenzen für die Verteilung von Einkommen und Vermögen in unserer Gesamtgesellschaft.
(Joachim Poß (SPD): Das war 1995!)
- Ja.
(Joachim Poß (SPD): Red doch nicht so einen Stuss hier! - Steffen Kampeter (CDU/CSU): Wo der Poß recht hat, hat er recht!)
- Ich stelle hier fest: Der Kollege Poß ist unschuldig an der Abschaffung der Vermögensteuer. Er wollte das nicht. Das war eine andere Mehrheit. Wenn ich das Wort „Sie“ gebrauche, dann kann ich Sie, Herr Kollege Poß, nicht immer ausklammern. Ausnahmsweise möchte ich das hier aber einmal feststellen.
(Beifall bei der LINKEN - Steffen Kampeter (CDU/CSU): Wenn er von Stuss redet, dann hat der Poß recht!)
Das ändert aber nichts an dem Sachverhalt, dass dieser Wegfall der Vermögensteuer natürlich zu einer ungleichen Verteilung von Einkommen und Vermögen in Deutschland geführt hat.
Herr Kollege Poß, jetzt möchte ich Ihnen dann doch eine Antwort geben.
(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Das ist hier eine Plenardebatte und keine sozialdemokratische Selbsthilfegruppe!)
Wenn Sie angesichts dieser Entwicklung die Erbschaftsteuer so regeln, wie sie jetzt geregelt wird, mit dem Ergebnis, dass Milliardäre entlastet werden, dann haben Sie überhaupt nichts von dem Aufbau und der Liquidität der internationalen Finanzmärkte verstanden.
(Beifall bei der LINKEN – Joachim Poß (SPD): Ach!)
Unter den Bereich Privatisierung fällt auch die Absicht, die Staatsquote sinken zu lassen. Die Bundeskanzlerin war sehr stolz darauf, dass die Staatsquote sehr niedrig ist. Man kann ja dieser Auffassung sein, aber dann muss man auch wissen, was es heißt, wenn die Staatsquote niedrig ist. Frau Bundeskanzlerin, solange Sie der Meinung sind, eine niedrige Staatsquote sei erstrebenswert, können Sie sich Ihre Bildungsgipfelchen wirklich sparen; denn eine niedrige Staatsquote bedeutet nun einmal weniger Geld für Bildung im Vergleich zu anderen Ländern, die eine höhere Staatsquote haben. Die Grundrechenarten sollte man in der Regierung doch zumindest noch kennen.
(Beifall bei der LINKEN – Steffen Kampeter (CDU/CSU): Das ist dummes Zeug! - Volker Kauder (CDU/CSU): Ein solcher Stuss!)
Eine niedrige Staatsquote bedeutet natürlich auch weniger Leistungen für diejenigen, die soziale Leistungen beziehen. Das ist nun einmal die Folge einer niedrigen Staatsquote. Deshalb sage ich: Orientieren Sie sich doch einmal an den Ländern, die in den Bereichen Bildung und soziale Sicherung erfolgreich arbeiten. Wenn Sie einfach nur die internationalen Statistiken zur Kenntnis nehmen, dann werden Sie feststellen, dass diese Länder anders an dieses Problem herangehen. Die Entstaatlichung Deutschlands in den letzten Jahren war ein schwerer Fehler und hat bei vielen Leuten zu Armut geführt. Nehmen Sie das doch endlich einmal zur Kenntnis.
(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Stuss, Stuss, Stuss! - Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): Ein seltener Blödsinn!)
Diese Entwicklung hin zur Privatisierung - insbesondere verbunden mit der Senkung der Unternehmensteuer, die die Kanzlerin vorhin auch wieder ganz stolz angeführt hat - hat dazu geführt, dass in Deutschland teilweise nur 25 Prozent der Gewinne reinvestiert worden sind. Die Frage ist doch: Was ist mit den übrigen 75 Prozent geschehen? Ist Ihnen denn nicht zu vermitteln, dass dies eine der Ursachen dafür ist, dass wir beispielsweise jetzt Unternehmen haben, deren Gewinn größer ist als der Umsatz? Ist denn nicht klar, dass die Gelder nicht mehr in die Investitionen gehen, sondern in die internationale Spekulation? Sie bauen doch das alles mit auf, ziehen aber nicht die geringste Konsequenz daraus.
(Beifall bei der LINKEN)
Das ist die Fehlentwicklung, die wir in den nächsten Jahren bitter zu spüren bekommen werden; das prognostiziere ich an dieser Stelle.
Deshalb sagen wir, dieser Privatisierung, die die Grundlage dafür ist, dass sich die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen dramatisch entwickelt hat, ist ein anderer Ansatz vorzuziehen: Wir wollen wieder eine stärkere Beteiligung der öffentlichen Hand. Wir wollen insbesondere eine Wirtschaftsdemokratie, die die Beschäftigten in weitaus stärkerer Form als derzeit an den Entscheidungen und an den Erträgen der Unternehmen beteiligt.
(Beifall bei der LINKEN)
Nun komme ich zu dem größten Flurschaden, den der Neoliberalismus angerichtet hat - ich meine nicht den Ordoliberalismus, Herr Kollege Brüderle;
(Otto Fricke (FDP): Sie meinen Ihre Partei!)
wenn genügend Zeit da wäre, könnte ich mich dazu äußern -: Das ist die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte. Dies ist eines der törichtsten und verhängnisvollsten Wörter, die das Denken und Handeln vieler bestimmt haben und die zu enormen Schäden für viele Menschen in Deutschland geführt haben. Nun nenne ich diese Schäden.
Erstens. Wer von der Flexibilisierung der Arbeitsmärkte spricht, der
durchlöchert gerne und zuerst einmal die Tarifverträge mit all den
Folgen für das Lohndumping, das wir in Deutschland beklagen.
(Beifall bei der LINKEN)
Zumindest müsste doch festgestellt werden, dass wir alle Anstrengungen unternehmen müssen, um wieder einen geregelten Arbeitsmarkt zu haben, was die Höhe der Bezahlung angeht.
Zweitens. Sie waren stolz auf Mini- und Midijobs, die eingerichtet worden sind. Das hatte ja vielleicht einmal einen Sinn, als einige Studenten und Pensionäre beschäftigt worden sind, um Zeitungen auszutragen oder auszuhelfen. Da mag das einen Sinn gehabt haben. Dass aber einzelne Unternehmen aus Gründen der Lohnkostensenkung jetzt flächendeckend Mini- und Midijobs in Millionenzahl ausgebaut haben, ist die Ursache dafür, dass es heute Menschen gibt, die ihr Leben nicht mehr planen können und die, wenn man so will, schlicht und einfach aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt werden. Genau das wollen wir nicht.
(Beifall bei der LINKEN)
Dies sind falsche Grund- und Leitsätze, mit denen Sie die Krise niemals bewältigen können.
Der dritte Punkt ist die Leiharbeit. Meine sehr geehrten Damen und Herren, in der Charta der Menschenrechte steht, ein Grundsatz weltweit sei: gleicher Lohn für gleiche Arbeit. In dem Moment, in dem Sie die Leiharbeit ausufern ließen und zuließen, dass es so gehandhabt wurde, wie es jetzt geschieht, verstießen Sie sogar gegen die Charta der Menschenrechte. Sie reden von Werten. Ja, wo ist denn Ihre Wertorientierung an dieser Stelle? Da wäre ich doch konkret, dann würde man sie nachvollziehen können. Wer nichts gegen die Leiharbeit tut und zusieht, wie Hunderttausende Leiharbeiter jetzt in der Gefahr sind, ihren Job zu verlieren, wobei viele Tausende ihn schon verloren haben, der hat überhaupt keine Konsequenzen aus der Finanzmarktkrise gezogen.
(Beifall bei der LINKEN)
Das ist das Ärgerliche an dieser Stelle. Warum legen Sie nicht ein Gesetz vor, um diese Menschen in Zukunft zu schützen? Was soll denn das ganze Gerede von der Wertorientierung, wenn Menschen darunter leiden, dass sie einfach hinausgeworfen werden, weil sie keine Rechte haben, Sie aber nichts vorlegen, um das zu ändern, obwohl auch die große Mehrheit der Bevölkerung der Auffassung ist, dass hier etwas geändert werden muss?
Dann gibt es die befristeten Verträge. Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Leben der Menschen muss planbar sein. Der große Soziologe Richard Sennett sagte, wenn die Arbeitsverhältnisse so organisiert werden, wie Sie sie organisiert haben, dann führt dies zur Zerstörung des Charakters
(Dirk Niebel (FDP): Dann müssen Sie dauerhaft befristet beschäftigt gewesen sein!)
- stellen Sie sich doch einmal diesem Vorwurf -, weil das Leben nicht mehr planbar ist, jedes menschliche Leben sich aber in beschützten Bereichen vollziehen muss. Wer also die Ausweitung der befristeten Arbeitsverträge zu verantworten hat, weil er an das neoliberale Credo der Flexibilisierung geglaubt hat, der hat großen Flurschaden bei den Menschen angerichtet und ist mitverantwortlich dafür, dass in Deutschland keine Familien mehr gegründet werden.
(Beifall bei der LINKEN)
Welcher junge Mensch kann denn noch eine Familie gründen, wenn er Angst haben muss, dass er in einem halben Jahr hinausfliegt? Warum sehen Sie diese Zusammenhänge nicht? Warum sehen Sie nicht, wie das ineinandergreift?
Dann sind wir aufgrund dieser verheerenden Arbeitsmarktpolitik, die der falschen neoliberalen Philosophie geschuldet ist, mittlerweile das Land mit dem größten Niedriglohnsektor unter den Industriestaaten. Niedriglohnsektor heißt nun einmal: ein Jahreseinkommen von 15 000 Euro oder weniger oder ein Monatseinkommen von etwa 1 000 Euro. Es lässt sich zwar leicht sagen: „Das ist immerhin etwas“. Aber dann sollten Sie auch erklären, wie eine Familie mit zwei Kindern bei solchen Einkommensverhältnissen gut leben können soll. Das Entscheidende ist, dass wir das ohne Not getan haben; denn alle anderen Staaten weisen andere Zahlen auf. Es ist verwerflich, dass wir die einzigen waren, die den Niedriglohnsektor so fleißig ausgeweitet haben. Deshalb müssen Sie endlich etwas tun. Führen Sie endlich den gesetzlichen Mindestlohn ein, damit wir wenigstens von unten die Dinge in den Griff bekommen!
(Beifall bei der LINKEN)
Selbst wenn Sie diese Zusammenhänge nicht sehen, gilt: Wer bei
Leiharbeit, befristeten Arbeitsverträgen und beim gesetzlichen
Mindestlohn nichts tut, hat nichts von der internationalen
Finanzmarktkrise und ihren verheerenden Auswirkungen auf die
Volkswirtschaften - auch in Deutschland - verstanden.
(Beifall bei der LINKEN)
Dazu gehört auch die Zumutung durch Hartz IV. Die Zumutbarkeitsklausel hat erwartungsgemäß zum Rutschen der Löhne nach unten geführt. Das haben die Befürworter mittlerweile auch zugegeben. Sie haben zugegeben, dass sie genau das erreicht haben, was sie wollten. Die Löhne sind in Deutschland immer weiter gesunken. Das beschäftigt einen vielleicht nicht, wenn man nicht selbst betroffen ist. Aber es sind viele Menschen davon betroffen, und es werden immer mehr. Deshalb müssen wir diese verhängnisvolle Rutschbahn schließen.
Wir müssen aufhören, die Menschen zu zwingen, weit unter ihrer Qualifikation und zu jedem angebotenen Lohn zu arbeiten. Das ist geradezu eine Einladung, in Deutschland weiter Lohndumping zu betreiben und den Niedriglohnsektor immer weiter auszubauen.
(Beifall bei der LINKEN)
Ursache für die Verwerfungen auf den Finanzmärkten sind zwei Ungleichgewichte in der Weltwirtschaft und in den Volkswirtschaften, zu denen wir also die Mehrheiten, die diese Gesetze beschlossen haben wesentlich beigetragen haben. Das eine ist das außenwirtschaftliche Ungleichgewicht. Ich habe vorhin die Wechselkurse angesprochen. Wie soll man zu richtigen Schlussfolgerungen kommen, wenn man das nicht einmal sieht?
Wir sind aufgrund des außenwirtschaftlichen Ungleichgewichtes, zu dem wir mit beigetragen haben und das dazu geführt hat, dass wir wie Japan in großem Umfang Exportüberschüsse und Leistungsbilanzüberschüsse haben, als erste gehalten, Konjunkturprogramme aufzulegen, um die Weltwirtschaft zu stabilisieren.
(Beifall bei der LINKEN)
Warum sehen Sie diese Zusammenhänge nicht? Warum begreifen Sie das nicht? Wir sind als erste dazu verpflichtet, weil wir Waren produziert haben, die im Saldo eigentlich in anderen Ländern hätten produziert werden müssen. Das heißt, wir haben Leistungsbilanzüberschüsse erwirtschaftet. Welche Länder sind denn jetzt als erste gefordert, die Weltwirtschaft zu stabilisieren? Das sind doch nicht diejenigen, die große Defizite angehäuft haben, sondern diejenigen, die Überschüsse erzielt haben. Das heißt, Sie versagen an dieser Stelle auf der ganzen Linie, und das wird in Europa so gesehen: von Frankreich bis in die anderen europäischen Staaten.
(Beifall bei der LINKEN)
Das zweite Ungleichgewicht besteht bei der Verteilung von Einkommen und Vermögen. Die jüngsten Zahlen werden immer eindeutiger. Aufgrund der falschen Philosophie, die Sie vorhin wieder vorgetragen haben, werden sich die Einkommen und Vermögen immer weiter auseinanderentwickeln. Sie haben ja alles dafür getan: steuerlich und durch Ihre Arbeitsmarktgesetzgebung.
Marktwirtschaft und soziale Marktwirtschaft funktionieren aber nicht ohne ein gewisses Gleichgewicht zwischen Einkommen und Vermögen in einer Volkswirtschaft. Die Ursache für die derzeitige Krise ist auch darin zu suchen, dass dieses Gleichgewicht empfindlich gestört wurde. Während eine Minderheit immer höhere Einkommen und größere Vermögen angesammelt hat, hat die große Mehrheit mit stagnierenden Löhnen und stagnierenden Renten zu tun. Das ist eine der Ursachen für die ökonomische Schwäche, die Deutschland derzeit aufweist.
(Beifall bei der LINKEN)
Die Frage, wie man diese Krise bekämpfen kann, ist sehr einfach zu beantworten. Man muss dort ansetzen, wo man bisher Fehler gemacht hat. Es ist richtig, dass Sie die degressive Abschreibung jetzt wieder einführen. Die Linke hat über Jahre dafür gekämpft und entsprechende Anträge eingebracht, die immer wieder abgelehnt wurden. Wir erkennen aber an, dass Sie diesen Schritt jetzt gehen. Denn dahinter steht die Philosophie, nicht den spekulierenden, sondern den investierenden Unternehmer zu belohnen. Aber dazu bräuchte es eine andere Steuergesetzgebung.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Es ist auch richtig, dass das Kurzarbeitergeld verlängert wird. Denn das ist eine bessere Lösung als Leiharbeit, bei der die Leiharbeiter wieder entlassen werden, oder befristete Arbeitsverträge, bei denen die Menschen sehr schnell wieder auf der Straße stehen.
Das alles ist richtig. Aber dass Sie, Frau Bundeskanzlerin, jetzt den Banken vorwerfen, sie seien Kaltblüter im Winter, wirft die Frage auf, warum Sie selbst sich bei der Bekämpfung der Konjunkturkrise so kaltblütig im Winter verhalten und die Politik der ruhigen Hand praktizieren. Während China 8 Prozent und die Vereinigten Staaten 2 Prozent des Bruttosozialproduktes einsetzen, um die Konjunkturkrise zu bekämpfen, halten Sie mit 0,15 Prozent dagegen und sagen: Vielleicht werden wir irgendwann etwas anders machen. Das ist nichts anderes als ein klägliches Versagen. Sie haben die Dimension nicht erkannt.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir werden dies mit einem massiven Anstieg der Arbeitslosigkeit bezahlen müssen, für den Sie persönlich dann die Verantwortung tragen, und zwar aufgrund der zögerlichen Bekämpfung der konjunkturellen Krise.
Glauben Sie nicht, dass die anderen Volkswirtschaften aus Leichtfertigkeit mit großen Summen antreten, um den Einbruch zu bekämpfen! Erinnern Sie sich der Tatsache, dass wir als Erste verpflichtet sind, ein Konjunkturpaket zu schnüren, um den dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit zu stoppen! Ich sage Ihnen ich greife Ihren Satz auf : Es stimmt, dass man diese Krise nur auf der Grundlage richtiger Grundsätze und Leitsätze bekämpfen kann. Solange aber nach wie vor die Philosophie des Neoliberalismus mit Deregulierung, Flexibilisierung, Privatisierung und Senkung der Staatsquote Ihr Handeln bestimmt, solange werden Sie die Krise verschärfen und nicht bekämpfen.
(Anhaltender Beifall bei der LINKEN)
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