Barbara Höll: Debatten über Steuersenkungen in der Krise sind absurd
Rede in der Aktuellen Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Meinungsverschiedenheiten in der Bundesregierung zu Steuersenkungsvorhaben (6.5.2009)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wer jetzt, in der tiefgreifenden Wirtschafts- und Finanzkrise, über Steuersenkungen schwadroniert, hat weder den Ernst der Lage begriffen noch irgendetwas aus der Krise gelernt.
(Beifall bei der LINKEN)
Wenn Frau Merkel am Wochenende wieder einmal betont hat, die Lehre aus der Krise heiße: „Wir dürfen nicht über unsere Verhältnisse leben“, so sage ich Ihnen: Wir müssen endlich die Verhältnisse ändern, in denen wir leben.
(Beifall bei der LINKEN)
Millionen Menschen sind verunsichert, bangen um ihren Arbeitsplatz, sind als Leiharbeiterinnen oder Leiharbeiter bereits auf die Straße gesetzt und fragen sich: Woher kommt auf einmal das Geld? Wer soll das alles bezahlen? Was wird mit meinem Arbeitsplatz? Was wird mit meiner Altersvorsorge? Wann gibt es endlich einen Schutzschirm für die Menschen und nicht nur einen Schutzschirm für die Banken?
Zur Ehrlichkeit würde auch gehören – das wäre erforderlich, um überhaupt Antworten geben zu können; aber dem verweigern Sie sich hier –, den beispiellosen Einbruch der Wirtschaft einmal zu analysieren; denn er ist das Ergebnis Ihrer Politik, sowohl der früheren rot-grünen als auch der jetzigen rot-schwarzen Politik.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir haben seit Jahren eine absolute Orientierung der deutschen Wirtschaft auf den Export. Ich erinnere: Das ist politisch durch Sie gewollt und wird durch Sie auch befördert. Sie haben in Europa den massiven Steuersenkungswettbewerb mit vorangetrieben. Mehrmals haben Sie die Unternehmensteuern gesenkt. Sie haben die Steuern für die wirklich Vermögenden gesenkt und dadurch überhaupt erst die Spielräume eröffnet, um in diesen Größenordnungen spekulieren zu können.
Sie haben einen Wettbewerb um die niedrigsten Löhne angefacht. Im Vergleich mit den anderen europäischen Staaten sind wir das einzige Land, in dem in den letzten zehn Jahren die Löhne nicht gestiegen sind, sondern gesenkt wurden, politisch gewollt durch die Installation des Niedriglohnsektors, durch eine massive Ausweitung der Leiharbeit und durch die Installation von Mini- und Midijobs. Sie sind mitverantwortlich für die Lohnsenkungspolitik der letzten Jahre.
(Beifall bei der LINKEN)
Sie haben sehenden Auges die Aushöhlung der sozialen Sicherungssysteme in Kauf genommen und die Schwächung des Gemeinwesens massiv vorangetrieben. Wenn man durch unsere Städte geht, sieht man den wirklich desolaten Zustand unserer Schulen und Kindergärten; Kindergärten sucht man in den alten Bundesländern allerdings oft vergebens. Bildung fängt aber mit den Gebäuden an, und schon lange hätte etwas getan werden müssen, damit Schulen und Kindergärten nicht so aussehen, wie sie jetzt aussehen.
Die akute Krisensituation erfordert ein Umdenken. Wir müssen die Verhältnisse ändern. Dazu habe ich von Frau Scheel leider nichts gehört. Es kam nur Kritik; ansonsten war das hier ein Geplänkel im Vorwahlkampf, bei dem immer darauf geachtet wird, wer wem wehtun darf oder nicht. Wir sind da zum Glück frei und können die Dinge beim Namen nennen.
Wir brauchen endlich eine Stärkung der Binnennachfrage. Das erfordert natürlich entsprechende Maßnahmen. Wir brauchen eine Neuausrichtung der deutschen Wirtschaft, weg von der absoluten Exportabhängigkeit in Richtung ökologische und soziale Ausrichtung. Ein Schutzschirm für die Menschen ist notwendig. Die meisten Menschen wollen von ihrer Hände Arbeit leben können, und dafür brauchen sie Arbeitsplätze. Die Kluft zwischen Arm und Reich darf nicht weiter auseinandergehen, sondern muss endlich geschlossen werden. Dazu brauchen wir endlich eine Positionierung zum Mindestlohn. Wir brauchen die Abschaffung der Mini- und Midijobs. Wir brauchen die Überwindung von Hartz IV. Wir brauchen mindestens 500 000 bis 1 Million neue Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst, und wir brauchen zusätzlich einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor.
(Beifall bei der LINKEN)
Das alles sind Voraussetzungen, damit die Menschen überhaupt Arbeit haben und so bezahlt werden, dass sie in der Lage sind, Steuern zu zahlen.
Frau Merkel will die Verhältnisse nicht ändern. Heute knallen in den Chefetagen zum Teil schon wieder die Champagnerkorken. Wenn wir die Verhältnisse ändern wollen, müssen wir endlich die Augen öffnen. Sie müssen endlich die Augen öffnen und dürfen nicht schon wieder wie Frau Merkel andeuten, dass wir über unsere Verhältnisse leben. Wir müssen endlich die Einnahmeseite stärken und dafür sorgen, dass sich auch diejenigen beteiligen, die diese Krise mit verursacht haben, die daran im Vorfeld verdient haben und die zum Teil auch jetzt noch an der Krise verdienen.
Wir brauchen eine Reform der Erbschaftsbesteuerung. Wir brauchen eine Vermögensteuer. Wir müssen über eine Millionärsabgabe reden. Die Steuerdiskussion, die Sie jetzt führen, muss beendet werden, weil sie einfach pervers ist. Durch das, was Sie planen, werden immense Kosten verursacht und wird nicht ein einziger neuer Arbeitsplatz geschaffen.
Sozial gerecht heißt, einen Schutzschirm für die Menschen zu schaffen. Das schließt eine sozial gerechte Einkommensteuerreform ein. Die sieht aber anders aus als das, was Sie vorhaben. Dazu bedarf es eines anderen Spitzensteuersatzes, einer Erhöhung des Grundfreibetrages und einer linear-progressiven Besteuerung.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Frau Kollegin!
(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Jetzt wird’s selbst dem Präsidenten zu viel, Frau Höll! Sie müssen aufhören!)
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE):
Darüber können wir miteinander reden. Es darf nicht nur um Steuersenkungen für Reiche, Vermögende und Unternehmer gehen. Kein Problem wird dadurch gelöst. Ihre Politik wird nur weiter in den Abgrund führen.
Ich danke Ihnen.
(Beifall bei der LINKEN)
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